Hamburg. Der Hamburg Konvent will die Zukunft der Hansestadt gestalten. Ein Spaziergang durch die City mit den beiden Initiatoren.
Jede Zeit baut ihre Kathedralen: Über Jahrhunderte waren es die Hauptkirchen St. Petri, St. Nikolai, St. Katharinen, St. Jacobi und der „Michel“, von denen manche nach Feuersbrünsten sogar mehrfach wieder aufgebaut werden mussten – sie galten stets als zu Stein gewordene Symbole Hamburger Bürgerstolzes. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts – in einer Zeit, als sich das Deutsche Reich anschickte, Großmacht zu werden – drehte sich der Fokus weg von Gott und hin zu Menschenwerk: Der Alte Elbtunnel, 1911 in Hamburg eröffnet und als technische Sensation gefeiert, wurde zu einer Kathedrale der Ingenieurskunst. Und wieder ein Jahrhundert später ist die Kathedrale ein Konzerthaus – mit der Elbphilharmonie hat sich die Hansestadt ein Haus gegönnt, das die Welt verzaubern soll.
Wer eine Stadt verstehen will, der muss sie sich erlaufen. Und so haben der frühere Staatsrat Nikolas Hill und der HWWI-Direktor Henning Vöpel in Zusammenarbeit mit der „Zeit“-Stiftung ein Format ersonnen, das sich mit Hamburgs Gegenwart und Zukunft befasst – den Stadtspaziergang. In den kommenden Wochen sollen internationale Experten die Hansestadt erkunden und Reformvorschläge machen.
Hamburg: "Zukunft hat nur, wer sich neu erfindet“
Denn Vöpel und Hill machen sich Sorgen um Hamburg. „Wir sind keine Besserwisser“, betonen sie. Ihnen geht es darum, Hamburg zukunftsfest zu machen. „Der Wohlstand ist alles andere als gesichert. Zukunft hat nur, wer sich neu erfindet“, schrieben die beiden Anfang des Jahres in einem Gastbeitrag für diese Zeitung. Neun Monate und eine Pandemie später sind ihre Fragen noch relevanter geworden.
Wir beginnen unsere Wanderung an der Nikolaikirche im Zentrum der Altstadt. Am Großen Burstah, der früheren Einkaufsmeile Hamburgs, tut sich eine gigantische Baulücke auf, wo ein halbes Jahrhundert das silberne Allianz-Gebäude stand. Plötzlich scheinen der für wenige Jahre von 1874 bis 1877 höchste Kirchturm der Welt von St. Nikolai und der prächtige Laeiszhof regelrecht in Szene gesetzt. Vöpel kann diesem Bild einiges abgewinnen: „Brachen eröffnen ganz andere Blicke auf die Stadt“. Der 47-Jährige mag das Unfertige. „Wir brauchen in Hamburg mehr Mut zur Lücke“, sagt der Volkswirt. „Alles muss immer fertig sein. Aber Stadt ist nie fertig.“
Dinge, die man jeden Tag sieht und plötzlich anders wahrnimmt
Auch das Verwaltungsgebäude von Hamburg Süd, der famose Bau von Cäsar Pinnau, fällt ins Blick. „Hier sieht man schon eines der Hamburger Probleme“, sagt der Ökonom: „Nach der Übernahme von Hamburg Süd durch Maersk ist wieder eine Unternehmenszentrale weggefallen – nun wird die Firma aus Kopenhagen und nicht mehr aus der Hansestadt gesteuert.“ Es sind Dinge, die man jeden Tag sieht und plötzlich anders wahrnimmt.
Der allein stehende Turm von St. Nikolai etwa und sein zerstörtes Kirchenschiff, nach dem großen Stadtbrand 1842 wiedererbaut und 1943 im Bombenhagel zerstört, verdienten seiner Ansicht nach mehr Aufmerksamkeit: „Was machen wir in Hamburg mit den Punkten, die Anlass geben, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen?“
Hamburg baut gern neu: Am Großen Burstah ist ein innerstädtisches Quartier mit Büro-, Einzelhandels-, Wohn- und Hotelflächen geplant. In das denkmalgeschützte Kontorhaus „Globushof“ soll ein Luxushotel ziehen. Am Bauzaun des neuen Viertels künden Zahlen von der Geschichte und dem Aufstieg der Stadt.
„Das ist eine schöne Idee, da kann man gleich hinterfragen, wovon wir in den vergangenen 800 Jahren gelebt haben“, sagt Hill. Dieser Beginn passt auch zum Anfang des allerersten Aufrufs zum Verfassungskonvent aus dem Januar 2020. „Seit über 800 Jahren prägt kein Ort unsere Stadt und ihr Selbstverständnis so stark wie der Hafen. Seit vielen Jahrhunderten ist er Wachstums- und Wohlstandsmotor“, hieß es im Gastbeitrag.
Hamburger Hafen – millionenfach verschicktes Postkartenpanorama
Da ist es nur folgerichtig, zum Hafen zu fahren – mit der U-Bahn vom Rödingsmarkt bis zu den Landungsbrücken, die so gar keine Untergrundbahn ist, sondern große Unterhaltung mit Hafenblick. Ein millionenfach verschicktes Postkartenpanorama. Die Landungsbrücken, die „Cap San Diego“, der Dreimaster „Rickmer Rickmers“, der Schiffsbahnhof mit Pegelturm. Ein Idyll, aber eines in Gefahr.
„Corona trifft Hamburg überdurchschnittlich hart: Der Hafen leidet, der Luftfahrtstandort und der Tourismus“, sagt Vöpel. „Ich fürchte, das sind keine Einmaleffekte, sondern wird uns längerfristig beschäftigen.“ Hill wird noch etwas grundsätzlicher: „Würden wir heute für viele Milliarden Euro einen Hafen entwickeln, wenn er noch nicht da wäre?“ Ein mahnendes Beispiel sei das Ruhrgebiet, das zu lange den nötigen Strukturwandel verzögert habe. „Hamburg hat große Veränderungen gescheut. Die Stadt musste sich auch nicht allzu sehr verändern, weil es ja gut lief.“ Damit aber sei es nun wahrscheinlich vorbei. „Wir müssen uns der Frage, wo morgen Wertschöpfung gelingen kann, jetzt stellen. Vielleicht ist es der letztmögliche selbstbestimmte Zeitpunkt.“
Vöpel spricht gar von einer „gefährlichen Vermögensillusion“. Viele tradierte Geschäftsmodelle gerieten gerade unter Druck – vom Hafen bis zum Einzelhandel. „Wir beobachten, dass der Wandel in seiner Disruption vielfach noch unterschätzt wird und der Mut für größere Weichenstellungen fehlt. Eine echte Transformationsstrategie fehlt.“ Beide sind sich einig: Ohne eine starke Wirtschaft wird die Stadt ihre Lebensqualität, ihre soziale und kulturelle Infrastruktur nicht erhalten können.
Hafen ist nicht mehr der Massenbeschäftigungsmotor
Es geht hinunter in den Alten Elbtunnel. Überraschend viel ist an diesem Nachmittag los, Radler auf dem Weg zur anderen Elbseite, eine Reisegruppe bestaunt die Technik, Spaziergänger bummeln. „Das war früher der Ort, durch den die Hafenarbeiter zu ihren Arbeitsplätzen im Hafen im Süden gelangt sind. Heute ist der Elbtunnel stattdessen eine touristische Attraktion“, sagt Hill.
Die Automatisierung insbesondere im Containerbereich sei inzwischen so weit fortgeschritten, dass der Hafen nicht mehr der Massenbeschäftigungsmotor ist. „Wir müssen den Fakten ins Auge schauen: Jährlich gibt die Stadt dreistellige Millionenbeträge für Kaimauerertüchtigungen, Ausbaggerungen und andere Investitionen aus“, sagt der 48-jährige Jurist. Zugleich aber bringe beispielsweise die Pacht für Hafenflächen vergleichsweise wenig Geld in die Kasse – bei Einnahmen von weniger als fünf Euro pro Quadratmeter pro Jahr. Die Stadt müsse ergebnisoffener den Umgang mit Flächen diskutieren und auch andere wissensbasierte Nutzungen etwa für Forschung und Entwicklung prüfen. „Man kann nicht die HHLA fragen, was sie anderes als den Hafen machen würde“, sagt Hill.
Die Elbphilharmonie war der letzte mutige Wurf
Aus den kühlen Röhren 24 Meter unter der Stadt geht es zurück in die Spätsommerhitze auf den Landungsbrücken. Das nächste Ziel ist unübersehbar: die Elbphilharmonie. Schon von Weitem strahlt ihr geschwungenes Dach in der Sonne – ein neues Bild der Hansestadt, das nach der Eröffnung des Konzerthauses weltweit gesendet, gedruckt und geliebt wird. „Das Haus hat die externe Wahrnehmung Hamburgs ziemlich verändert. Mit der Elbphilharmonie hat sich die Stadt erstmals seit Jahrzehnten wieder etwas Großes zugetraut“, sagt Hill.
2006 wurde der Jurist Leiter des Planungsstabes in der Hamburger Senatskanzlei, drei Jahre später rückte er zum Staatsrat der Kulturbehörde auf – insgesamt elf Jahre hatte er beruflich mit dem Großprojekt an der Kehrwiederspitze zu tun.
Die Landungsbrücken sehen in diesem Corona-Sommer seltsam aus: Schausteller haben Sondernutzungen bekommen, um ihre Buden aufzubauen: Es gibt Fischbrötchen und Mandeln, Slush und Pommes – ein bisschen Domatmosphäre an der Elbe. Hamburgs Wasserpromenade werten die schrill-bunten Buden nicht unbedingt auf, aber wenn es nur eine Existenz rettet, hat das zurzeit seine Richtigkeit.
Portugiesenviertel in Hamburg: „Hier findet Gesellschaft statt“
Der Weg führt uns vorbei am Portugiesenviertel, einem Quartier, das schon multikulturell war, als der Modebegriff noch nicht durch jede Debatte geisterte. „Hier findet Gesellschaft statt“, sagt Vöpel. Schon jetzt haben in Hamburg rund 80 Prozent der unter Sechsjährigen einen Migrationshintergrund. „Das ist einerseits eine große Chance, die dahinterstehenden zusätzlichen Kulturerfahrungen und die Internationalität für die Stadt zu nutzen“, sagt Hill. „Zugleich müssen wir aber die Frage beantworten, wie sich diese Menschen selbstverständlich als Hamburger und in dieser Stadt heimisch fühlen.“
Ein Gemeinwesen lebt davon, dass sich die Menschen engagieren und einbringen. Im Portugiesenviertel lässt sich die helle Seite der Migration erkennen – ein vielfältiges Viertel, ökonomisch, gesellschaftlich, kulinarisch. Es gibt aber auch die dunkleren Ecken in Hamburg, die nicht in den Reiseführern auftauchen, Viertel mit Segregation und Parallelgesellschaften.
„Wir haben uns unsere Internationalität mitunter nur eingebildet“, sagt Hill. „Wir werden aber in den kommenden Jahrzehnten so international, wie wir es nie waren.“ sagt er. Es gehe darum, aus diesem Potenzial Kraft zu schöpfen. Die Schlüssel dazu seien Bildung und gesellschaftliche Durchlässigkeit.
Die Elbphilharmonie in Hamburg ist auch ein "Sozialprojekt"
Hill verweist auf die Elbphilharmonie, die immer näher rückt. Als Dauerbaustelle vor der Eröffnung politisch heftig umstritten, sichert sie Beschäftigung gerade für jene, die standortgebunden sind: Tourismus und Gastronomie bieten Menschen ohne hohe Bildungsabschlüsse Jobperspektiven. Die Elbphilharmonie sei „insofern auch ein Sozialprojekt“. Sie belebt den Fremdenverkehr. Tatsächlich ist der Migrantenanteil mit rund einem Drittel in kaum einer Branche so hoch wie im Gastgewerbe.
„Die Elbphilharmonie war der letzte Ausbruch aus der hamburgischen Selbstgenügsamkeit“, sagt Hill. Hamburg habe sich in vielen Bereichen gut entwickelt. „Wir beobachten jedoch, dass die Stadt dazu neigt, mit sich zufrieden zu sein. Gerade jetzt aber wäre es wichtig, ambitioniert zu sein – in der Kultur, in der Wissenschaft und bei Innovationen.“
Strukturwandel erfasst auch Zukunftsbranchen von gestern
Wir schlendern weiter den Baumwall entlang. Links grüßt das Pressehaus Gruner + Jahr und kündet von einer besseren Zeit, als Hamburg noch die Medienhauptstadt der Republik gewesen ist. Damals, vor dem digitalen Wandel und der knallharten Konkurrenz durch Berlin, drängten alle, die den Traum von „irgendwas mit Medien“ träumten, in die Hansestadt. Heute sind viele weitergezogen. Nun baut sich der Verlag ein kleineres Haus in der HafenCity. Das denkmalgeschützte Gebäude zwischen Elbe und Michel übernimmt ein New Yorker Immobilienkonzern. Bald sollen hier Büros der Gesundheits- und Medienbranche, ein Marktplatz im Erdgeschoss und Wohnungen entstehen. Der Strukturwandel macht auch vor den Zukunftsbranchen von gestern nicht halt.
Rechts geht es über die Niederbaumbrücke Richtung HafenCity, der frühere Übergang zwischen Altstadt und Freihafen gilt vielen als weniger gelungen, viele Steine, wenig Mut: Schon vor der Jahrhundertentscheidung für die HafenCity im Jahre 1997 entstanden an dieser Schnittstelle in den 90er-Jahren große Bürokomplexe wie das Hanseatic Trade Center und das Columbus-Haus.
„Bildet sich im Städtebau die Mentalität ab?“, fragt Vöpel. „Wir haben viele kaufmännische Netzwerke. Aber wir sind nicht Berlin.“ Und formuliert, was ihm an der Hansestadt missfällt: Ihm ist das alles etwas zu akkurat, zu geplant, zu konservativ. „Eine Stadt braucht Leben, sonst wird sie zur Kulisse“, sagt er. „Es fehlt die Inspiration aus den Widersprüchen, dem Spontanen.“
Städte sind Anziehungspunkte für Ideen und Talente
Kopenhagen könne ein Vorbild sein, die Stadt habe sich mit ihrer Verkehrspolitik und der Lust auf Design neu erfunden; Tallinn in Estland wiederum wecke Aufmerksamkeit durch eine enorme digitale Transformationsgeschwindigkeit. „Städte entfalten weltweit eine enorme Faszination, sie sind und waren schon immer Anziehungspunkte für Ideen und Talente, Orte der Avantgarde und des Wandels“, sagt Vöpel. „Wir beobachten, dass Hamburg im Vergleich zu anderen Städten weniger dynamisch und inspiriert ist.“ Hill sieht es ähnlich: „Nach zehn Jahren treffen Sie in Hamburg noch 90 Prozent in den gleichen Positionen.“
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Wir passieren das Columbus-Haus. Doch auch der Verweis auf den Entdecker der neuen Welt macht die Stadt nicht internationaler. „Wir sind international nicht attraktiv genug“, lautet eine der Thesen von Vöpel und Hill.
Hamburg bezeichnet sich gerne als „Tor zur Welt“. Aber nicht nur die Mutter von Karl Lagerfeld pflegte, wie der große Modezar lustvoll erzählte, dann zu sagen, dass Hamburg eben nur das Tor, aber nicht die Welt sei. „Wir teilen diese Beobachtung auch heute noch. Die Stadt ist nicht so international, wie sie selbst von sich behauptet“, sagt Hill. Internationale Talente und Verbindungen seien heute jedoch der Schlüssel für Ideen und Innovation.
„Was ist das Ziel der Stadt?“, frage ich die beiden, als wir vor der Elbphilharmonie stehen. Für einen Werktag herrscht eine Menge Trubel rund um das Wahrzeichen. Vöpel atmet laut aus: „Puh. Das Ziel? Ich kenne es nicht.“ Hill, der als einziger CDU-Politiker auch im Senat von SPD-Bürgermeister Olaf Scholz im Amt blieb, verweist auf das Leitbild aus den Tagen von Ole von Beust und Wolfgang Peiner: „Die Wachsende Stadt gilt formal bis heute. Keiner der Folgesenate hat ein neues beschlossen. Aber wird es noch mit Leben gefüllt?“
Wo die Probleme in Corona-Zeiten drücken
Lange wurde das Motto zu einer sich selbst verwirklichenden Prophezeiung: Nach den Zahlen des Melderegisters hatte die Hansestadt 2001 rund 1,7 Millionen Einwohner; inzwischen sind es 1,9 Millionen. Und für die Mitte des kommenden Jahrzehnts erwarten die Strategen in der Senatsverwaltung 2,031 Millionen Einwohner – schon 2031 soll demnach die magische Marke von zwei Millionen Einwohnern durchbrochen werden.
Zugleich zeigt der Blick von der Plaza aber auch, wo die Probleme in diesen Corona-Zeiten drücken – das Musical-Zelt vom „König der Löwen“ liegt seit einem halben Jahr verwaist da, der Hafen ächzt unter einem Rückgang des Welthandels: In den ersten sechs Monaten dieses Jahres hat er im Vergleich zum Vorjahr zwölf Prozent seines Güterumschlags eingebüßt. Und am Horizont fällt der Blick auf das große Airbuswerk. Gerade hat der Chef des Flugzeugbauers die Belegschaft auf eine schwerere und länger als erwartet andauernde Krise eingeschworen. Wir leben in seltsamen Zeiten: Die Sonne scheint, aber am Wirtschaftshorizont ziehen viele dunkle Wolken auf.
In der HafenCity stehen die Zeichen auf Wachstum
In der HafenCity ist davon noch wenig zu spüren, hier stehen die Zeichen vorerst weiter auf Wachstum. Der jüngste Stadtteil mit seinen derzeit 4500 Einwohnern soll bis auf knapp 6000 wachsen. Schon jetzt ist es den Stadtplanern gelungen, Leben in das Viertel zu bringen: An diesem sonnigen Nachmittag flanieren die Menschen an der Elbe, sitzen in Cafés oder bummeln durch die Straßen. Und doch vermissen die beiden auch hier den Mut zum Außergewöhnlichen, das Wagnis. „Da geht noch was“, sagt Vöpel. Die HafenCity habe viele interessante Punkte, aber erzähle keine Geschichte. „Es ist ein Wesensmerkmal der Stadt, nicht kontrovers sein zu wollen, nicht aufzufallen.“ Die Stadt erzähle wenig zwischen den Zeilen. Auch Hill konstatiert eine „kühle Distanz“.
Der Blick schweift auf die andere Elbseite – auf die Insel der zerstobenen Träume. Vor zehn Jahren scheiterten die Pläne des schwarz-grünen Senats, Teile der Universität auf der anderen Elbseite neu zu errichten. Der mutige Neubeginn zerschellte am Widerstand der Cafés und Copyshop-Betreiber im Bezirk Eimsbüttel.
Universität am Wasser – eine verpasste Chance
„Leider ist die Politik damals schnell eingeknickt“, sagt Hill, der das Projekt als Planungsstabsleiter in der Senatskanzlei vorangetrieben hatte und dann Staatsrat der Behörde für Kultur, Sport und Medien wurde. „Was für eine verpasste Chance. Das wäre ein tolles Signal für eine Welthafenstadt gewesen: Eine Universität am Wasser mit zentraler Sichtbarkeit. Warum nicht mit einem provokanten Namen wie Störtebeker-Universität? Das neue wirtschaftliche Herz, Forschung und Entwicklung, könnte im Hafen schlagen.“
Hill und Vöpel fordern mehr Investitionen in Wissenschaft. Das Thema stehe zwar mittlerweile weit oben auf der Agenda. „Und doch ist unsere Beobachtung, dass es an wissenschaftsnahen Mentalitäten und Milieus in der Stadt noch fehlt. Schon Arthur Schopenhauer beklagte, dass in der Stadt der Kaufleute die Wissenschaft und die Kultur nicht zu Hause seien, sodass er selbst der Stadt den Rücken kehrte“, betont Hill.
Das Nein zu Olympia hat der Stadt den Stecker gezogen
Wie er das so erzählt, spürt man, wie er sich bis heute über diese verpasste Chance ärgert. Es sollte nicht die einzige bleiben.
Denn genau dort auf dem Kleinen Grasbrook hätte nun das olympische Dorf entstehen sollen – ein nachhaltiger, moderner neuer Stadtteil. Hätte, hätte, Fahrradkette. Die Bewerbung um die Olympischen Spiele 2024 scheiterte am Votum der Bürger. Völlig überraschend stimmten 51,6 Prozent der Hamburger am 29. November 2015 gegen die Austragung des Sportfestes, das in Meinungsumfragen stets noch eine breite Mehrheit gefunden hatte.
Ein altes Phänomen bei Referenden schlug sich Bahn: Wer Nein sagen will, geht eher an die Urnen. Diese Entscheidung war ein wenig, als hätten die Hamburger selbst ihrer Stadt den Stecker gezogen: Kurz darauf trat erst der Innen- und Sportsenator Michael Neumann zurück, 2016 verzichtete auch Oberbaudirektor Jörn Walter auf eine weitere Amtszeit. Und wahrscheinlich hat der Abschied vom olympischen Traum auch Olaf Scholz 2018 den Abschied aus Hamburg erleichtert.
Denn die Entscheidung ging über einen Stadtteil hinaus, es war eine Standortbestimmung. Seit diesem Sonntag im November hat sich Hamburg von dem Ziel verabschiedet, mehr zu sein. Am Ende blieben mit Paris und Los Angeles übrigens nur zwei Bewerber im Rennen – beide bekamen die Spiele.
„Diese Entwicklungsoptionen sind jetzt versperrt“, sagt Hill, der 2015 Geschäftsführer der Hamburger Bewerbungsgesellschaft war. „Olympia ist ja kein Selbstzweck gewesen, sondern war auch ein Ziel, die Wohlstandsschere zwischen Norddeutschland und Süddeutschland zu schließen.“ So hat sich Bayern nach dem Krieg in beeindruckendem Tempo vom Agrar- zum Industrieland entwickelt, weil die Weichen dort mutig gestellt wurden.
Spielt die Zeit gegen die Hansestadt?
Olympia 1972 im München spielte dabei eine wichtige Rolle – München konnte sich binnen Jahren modernisieren und einen leistungsfähigen Nahverkehr aufbauen, auch die Dominanz des FC Bayern München begann in dieser Zeit. „Es ist die Summe, die den Unterschied macht: Bayern hat den Sport, einen großen internationalen Flughafen, innovative Unternehmen“, sagt Vöpel.
Hill und Vöpel treibt die Sorge, dass die Zeit nicht für die Hansestadt spielt, sondern gegen sie: „Die Wirtschaftsräume verschieben sich“, warnt Vöpel mit Blick auf die chinesische Strategie, mit Milliardeninvestitionen in Infrastruktur- und neue Verkehrswege zwischen Europa, Asien und Afrika eigene Absatzmärkte zu erschließen. „Durch die Seidenstraße droht Hamburg an den Rand gedrückt zu werden.“ Schlimmer noch: Wenn das wachstumsschwache Europa an die Peripherie rückt, was wird aus der Hansestadt, die an der Peripherie Mitteleuropas liegt?
Der Oberhafen – auch „Potenzialort“ genannt
Wir dringen vor zur Peripherie der Innenstadt – in den Oberhafen, ein aussichtsreiches Quartier mit vielen Chancen, das im Stadtentwicklerdeutsch „Potenzialort“ heißen. Bislang kennen viele Hamburger das Gebiet vor allem wegen der Oberhafenkantine: Es ist ein Raum, der beiden gefällt. „Hamburg ist nicht fertig. Es gibt Gott sei Dank Stadträume zum Gestalten“, sagt Hill. „Hier gibt es die Chance zur Wende, hier liegen Entwicklungspotenziale.“ Vöpel wünscht sich Signale. „Wir brauchen Mut“, sagt er. „Hamburg benötigt mehr Extravaganz, mehr Extrovertiertheit, mehr Avantgarde.“
Wir setzen uns auf eine Rhabarberschorle vor die alte Kaffeeklappe aus dem Jahr 1925. Die Oberhafenkantine ist in Schieflage – das aber hat nichts mit Corona zu tun, sondern mit der Schlagseite des Gebäudes. An dieser Stelle scheint vieles möglich: ein urbaner Ort mit bunter Nachbarschaft. Über uns die Bahnlinie, neben uns der „Spiegel“ und die Kreativräume der Hanseatischen Materialverwaltung. Auf dem anderen Ufer des Oberhafens wächst derzeit das Projekt Hammerbrooklyn: Am Stadtdeich entsteht in den kommenden Jahren für insgesamt rund 200 Millionen Euro ein Ort für digitale Transformation: Unternehmen, Stadt und Wissenschaft sollen auf dem digitalen Campus gemeinsam an der Zukunft werkeln. Vöpel ist einer der Initiatoren des Projektes.
Er wünscht sich hier eine „positive Provokation“, Hammerbrooklyn soll „Brücken bauen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, großen Unternehmen und Start-ups, Politik und Gesellschaft, Hamburg und der Welt sowie zwischen Gegenwart und Zukunft“. Digitalisierung ist „wesentlicher Treiber von gesellschaftlicher Veränderung“, sagt Vöpel. Diese gesellschaftliche Veränderung sei angesichts der Herausforderungen nötiger denn je. „Eine Stadt wie Hamburg steckt voller Ressourcen, deren intelligente Nutzung die Lebensqualität enorm erhöhen kann“, sagt er. „Mit natürlichen Ressourcen nachhaltig umzugehen und das Wissen und das Engagement von Menschen zu entwickeln ist für den bevorstehenden Strukturwandel hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft und einer digitalen Gesellschaft die vielleicht wichtigste Voraussetzung.“
Hamburg kann, wenn es nur will. Aber will es?
Initiatoren hoffen, dass viele Bürger mitdiskutieren
„Die Stadt ist außerordentlich wohlhabend und schön. Wofür aber steht Hamburg?“ Die Frage beschäftigt Hill und Vöpel schon lange. „Wir haben uns vor einigen Monaten zufällig im Mutterland am Hauptbahnhof getroffen, als wir beide auf den Zug gewartet haben“, erzählt Hill. „Wir kamen ins Gespräch und wollten nun mit dem Konvent einen Stein ins Wasser werfen.“
Dieser Stein soll Kreise ziehen. Experten werden nach Hamburg reisen und ihre Gedanken für die Stadt teilen. Die Initiatoren hoffen darauf, dass bald viele Bürger mitdiskutieren, wenn der Hamburg Konvent an Fahrt aufnimmt. „Sind wir auf die Zukunft, auf den Wandel, gut vorbereitet? Was will die Stadt und was kann sie?“ Vöpel und Hill wollen einen Diskurs anstoßen, zum Nachdenken und Weiterdenken anregen, aber auch Widerspruch provozieren und dazu einladen, eigene Beobachtungen einzubringen. Es ist ein Projekt, dessen Ausgang ungewiss ist – so offen wie die Zukunft.
Das ganz Große und das Kleinkarierte liegen oft dicht beieinander
Gemeinsam bummeln wir weiter Richtung Rathaus. Durch das Chilehaus, dieses architektonische Ausrufezeiten für den Aufbruch in eine neue Zeit, gelangen wir ins Kontorhausviertel. Hier hat sich die Hansestadt in schweren Zeiten, zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise, neu erfunden – und profitiert davon bis zum heutigen Tag. 2015 hat die Unesco das Hamburger Kontorhausviertel mit dem Chilehaus und seinen anderen Meisterwerken der Backsteinmoderne zum Weltkulturerbe erklärt. Aber wie nutzt Hamburg die Mitte dieses Viertels? Als Parkplatz. Das ganz Große und das Kleinkarierte liegen oft dicht beieinander.
Hamburg, das ist auch eine Stadt der spät genutzten Chancen: „Der Rathausinnenhof war bis zur Jahrtausendwende auch nur ein Parkplatz“, erzählt Hill. „Und nach dessen Umgestaltung fühlt man sich plötzlich fast wie in Italien.“ Vom Parkplatz nach Italien in wenigen Monaten – manchmal gehen Wunder ziemlich schnell.
Die Ziele des Hamburg Konvent: Neue Impulse für die Stadt
Der Hamburg Konvent will die Debatte um die Zukunft der Stadt beleben und findet dabei viel Unterstützung. Neben Hill und Vöpel steht die „Zeit“-Stiftung hinter der neuen Plattform. „Die Stiftung engagiert sich seit ihrer Gründung in ganz besonderer Weise für Hamburg“, sagt Michael Göring, der Vorstandsvorsitzende. „Das ist das Vermächtnis unseres Stifters Gerd Bucerius, der ja nicht nur Verleger, sondern auch Hamburger Senator und Bundestagsabgeordneter war.“
Göring sieht Hamburg vor außergewöhnlichen Herausforderungen, wie dem zunehmenden Onlinehandel, Problemen in zentralen Branchen oder die Lenkung des Verkehrs angesichts des Klimawandels. „Wir möchten mit dem Hamburg Konvent das Bewusstsein für die Dringlichkeit dieser Veränderungen schärfen.“ Die Digitalagentur PUSHH, die Stadtplaner von Urbanista und der Global Player Arcadis fördern das Projekt.
Der Hamburg Konvent startet mit „Spaziergängen“, auf denen auswärtige Spezialisten Anregungen für Veränderungen geben. Jeder Bummel steht unter einem Motto:
- Pianist Igor Levit hat sich mit dem Kulturstandort befasst
- Jörg Dräger, der frühere Wissenschaftssenator und heutige Vorsitzende der Bertelsmann-Stiftung, reflektiert die Entwicklung zur Science City
- Wiens Stadtplaner Thomas Madreiter blickt auf die Stadt- und Verkehrsplanung
- Luisa Neubauer schaut auf die Klimaneutralität Hamburgs
- Weitere Spaziergänge etwa mit Unternehmerin Tijen Onaran, dem Immobilien-Entwickler Wienke Bodewes oder der Xing-Chefin Petra von Strombeck sind in Vorbereitung.
Alle Anregungen sollen breit in der Stadtgesellschaft, in den Medien und dem Internet (www.hh-konvent.de) diskutiert werden. Dazu dienen Podcasts und Gesprächsrunden, bevor im nächsten Jahr der eigentliche Konvent zusammenkommt.