Hamburg. Faktisch geschlossen: Viele kleine Lokale dürften öffnen, aber es lohnt sich einfach nicht. Eine Gastronomin berichtet.

Suchen Sie derzeit einen Arbeitsplatz? Sind Sie selbstständig tätig? Wie hoch schätzen Sie die Umsätze in den kommenden sechs Monaten? Fragen, die für sich genommen erst mal einfach klingen. Und dennoch rauben sie Gastronomin Stefanie Sangare gerade den letzten Nerv.

Die 46-Jährige sitzt in der Bar 227 – ein Livemusik-Club neben der Sternbrücke –, in der zwar noch eine Diskokugel von der Decke baumelt, aber in der seit Monaten niemand mehr getanzt hat, und schwankt mit dem Stift zwischen den Kästchen „Ja“ und „Nein“ hin und her.

Die Fragen der Arbeitsvermittlung des Jobcenters haben es in sich. Denn was genau ist eine Gastronomin, die seit sechs Monaten keine Gäste hat, eine Chefin, die kein Team leitet, eine Veranstalterin, die keine Bands buchen kann? „Die Fragen auf diesen Bögen bilden die Situation von mir und vielen anderen in der Club-, Bar- und Veranstaltungs- und Schaustellerbranche einfach nicht ab. Sie sind so an der Realität vorbei, dass man gar nicht weiß, wo man da ansetzen soll.“

Die Bar sieht aus wie eine Kulisse

Doch leider hängt von derlei Fragebögen viel ab. Zum Beispiel, ob sie weiter finanzielle Unterstützung bekommt, oder ob sie sich weiterbilden kann. Und die Informationen, was für sie gilt und was nicht, sind zum Teil widersprüchlich. „Der eine Sachbearbeiter sagt, ich darf eine Weiterbildung machen, der andere behauptet das Gegenteil, der eine sagt, ich bekomme ohne viel Bürokratie weiter die Grundsicherung, der nächste fordert detaillierte Aufschlüsselungen und Einkommensnachweise.“

Sangare atmet schwer und blickt sich um. Die Bar sieht aus wie eine Kulisse, ein Stillleben aus Gegenständen, die sechs Monate nach Corona wirken, wie aus einer anderen Zeit: eine Bühne, Lichttechnik, eine Tanzfläche, auf der sonst rund 80 Leute gleichzeitig zu Rockmusik getanzt haben. „Wann ist der Moment, in dem man einsehen muss, dass man aufgeben muss?“, fragt sie. Für Sangare und viele andere ist es noch lange nicht so weit – obwohl die Zahlen längst eine eindeutige Sprache sprechen. Dennoch: „Ich habe mir mit dieser Bar die Selbstständigkeit und einen Lebensstandard erarbeitet, den ich nicht einfach so wieder hergebe. Und das geht vielen von uns gerade so.“

Uns – damit meint Sangare alle Selbstständigen in dieser Situation, die jetzt nicht wissen, wie ihre Zukunft außerhalb ihrer Betriebe aussieht. Techniker, Musiker, Booker, Logistiker, Bühnenbildner, Sicherheitskräfte, alle. Die Not der Branche ist groß. Nach einer Umfrage der Handelskammer hat ein Drittel der befragten Betriebe der Veranstaltungswirtschaft in diesem Jahr noch kein Geld verdient.

Perspektive auf Besserung fehlt

Auch für die Bar 227 waren die Folgen heftig. „Wir waren nie ein Laden, der durch normale Laufkundschaft funktioniert hat.“ Etabliert hat sich die Bar als Konzert- und Partylocation. „Hier wurde richtig Krach gemacht und wild gefeiert.“ Doch all das ist nicht mehr möglich. „Wenn wir eine Band auftreten lassen und den Abstand zum Publikum und der Gäste untereinander einhalten, dann können noch 20 Leute kommen. Und für private Partys bucht den Raum auch wegen des Tanzverbots schon lange keiner mehr. Wer will schon sitzend seinen Geburtstag feiern?“, so Sangare. Es lohnt sich einfach nicht.

Mit dieser Situation steht Stefanie Sangare nicht alleine da. Das bestätigt auch Ulrike von Albedyll, Geschäftsführerin des Dehoga-Landesverbands: „Lokale wie die von Frau Sangare bezeichnen wir als faktisch geschlossen. Das heißt, sie dürften öffnen, aber es lohnt sich nicht, wenn nur wenig Leute kommen dürfen. Zum einen, weil die Räumlichkeiten klein sind, und zum anderen, weil sie von einer Atmosphäre der Enge gelebt haben. Jetzt nicht öffnen zu können ist eine enorme Belastung, und die Perspektive auf Besserung fehlt.“

Seltsame Schwebesituation

Hilfe bekam Stefanie Sangare am Anfang wie viele Selbstständige vom Bund und der Stadt. „Dafür war ich sehr dankbar“, sagt. „Aber über eine so lange Strecke kann das natürlich nicht helfen.“ Der Gang zum Arbeitsamt blieb unausweichlich – vor allem, weil die Hilfe nicht für die private Versorgung genutzt werden darf. Eine ernüchternde Erfahrung: „Da war man eben noch eine erfolgreiche Gastronomin, hat sich ein Leben und einen Lebensstandard aufgebaut hat und plötzlich ist man in einem Topf mit Langzeitarbeitslosen, die sich abmelden sollen, wenn sie Hamburg verlassen.“

Es ist eine seltsame Schwebesituation, in der sich Sangare gerade befindet. Während es nebenan auf dem Schulterblatt zu folgenschweren Partys gekommen ist, blieb es bei ihr still. In die Bar, die früher wie ihr zweites Wohnzimmer war, kommt sie zwar immer noch regelmäßig, allerdings nur, um abgelaufene Getränke zu entsorgen, sauber zu machen oder Verwaltungsarbeit zu erledigen.

Von Berg an Gastronomen: Lasst den Gassenverkauf!

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Sangare sagt, viele würden hoffen, dass es 2021 wieder normal weitergeht. Sie selbst sieht das anders. „Ich bin bestimmt keine Pessimistin, aber ich bin Realistin. Und dass ich hier absehbar wieder zum Alltag zurückkehren kann, glaube ich nicht.“ Was sie fordert? „Ich fordere, dass man uns echte Perspektiven aufzeigt. Wenn wir gezwungen werden, zu schließen, dann muss man uns ermöglichen, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Und dann möchte ich eine echte Ausbildung machen können, um einen Job zu haben, mit dem ich meinen Lebensstandard halten kann. Ich gebe das hier garantiert nicht auf, wenn nicht klar ist, dass es diese Perspektive sicher für mich gibt.“ Ob und welche Möglichkeiten das in ihrem konkreten Fall sein können, werde derzeit von der Arbeitsagentur geprüft.

Viele Gastronomen fürchten den Schritt zum Arbeitsamt

Klar ist: „Es gibt in dieser Zeit auch Selbstständige, die sich umorientieren wollen oder müssen“, so Jobcenter-Sprecherin Luisa Deistung. „An diesem Punkt entwickeln unsere Integrationsfachkräfte dann gemeinsam mit den Kunden neue Perspektiven, zum Beispiel über eine Weiterbildung.“ Dabei würde man versuchen, die Stärken, Neigungen und beruflichen Vorstellungen mit den vorhandenen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt und den gesetzlichen Bestimmungen in Einklang zu bringen. Und weiter: „Wenn diese Faktoren nicht zusammenpassen, können die Regelungen des SGB II in ein Spannungsfeld führen, das für beide Seiten nicht immer leicht zu bewältigen ist.“

Für Stefanie Sangare geht es vor allen Dingen auch darum, dass die Situation wirklich gesehen wird. Sie kenne Gastronomen, die lieber jeden Abend allein in einer leeren Bar sitzen und auf Gäste warten, weil sie den Schritt zum Arbeitsamt fürchten und all das, was sie nie wollten: warten, nichts tun, abhängig sein. Ein Lichtblick kommt derzeit aus Berlin. Das Programm „Neustart Kultur“ fördert Kultureinrichtungen, die überwiegend privat finanziert werden, so wie die 227-Bar. Sangare hat den Antrag bereits ausgefüllt und hofft, dass bald wieder Bands auf der Bühne stehen können, dass sie bald wieder Gäste empfangen kann.

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Wird ihr Antrag bewilligt, müsste sie zum Beispiel nur noch zehn Prozent von der Gage für die Musiker zahlen. Ist das die Rettung? Vorerst zumindest? „Es ist ein wichtiger Schritt“, sagt Sangare. „Und ich werde es versuchen, den Betrieb wieder aufzunehmen. Aber solange ich weiter nur 20 Leute bewirten kann, ist es Liebhaberei. Mit Wirtschaftlichkeit hat es jedenfalls nichts zu tun.“ Nur eine Sorge sei zuletzt in den Hintergrund gerückt. Den für 2024 geplanten Abriss der Sternbrücke und die damit einhergehende Bedrohung der dort ansässigen Clubs. „Vor Corona war das das größte Thema hier“, sagt Sangare. „Jetzt denke ich, wenn das so weitergeht, bin ich bis 2024 eh nicht mehr hier.“