Hamburg. Die Hamburger Martina Ditzel und Christian Petersen haben das Requisit für die Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ nachgebaut.

Manchmal ist die Realität dermaßen pervers, dass man sich Details gar nicht vorstellen kann – und mag. Ein erschütterndes Beispiel sind sogenannte Atomrucksäcke, mit denen ein östlicher Angriff auf die Bundesrepublik und Westeuropa gebremst werden sollte. Was Militärstrategen der Nato vor gut 50 Jahren tatsächlich bauen und lagern ließen, kam letztlich nicht zum Einsatz. Heute weiß kaum noch jemand davon.

Die Nachbildung eines dieser in Rucksäcken verstaubaren Nuklearsprengsätze bringt ein finsteres Kapitel des Kalten Krieges in Erinnerung. Als Teil der am 10. November in Hamburg startenden Dauerausstellung über Leben und Wirken des Altkanzlers Helmut Schmidt die Geschichte rund um die furchtbare Waffe zum Innehalten und Nachdenken anregen. In Allianz mit anderen Politikern des Westens trug der Verteidigungsminister und Staatsmann Schmidt einst dazu bei, dass diese Atomminen für den Verteidigungsfall nicht in Betracht kamen. Geplante Verwendungsorte: an der Grenze zwischen Ost und West, mitten in Deutschland.

Mühselige Feinarbeit

Die Ausstellung beinhaltet den Brief eines Bundeswehrgenerals. Dieser warnte damals, im Einklang mit Helmut Schmidt, vor „dem sicheren Tod und der totalen Verwüstung der Heimat“ – wenn die Minen mit Atomsprengsätzen zum Einsatz kämen.

Dass die Besucher der Ausstellung „Schmidt! Demokratie leben“ sich in den kommenden Jahren ein Bild dieser Kernwaffen mit verheerender Sprengkraft machen können, ist zwei Spezialisten aus Hamburg zu verdanken: Hand in Hand stellten die Gewandmeisterin Martina Ditzel und der Requisitenbauer Christian Petersen in mühseliger Feinarbeit einen Atomrucksack her. Auftraggeber: die Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in der Innenstadt. Garniert mit Fakten über die damals dramatische Militärkonfrontation wird die Nachbildung der Öffentlichkeit in einer gläsernen Vitrine präsentiert. Unfassbar, in jeder Beziehung.

Ausstellungsstück ist 70 Zentimeter hoch und rund 15 Kilogramm schwer

„Wir konnten es zuerst gar nicht glauben“, sagt Martina Ditzel bei einem Besuch in ihrem Atelier an der Straße Koppel in St. Georg, „und mussten uns erst einmal schlaumachen.“ Das Ergebnis, kurz gefasst: Im militärischen Ernstfall sollten sich Nato-Soldaten mit einem geschulterten Atomrucksack auf den Weg machen und diesen als nukleare Landmine an strategisch bedeutsamen Orten an der Ostgrenze deponieren. Mögliche Einsatzpunkte waren Brücken, Tunnel oder Autobahnkreuze. Per Fernzündung sollten die Bomben zur Explosion gebracht werden. Auf diese Weise sollte ein Vormarsch der Truppen des Warschauer Pakts gestoppt werden. Präzise Angaben über die „Atomic Demolition Munitions“ (ADM) wurden geheim gehalten. Angeblich waren 1985 zwischen 90 und 250 solcher Kernwaffen in Europa gelagert.

Das Hamburger Ausstellungsstück ist 70 Zentimeter hoch und rund 15 Kilogramm schwer. Den Innenkörper des olivfarbenen Rucksacks fertigte Christian Petersen. Ebenso wie Gewandmeisterin Ditzel sind sein Werdegang und Beruf eine Geschichte für sich. Spannend ist beides. Der aktuell 51-Jährige lernte Lichtreklamehersteller und Orthopädietechniker. 1994 machte er sich selbstständig. Seite an Seite mit Tischlern, Dekorateuren oder Architekten betreibt er in einer ehemaligen Eisengießerei in Altona eine Werkstatt.

Korpus des Rucksacks basiert auf einem handelsüblichen Kunststoffrohr

Beispiele seiner Schaffenskraft sind Schatzkisten für ein Computerspiel von Microsoft, eine 3,5 Meter hohe Wasserflasche für ein Spendenprojekt der Lufthansa, eine Fotowand für eine Modenschau von Karl Lagerfeld in der Elbphilharmonie oder „Panik-Gürtel“ für das Lindenberg-Musical. Weitere Auftraggeber sind Agenturen und Filmproduktionen. Wenn es um Unikate geht, ist Christian Petersen eine besondere Adresse. Motto: gewusst wie. So basiert der Korpus des Rucksacks auf einem auch für Abwasser geeigneten, handelsüblichen Kunststoffrohr.

Kollegin Martina Ditzel ging parallel zu Werk. Im dritten Stockwerk eines Altbaus in St. Georg betreibt sie seit 2003 mit fünf Kolleginnen das Atelier „Gewandwerk“. Die kreativen Frauen lernten sich während der Ausbildung kennen. Die Schneiderinnen und Gewandmeisterinnen vollbringen Sehenswertes: Einen Astronautenanzug für die lebensgroße „Weltraumkuh“ Stella des Hamburger Planetariums, Kostüme für Zauberkünstler, Fantasiegewänder für die Band „Die Ärzte“. Ulrich Tukur erschien in doppelter Rolle: privat sowie für seine Rhythmus-Boys. Weitere Kunden sind Opern in Hamburg, Deutschland und Europa, die Karl May Festspiele oder Fernsehsender.

In den USA gibt es solche Rucksäcke in Museen

So etwas Skurriles wie den Atomrucksack gab es in dieser Form noch nie. Frau Ditzel gab sich Mühe, vor gut einem halben Jahrhundert übliche Produkte zu finden: Gurte, Schnallen, Karabinerhaken, Kordeln. Wirkten die Einzelteile zu neu, sorgte sie filigran für Gebrauchsspuren. Über die exakte Farbe stimmten sich beide via Internet ab. „Die Arbeitsstunden darf man bei einem derartigen Projekt nicht zählen“, sagt sie über das Teamwork von zwei Gewerken.

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„Je nach Anfrage werden spezielle Materialien ausgesucht und geeignete Verarbeitungstechniken entwickelt“, fügt er hinzu. In den USA sind Atomrucksäcke in Museen ausgestellt – natürlich ohne nuklearen Inhalt. Ausleihe oder Kauf indes wären sehr aufwendig und kostspielig gewesen. Deswegen entschied sich die Stiftung für kunstvolle Handarbeit aus Hamburg. Bald wird das nukleare Mon­s­trum im Schmidt-Forum an der Straße Kattrepel in der Altstadt für erstaunte Blicke und Abschreckung sorgen. Glücklicherweise anders als ursprünglich gedacht.