Hamburg. Der Bahnhof zieht um, überall entstehen neue Wohngebiete. Bummel durch eine Stadt, die schon bald kaum mehr wiederzuerkennen ist.

Der Bahnhof Altona ist die wohl lebendigste Bausünde der Stadt. In atemberaubender Hässlichkeit thront er da am Rande von Ottensen, eine betongewordene Geschmacklosigkeit. Wobei das Wort Bahnhof schon geprahlt ist – für ältere Altonaer bleibt er bis zum Ende seiner Tage nur ein „Kaufhaus mit Gleisanschluss“. Sie werden es dem Investor Kaufhof nie verzeihen, dass er den Stadtteil 1979 mit diesem Monstrum verschandeln durfte, nachdem allen Protesten zum Trotz der alte Neogotik-Bau nonchalant abgeräumt worden war. Offenbar ist diese Bausünde inzwischen selbst der Bahn ein bisschen peinlich – an der Fassade klebt die Lichtwerbung „Bahnhof Altona“ ohne das DB-Logo, eingezwängt zwischen Media-Markt-, Rossmann- und Lidl-Schriftzügen. Aller Hässlichkeit zum Trotz: Es ist was los in und um den Bahnhof Altona.

Vom Glück ziemlich verlassen: der Wettcontainer in Bahrenfeld.
Vom Glück ziemlich verlassen: der Wettcontainer in Bahrenfeld. © Matthias Iken | Matthias Iken

Richtig muss es heißen. Noch ist was los. Denn die Tage des Bahnhofs sind gezählt. 2026, spätestens 2027 soll der einstige Hauptbahnhof der freien Stadt Altona nach Diebsteich ziehen, wenn nicht wieder was dazwischenkommt. Ein Bahnhof zieht um – aus dem Herzen des Stadtteils an die Peripherie, aus dem pulsierenden Leben an einen Friedhof. Darauf muss man erst einmal kommen. Das wäre so, als würden Monopoly-Spieler kurzerhand den Hauptbahnhof unweit der Parkallee an den Anfang des Spielbretts zwischen Badstraße und Turmstraße verlegen. Da benötigt man zwar keinen Bahnhof, aber dafür kann man auf teuren Feldern mehr Häuser und Hotels bauen.

Ein bisschen geht es darum auch beim Monopoly in Hamburg. Doch hier spielen sehr viele mit – sie alle wollen im Herzen der Stadt leben, sie drängen in die Szenestadtteile. Da kommt die 138.000 Quadratmeter große Bahnfläche direkt zwischen Altona und Ottensen natürlich gerade recht.

Auf der Altstadt-Seite ist Ottensen noch nicht angekommen

Ich beginne meine Wanderung im Schatten des Bahnhofs mit begrenzter Restlaufzeit. Dort, auf der Altstadt-Seite, ist Ottensen noch nicht angekommen. Eine ganze Straße ohne Cafés, eine Latte-macchiato-freie Zone! Dieser Zubringer für Taxis und Autozugreisende ist nach „Präsident Krahn“ benannt! Präsident wer? Für die Eine-Million-Euro-Frage bei Günther Jauch taugt Präsident Krahn kaum – selbst Google streicht bei der Recherche nach dem ominösen Namensgeber die virtuellen Segel. Spektakulär geht es beim Präsidenten ohnehin nicht zu, so sieht ein typisches deutsches Bahnhofsviertel aus. Auf der einen Seite steht ein ICE in der Stadtlandschaft herum, auf der anderen Seite wechseln sich austauschbare Büros, Hotels, Wohnungen ab. Alles ein bisschen siffig, ein Graffito hier, eine leere Zigarettenschachtel da. An einer Fassade klebt ein Bayern-München-Aufkleber. Forza Bayern. Ausgerechnet. Vom Balkon an der Julius-Leber-Straße weht sogar eine Werder-Bremen-Fahne. Wo bin ich hier gelandet?

Alexander Link von „Das Geld hängt an den Bäumen“ im „Saftladen“ an der Harkortstraße.
Alexander Link von „Das Geld hängt an den Bäumen“ im „Saftladen“ an der Harkortstraße. © Matthias Iken

Schon hinter dem Taubentunnel, der in arger Respektlosigkeit offiziell nach Gotthold Ephraim Lessing benannt ist, beginnt das neue Altona auszustrahlen. Hier treffen sich ein alter Kern und die Neue Mitte, architektonisch wie soziologisch. Alte Lagergebäude aus Backstein stehen neben quadratisch-praktisch-mittelmäßigen Schlafregalen, Alteingesessene wohnen Seit’ an Seit’ mit Neubürgern.

In der Harkortstraße ist etwas gewachsen, das das Beste aus beiden Welten zusammenbringen kann. Im „Saftladen“ hat das Projekt „Das Geld hängt an der Bäumen“ eine Heimat gefunden. „Seit mehr als zehn Jahren stellen wir Säfte und Schorlen her – regional, sozial und nachhaltig“, erklärt Alexander Link, kaufmännischer Leiter, zwischen Dutzenden von Saftkisten. Die Früchte stammen aus privaten Gärten oder von Streuobstwiesen aus Hamburg und Umgebung. „Wir ernten mit gesellschaftlichen Randgruppen ungenutztes Obst – oder wie wir sagen: mit vergessenen Menschen vergessene Ressourcen“, heißt es im Saftladen. Behinderte, Obdachlose, Migranten, Langzeitarbeitslose – der Saftladen gibt vermeintlich Chancenlosen eine Chance. Rund 25 Menschen haben so Arbeit gefunden. Während ich an der Apfel-Johannisbeer-Schorle „Simon“ nippe, lacht mich der Mann auf dem Flaschenetikett plötzlich an. Ist da was in der Schorle? Nein, die Schorlen sind nach Mitarbeitern benannt. Mit Simon in der Hand grüße ich Simon.

Die Neue Mitte Altona mit dem großen Park und der Außengastronomie belebt sich.
Die Neue Mitte Altona mit dem großen Park und der Außengastronomie belebt sich. © Matthias Iken

Seit 2015 ist die gemeinnützige GmbH an der Harkortstraße heimisch – und damit Teil des Wandels. „Hier hat sich einiges getan“, sagt Link und zeigt auf den Hof vor dem Saftladen, der nun endlich zugänglich ist, und die neu entstandenen Hochhäuser im Hintergrund. Mit den neuen Wohnungen kommen neue Kunden. Umsätze, die helfen, gerade jetzt. Wegen Corona hängt das Geld nicht mehr an den Bäumen – die Bestellungen aus der Gastronomie brachen fast komplett weg. Aber manche Unternehmen haben ihren Mitarbeitern Durchhaltekisten an den heimischen Arbeitsplatz geschickt. „Wir haben es ganz gut überstanden“, sagt Link. Der Hamburger Künstler Paul Schrader hat nun eine Saftkiste aus Holz in limitierter Auflage gestaltet – für 100 Euro. Solidarität wächst, wenn man sie teilt.

Auch die Neue Mitte wächst – der erste Bauabschnitt soll noch in diesem Jahr vollendet werden: Mehr als 1600 Wohnungen für 3200 Einwohner entstehen hier. Danach folgt die Bebauung des ehemaligen Holsten-Areals zwischen Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee, wo weitere 1400 Wohnungen in den Himmel wachsen sollen – allerdings deutlich später als gewünscht. Immer wieder wurde das Filetgrundstück im großen Immobilienmonopoly weitergereicht. Ursprünglich sollten die ersten Häuser 2021 fertiggestellt sein, nun ist der Beginn des ersten Bauabschnitts für das kommende Jahr geplant. Bezugsfertig wären die ersten Gebäude damit 2024. Und nach 2026/27 käme dann der dritte Bauabschnitt an die Reihe, dort, wo heute noch die Züge rollen. Hier sind noch einmal 1900 Wohnungen für 3800 Menschen geplant. Verdammt viel Zukunftsmusik.

Menschen mit Lust auf Veränderungen

Aber die Ouvertüre ist gelungen. In den frisch sanierten Lagerhallen an der Harkortstraße haben sich ein Naturkostladen, ein Edeka-Supermarkt, eine Drogerie und ein Geschäft für Künstlerbedarf niedergelassen. Es ist ein bisschen wie in der Biologie, wenn neue, freie Flächen besiedelt werden: Zuerst lassen sich Arten nieder, die widerstandsfähig sind und weniger anspruchsvoll – sie sind die Wegbereiter des Lebens.

Pioniere sind auch jene Menschen, die auf eine Baustelle gezogen sind – wie Jana Kurucova. Seit Dezember lebt sie mit Mann und Kind in der Neuen Mitte. Die junge Familie ist in eine Wüstenei gezogen, die sich langsam zur Stadt wandelt. Sie bietet schon, was man anderswo suchen muss: reichlich Kita-Plätze, Nachbarn in einer ähnlichen Lebenssituation, junge Leute mit kleinen Kindern, Menschen mit Lust auf Veränderungen und Zukunftsglaube, die sich über Whats­App-Gruppen zusammenschließen. Dafür geht man Kompromisse ein und gewöhnt sich an vieles – sogar an Staub, Lärm, Dreck.

Jana Kurucova wohnt mit Kind im Quartier Neue Mitte Altona. Und sagt: „Am Anfang war es schon etwas mühselig.“
Jana Kurucova wohnt mit Kind im Quartier Neue Mitte Altona. Und sagt: „Am Anfang war es schon etwas mühselig.“ © Matthias Iken

„Am Anfang war es schon etwas mühselig“, erzählt Kurucova. „Und natürlich kann es nerven, wenn um 6.30 Uhr die Bauarbeiter anrücken. Aber dann macht man eben die Fenster zu.“ Zugleich belebt der Wandel das Leben. Ständig eröffnen sich neue Perspektiven. Wo eben noch der Blick auf die Bahn fiel, wächst jetzt ein neues Haus; wo neulich noch die Sonne schien, werfen Neubauten plötzlich Schatten „Das ist faszinierend, wie rasant sich hier die Stadt verändert – ein bisschen wie im Kino.“

Auch Kurocova hat schon Pläne für ihren neuen Stadtteil „Ich möchte eine Musikschule gründen, der Businessplan steht schon. Nach Corona geht’s los.“

Das Leben macht die Neue Mitte bunter. Es ist keine Architektur, die Herzen erwärmt, Augen öffnet oder Seelen streichelt. Es ist Allerweltsarchitektur, ein bisschen gesichtslos, ein bisschen geschichtslos. Eine Welt aus Stein. Die Fassaden schlicht, so als sei alle Kreativität und alles Geld ins Innere der Häuser gesaugt worden und für die Straße, für die Stadt nicht mehr viel übrig geblieben. Keine Vorgärten, sparsam dosiertes Grün, verdammt wenig Überraschendes.

Immerhin: Der großzügige Park überstrahlt das Mittelmaß, die große Sonnenterrasse der „Blauen Blume“ zählt schon jetzt zu Spitzenplätzen an der Sonne. „An der Kleiderkasse“ lautet die neue Adresse der traditionsreichen Kultkneipe, die früher an der Gerichtsstraße beheimatet war. Die Straßennamen in der Neuen Mitte sind, höflich formuliert, etwas extravagant. Wer möchte schon in der „Glückel-von-Hameln-Straße“ oder der „Domenica-Niehoff-Twiete“ wohnen? Buchstabieren sie das mal am Telefon oder schreiben sie das in ein Antragsformular. Viel Freude noch. Und doch: Das Quartier mausert sich – auch wenn dem einen oder der anderen immer noch ein Zug durchs Wohnzimmer rauscht. Mit jeder weiteren Woche breitet sich das Leben aus. Das wird schon.

An der Stresemannstraße ist alle Ästhetik passé

Kurz dahinter, an der Stresemannstraße, ist alle Ästhetik passé. Das Postamt des Grauens liegt am Kaltenkircher Platz. Wie heißt es so schön im Hamburger Westen? „Was ist das Schlimmste, was man im Briefkasten finden kann? Ein kurzer Gruß der DHL: ,Ihre Sendung liegt zur Abholung in der Postfiliale Kal­tenkirchener Straße bereit.‘“ Die Schlangen lang, der Service mau – und diese Architektur! Ein feuchter Traum von Location Scouts für Horrorfilme. Drinnen vertrocknen die Topfpflanzen, draußen bilden Hundekacketüten, Zigarettenkippen und Einwegbecher ein Potpourri des Schauderns. Und in den schmuddeligen Außenanlagen warnt ein Schild: „Kein Spielplatz! Eltern haften für ihre Kinder.“ Welches Kind käme auf die Idee, hier freiwillig zu spielen? Ja, Hamburg kann hässlich. Wahrscheinlich wird das Gesamtkunstwerk am Kaltenkircher Platz bald unter Denkmalschutz gestellt.

Aber hier, zwischen Beton und Metro­-Markt, soll ja bald eine ganz andere Stadt entstehen. Der Diebsteich rückt näher. Noch poltern Sattelschlepper über die Plöner Straße. Auch sie ist eher eine Meile für Menschen mit abseitigem Geschmack. Das Unkraut wächst durch das Kopfsteinpflaster, ein abgefahrener Spiegel hängt auf halbmast an einem Transporter, offenbar schon vor Monaten abgestellte Lieferwagen sind mit Graffiti beschmiert. Käme ich aus Plön, ich würde die Stadt Hamburg wegen Rufschädigung verklagen.

Am Bahnhof Diebsteich steht die Zeit – und das Wasser.
Am Bahnhof Diebsteich steht die Zeit – und das Wasser. © Matthias Iken

Der Bahnhof Diebsteich liegt gleich um die Ecke im Nirgendwo. Es bedarf viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass genau an dieser Stelle einer der vier großen Fernbahnhöfe entstehen soll. Vom Bahnsteig fällt der Blick auf Altona in der Ferne, die Haltestelle fügt sich perfekt ein in die Trostlosigkeit des Quartiers. Das Einzige, was frisch und fröhlich wirkt, ist die Zigarettenwerbung. Das Gras wuchert höher als die Geländer; ein vergessenes Fahrradgerippe wartet auf einen Besitzer, der nicht mehr kommt; und die übersprühten Glasbausteine macht längst niemand mehr sauber, das wäre vergebliche Liebesmüh. Giftgrün kippt ein Gewässer, mühsam zieht eine Ente ihre Bahn durch die gleichnamige Grütze. Selbst die Aufkleber an den Laternenmasten tragen Patina. „Diebsteich“, das wäre ein schöner Song für Element of Crime.

In wenigen Jahren wird man diesen Platz nicht wiedererkennen: Dann überragen am Diebsteich zwei Hochhäuser mit 58 und 76 Metern Höhe das begrünte Bahnhofsdach, finden Büros und das obligatorische Hotel eine neue Heimat.

Wandel, wohin man blickt. An der Waidmannstraße, wo ein backsteinernes Gebäude mit schmiedeeisernen Gittern noch das Industrie-Urgestein Thyssen Krupp Schulte beherbergt, soll bald eine Musikhalle mit 5000 Plätzen entstehen, dahinter bis 2026 das neue Stadion für Altona 93. Eine erste Lücke ist gerade geschlagen und leer geräumt worden. Ein paar vorwitzige Wohnbauten wagen sich in dieses Niemandsland. Der Blick auf die Karte zeigt, wie attraktiv das Quartier liegt: An diesem Schnittpunkt trifft der Bezirk Altona auf Eimsbüttel. Zwei Namen, bei denen manche Makler Dollarzeichen im Auge bekommen. Oberbaudirektor Franz-Josef Höing verspricht, der „Industriecharme“ bleibe erhalten, geschleckt werde es nicht. Hoffentlich.

Man spricht auch Russisch und Polnisch: Schild in Gewerbegebiet.
Man spricht auch Russisch und Polnisch: Schild in Gewerbegebiet. © Matthias Iken

Seit 1887 ist das „Blumenhaus und Friedhofsgärtnerei Cornils“ vor Ort – der Urgroßvater von Inhaber Sven Cornils hatte das Haus einst gebaut. Seine Frau Claudia ist seit 1986 an der Straße Am Diebsteich zu Hause. „Hier hat sich in Jahrzehnten eigentlich gar nichts verändert – das ist eine total vergessene Ecke.“ Sie erzählt, dass ihr Mann schon als Kind im Diebsteichtunnel geböllert habe und „ungefähr 27.000-mal“ dort Filmteams gedreht hätten. Nun aber beginne der Wandel, im vergangenen Jahr wurde die Straße für neue Elektroleitungen aufgerissen, die Bauarbeiten dürften noch 2020 beginnen. Sie sieht die völlig Umgestaltung positiv: „Wir fühlen uns gut informiert.“ Natürlich werde die Bauphase nicht einfach, aber die Bahn rausche hier seit eh und je vorbei. „Wenn sie dann hier hält, ist das doch nur von Vorteil“, sagt sie. Und für den Friedhof ändere sich ohnehin nicht – der steht unter Denkmalschutz.

Der Friedhof Diebsteich, einer von drei Gottesäckern der evangelischen Kirche zwischen Holstenstraße und Stresemannstraße, ist eine Oase der Ruhe. Mächtige alte Bäume schirmen den Lärm des Alltags ab, alte Blutbuchen und Kiefern, Rhododendren und Taxus säumen den Weg. Für den Flaneur wird alles leiser, geht langsamer, wird ruhiger. Friedhöfe verkoppeln den Tod mit dem Leben, erzählen vergangene Geschichten und verweisen auf das Ende einer jeden Erzählung.

Idyll und Ödnis liegen nah neben­ein­ander

Grabsteine sind Stolpersteine, Frage- und Ausrufezeichen zugleich: „Rastlos tätig war Dein ganzes Leben, nur im steten Wirken fandest Du Genuss. Möge Gott Dir eine sanfte Ruhe geben. Und Erwachen wirst zur hohen Himmelslust.“ Auf dem Friedhof Diebsteich liegt auch ein Hamburger Held begraben – Günther Ludwig Stuhlmann. Er war für die Gründung der Altonaer Gas- und Wassergesellschaft verantwortlich, die den Menschen gereinigtes Elbwasser zur Verfügung stellte. Als 1892 in Hamburg die Cholera wütete, starben 8605 Menschen. Altona hingegen, damals noch eigenständig, wurde fast vollkommen verschont.

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Verschont würde der Wanderer heute gern von den Trassen, die Verkehrsplaner durch die Stadt geschlagen haben. Entlang der Scheußlichkeiten der autogerechten Stadt wandert es sich schlecht. Zweckbauten reihen sich an­ein­ander, auf der Straße dröhnt der Verkehr. Und das einzige Kleinod an der Kreuzung Schnackenburgallee/Holstenkamp wird bald verschwinden. Seit 1895 steht hier ein gründerzeitliches Doppelhaus mit Stuck. Es ist dem Untergang geweiht, die Fenster mit Spanplatten geflickt, Birken wachsen auf dem Dach. Es ist ein Jammer. Bloß weg hier, voran ins Grün der Gartengemeinschaft Kiesgrube.

Wie nah Idyll und Ödnis neben­ein­ander liegen, zeigen in Hamburg die Kleingärten. Eben noch stand ich an verkehrsumtosten, abgasgeschwängerten Straßen, schon wenige Meter weiter wird es grün und leise. Manche Parzellen reichen bis an die Hauptstraßen, doch die kleinen Wege durch die Schrebergärten führen in eine andere Welt, obwohl von oben die Flugzeuge lärmen und von Westen her die Autobahn monoton rauscht. Die Menschen stört es nicht, sie haben hier ihr Glück gefunden – auf wenigen Quadratmetern, in denen mehr Liebe steckt als in manchen Palästen. Blumen blühen in allen Farben, überraschend alte Bäume spenden Schatten, und überall stehen Spielgeräte: Trampoline, Schaukeln, Sandkisten – die Schreber haben den Generationswechsel geschafft, immer mehr junge Menschen drängen in das kleinen Glück.

Doch es ist ein Idyll mit Restlaufzeit. „Wir wissen nicht, wann, aber irgendwann werden wir unsere Parzellen räumen müssen“, sagt Monika Scholl, „Hamburg braucht Wohnraum.“ Ihr Garten sieht aus wie ein „Landlust“-Cover: Ein alter Pflaumenbaum, er mag an die 100 Jahre alt sein, darf in Würde sterben, drum herum explodiert das Leben in einem Farbrausch. „Da hängt die Seele drin“, sagt Scholl. Und das wirkt nicht aufgesetzt. Seit 43 Jahren beackert sie ihre Parzelle, schon ihre Schwiegereltern hatten in der Gartengemeinschaft Kiesgrube ihre Sommer verbracht, „Mein Mann fand es eigentlich spießig. Als wir vor 43 Jahren hier im strömenden Regen standen, sagte er: Das ist eine Baustelle fürs Leben.“ Es ist eine wunderschöne Baustelle des Lebens geworden. „Hier steckt so viel Herzblut und Geld drin“, erzählt sie. Ein Kleingarten sei ein Halbtagsjob, mindestens 25 Stunden in der Woche arbeite sie hier.

Kleingärtnerin Monika Scholl auf ihrer Scholle im Kleingarten Kiesgrube.
Kleingärtnerin Monika Scholl auf ihrer Scholle im Kleingarten Kiesgrube. © Matthias Iken

Aus den fünf Jahren Pacht wurden inzwischen mehrere Jahrzehnte: Die Tochter, die einst im Garten spielte, ist längst in die Pflege des Grüns eingestiegen. Scholl hat den Generationswechsel in der Nachbarschaft gesehen – es gibt ältere Semester, die noch mit der Schere die Rasenkanten stutzen, und jüngere Leute, die einen Wildgarten bevorzugen. Und die mittlere Generation, zu der sich Scholl zählt, habe es am liebsten bunt blühend. Die unterschiedlichen Einstellungen und Sichtweisen seien kein Pro­blem. „Wir sind eine nette Gemeinschaft, eine große Familie“, sagt sie. Aber eine, die bald umziehen muss. Irgendwann sollen die Kleingärten auf den dann fertig geteilten Deckel auf der Autobahn ziehen. „Ich weiß nicht, ob ich das noch kann und will. Dann bin ich fast 70“, sagt Scholl. Wer ihren Garten sieht, der kann sie verstehen.

325 Gärten sollen eines Tages auf mehr als 2,2 Kilometern Deckel zwischen Behringstraße und Holstenkamp Platz finden – 2026 könnte es so weit sein. Heute führen entlang der Autobahn nur vergessene Wege, die kein Wanderer sucht. Und auch kein Denkmalstürmer. Eine überdimensionale Opferschale an der Lutherhöhe erinnert an die Gefallenen des Krieges. Die Inschrift „Seid einig einig einig für uns“ erinnert nur im ersten Teil an Wilhelm Tell, der zweite kommt arg revanchistisch daher. 100 Jahre ist das Bahrenfelder Kriegerdenkmal alt. Heute feiert, davon zeugen leere Bierflaschen und Kippen, hier die Jugend. Vor einem guten Jahrhundert fiel sie in Europas Schützengräben. Ein Gruß an alle Nostalgiker, die von der guten alten Zeit schwärmen.

An der Lutherkirche hängt wie derzeit an vielen evangelischen Kirchen ein großes Spruchband: „Kraft. Liebe. Besonnenheit.“ Der Michel-Architekt Julius Faulwasser errichtete den Bau 1910, der Wanderer aber kann keinen Blick hineinwerfen. Wie offen ist eine Kirche, die ihre Tore verschließt? Oder fehlt es an Kraft und Liebe für die Suchenden, Fragenden, Gläubigen?

Direkt neben der Lutherkirche führt eine Brücke über die A 7 – seit bald 50 Jahren ist der Stadtteil geteilt. Die Autobahn ist ein umtoster Graben, ein stinkender Kanal, eine in die Stadtlandschaft gefräste Furche. Die hochgewachsenen Grünstreifen betonen das Trennende, die beiden Ufer der Autobahn kommunizieren nicht, sie wenden sich den Rücken zu – kennen sie sich überhaupt noch?

Bald soll hier Oxford sein, heute erinnert es an Tirana

Aus dem Lutherpark kommend, wirkt der Kielkamp mit manchem großen Gründerzeitbau überraschend städtisch. Im Jahr 2040 soll hier die Science City weit über die Stadtgrenzen hinaus strahlen. Die Trabrennbahn wird voraussichtlich 2023 aufgegeben und dann auf die Doppelrennbahn nach Horn ziehen. Dafür macht die Wissenschaft am Volkspark fest – als Innovationspark Altona sollen sich dort Start-ups und innovative Unternehmen niederlassen, insgesamt sind 2500 Wohnungen geplant. Universitätspräsident Dieter Lenzen sieht auf den 125 Hektar schon ein neues Oxford entstehen.

Derzeit wirkt es eher wie Tirana: Auf dem Parkplatz der Trabrennbahn ist ein Flohmarkt aufgebaut, auf dem es nur Krempel und Plünnen gibt. Dahinter weist der Weg ins Autokino – diese Vorhölle für Cineasten. Seit den 50er-Jahren sind die Regeln den meisten Kinobesuchern offenbar entfallen, sodass man sie bei der Einfahrt noch einmal präsentiert bekommt: „Autos nur zum Toilettenbesuch verlassen.“ Und: „Nicht hupen während des Films oder danach.“

Blick vom Bahnhof Diebsteich in Richtung Altona.
Blick vom Bahnhof Diebsteich in Richtung Altona. © Matthias Iken

Vom früheren Charakter einer Pferderennbahn ist derzeit nur wenig zu spüren – an der Seite zum Volkspark liegen die Ställe und ein paar Heuhaufen verlassen da. Ein verwaistes Wettbüro im Container könnte einen Fotoband über Lost Places in Hamburg schmücken. Über dem Ort liegt der Charme des Vergangenen wie Verblichenen.

Dahinter lockt der Volkspark. Er ist das Herz und die Lunge des einst selbstständigen Altona - die industriell geprägte Stadt galt neben Breslau einst als die am dichtesten besiedelte Großstadt im Deutschen Reich. Anders als andere Planer seiner Zeit gestaltete Gartenbaudirektor Ferdinand Tutenberg einen naturnahen Volkspark, den ausgedehnte Wälder schmücken, aber auch Gärten, Spielplätze und Freilichtbühnen. Tutenberg wollte „das Waldidyll wieder auferstehen lassen, das Sage und Dichtung preisen, das aber in der heutigen Kulturwelt fast ganz verloren gegangen ist“, schrieb er 1914. An machen Plätzen gelingt es. Ahorn, Birken, Kiefern und Linden versorgen den Wanderer mit frischer Waldluft. Würde hinter der Biegung ein See liegen, ich wähnte mich in Mecklenburg. Bis heute ist der Volkspark kein Park, sondern eine hügelige Wildnis und stellenweise ein wilder Wald, der der Natur überlassen ist. Und er ist überraschend einsam – vielleicht liegt es an der abseitigen Lage, dass viele Hamburger einen der schönsten Parks der Stadt nicht für sich entdeckt haben.

Der HSV zieht auch noch in Liga 2 – das liebevoll  gestaltete Museum des Vereins  besuchen jährlich 55.000 Fans.
Der HSV zieht auch noch in Liga 2 – das liebevoll gestaltete Museum des Vereins besuchen jährlich 55.000 Fans. © Matthias Iken

Am Ende des Waldes thront das Stadion, einem Schloss des Sportes gleich. Für die Zweite Liga ist es viel zu groß, geradezu überdimensioniert. Das Volksparkstadion mit seiner Alexander-Otto-Akademie, seinen Tausenden Parkplätzen ist der steingewordene Anspruch des HSV, unter Europas Spitzenvereinen mitzuspielen. Auch an diesem Montag warten schon mehrere Menschen, dass sich die Tore des HSV-Museums endlich öffnen. Auf 700 Quadratmetern kann man der grauen Realität in Liga 2 entfliehen zurück in die goldenen Ära, als der Hamburger Sportverein noch große Pokale gewann, spektakuläre Schlachten im Europapokal schlug oder mit Bayern München auf Augenhöhe stand.

Philipp Langer, der Pressesprecher des HSV, führt mich durch die besseren Zeiten. Seit 2015 arbeitet er für den Club mit der Raute. „Damals war ich kein Fan, aber ich habe mich schnell infiziert“, sagt er. „Angesichts der Nähe zu den Mitarbeitern, Spielern und Fans kann man gar nicht anders.“

Hoffnung! Ekstase! Zusammenhalt! Aggression! Leid! Jubel! Substantive künden von der Achterbahn der Gefühle, die jeder Fußballfan kennt. Der Besucher reist zurück an den Rothenbaum, als die Gäste noch VFB Oldenburg und Eintracht Nordhorn hießen, und entführt in die magische Nacht des 25. Mai 1983, als der HSV dank eines Tors von Felix Magath in Athen den Olymp des europäischen Fußballs erklomm. Eine Stadt im Taumel, nur der damalige Bürgermeister Klaus von Dohnanyi reagierte ganz cool: „Vielleicht schaffe ich es, zwischen zwei Terminen, die HSV-Mannschaft am Flughafen zu empfangen.“

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Die ausgestellten Pokale zeigen den Stolz des Vereins, aber auch überdimensionierte Silberkelche wie den Hafenpokal von 1979 oder den Peace-Cup aus Südkorea von 2012. „Je unbedeutender das Turnier, desto größer der Pokal“, sagt Langer und lacht. Wie wird der Aufstieg 2021 in der Ausstellung gewürdigt werden? „Erst mal müssen wir unsere Hausaufgaben machen, dann können wir über Vitrinen nachdenken.“ Die neue Bescheidenheit, sie steht dem HSV gut. Die alten Bücher verkünden noch, dass es mal anders war: „Die große Geschichte des HSV“ oder „Immer erste Klasse“.

Die HSV-Fankneipe am S-Bahnhof Stellingen heißt Unabsteig-Bar. Ein Zettel hängt im Fenster: „Im Juli haben wir zu“ – wahrscheinlich ein spontaner Beschluss, getroffen am Nachmittag des 28. Juni 2020, irgendwann zwischen dem 1:3 und dem 1:5 gegen Sandhausen.

Die Fanmeile zur S-Bahn wirkt dieser Tage eher wie ein Kreuzweg des Leidens als ein Laufsteg der Leidenschaft. Blau ist die zentrale Farbe – die Laternen strahlen blau, selbst Anrainer wie Otto Dörner oder Hamburg Wasser tragen die HSV-Farben. Es ist ein blau-weißes Land. An den Abfalleimern kleben die Signets der Fanclubs und manche lausigen Botschaften der Ultras. Das obligatorische 1312, Chiffre für „All Cops are Bastards“ – frei übersetzt „Alle Bullen sind Schweine“ – verbreitet den üblichen Hass, an den sich zu viele längst gewöhnt haben. Vielleicht ist 1312 ja einfach pubertäre Halbstarkenangeberei; vielleicht aber wirkt es auch wie ein Säurebad, das eine demokratische Gesellschaft langsam zersetzt.

In Stellingen höre ich nicht nur die Nähe zur Autobahn, ich sehe, fühle, schmecke sie. Zwischen den sozialen Wohnungsbauten der 60er-Jahre mischen sich mehr und mehr Gewerbebetriebe und Industriehallen. Inmitten von Messebauern, Farbenhandel und Schlosserei liegt die Kirche der Arche, eine evangelisch-reformierte Freikirche. Wohnt Gott jetzt im Gewerbegebiet? Ein paar Hallen weiter weisen Hinweisschilder auf Deutsch, Englisch, Polnisch und Russisch Lkw-Fahrern den Weg. Vom alten Traumjob des Truckers ist in Zeiten des Just-in-time wenig geblieben. Die Könige der Landstraße sind abgestiegen zum Prekariat der Autobahn. Sie bilden jetzt auf der rechten Spur einen Lindwurm, der sich bis zum Elbtunnel und darüber hinaus erstreckt.

Der Autobahndeckel wertet einen ganzen Stadtteil auf

An der Auffahrt Stellingen liegen Vergangenheit und Zukunft dicht beieinander. Gen Süden führt eine Autobahn, wie wir sie kennen. Gen Norden aber sind alle Spuren unter einem schicken Betondeckel verschwunden.

Wo ich jetzt stehe, rollten früher Autos. Nun reicht eine seltsame Landschaft, die wie eine gigantische Skaterbahn mit Rampen und Hindernissen wirkt, bis zum Horizont. Noch stehen auf der weiten Fläche Bauschuttcontainer, parken Autos und liegen Betonträger herum.

Ende des Jahres soll auch die zweite Röhre des A-7-Deckels fertig sein, dann verändert sich die Stadt. Erst werden etwa 120 Zentimeter Erde aufgebracht, dann kommen die Gärten und die Gärtner: In wenigen Monaten soll auf diesem Abschnitt in Stellingen auf knapp 900 Metern Grün wachsen. Im Süden werden auf 15.900 Quadratmetern neue Kleingärten sprießen, nördlich davon entsteht ein Park mit neuen Wegen für Radfahrer und Fußgänger. Mehr als 150.000 Autos donnerten hier täglich an den Häusern entlang, mitunter schienen sie fast durch die Wohnzimmer zu fahren. Nun ist Ruhe. Endlich.

Der Autobahndeckel in Stellingen sorgt bald für Ruhe am Imbekstieg.
Der Autobahndeckel in Stellingen sorgt bald für Ruhe am Imbekstieg. © Matthias Iken

Mandy Güssmann lebt seit 17 Jahren in einer der Wohnungen am Nienredder, gleich bei der Autobahn. „Es ist wirklich viel ruhiger geworden“, freut sie sich schon jetzt. Lange hatte sie versucht, sich an den Krach zu gewöhnen: „Wenn der Verkehr floss, war es ein gleichmäßiges Summen. Schlimmer waren die Staus – das Abbremsen, Anfahren und Hupen“, erzählt sie. „Und der Verkehr hat ja immer weiter zugenommen.“

Die Bauarbeiten seien mitunter anstrengend gewesen, aber auch faszinierend. „Ich hätte den Bauarbeitern aus meiner Wohnung den Kaffee reichen können“, erzählt sie. Das Einsetzen der provisorischen Brücke über den Wördemanns Weg war ein besonderes Spektakel. „Da haben wir bis zwei Uhr nachts zugeschaut“, sagt sie.

Auf das Hotelzimmer, das die Stadt den Anwohnern damals angeboten hatte, verzichtete sie. Überhaupt habe die Deges, die Deutsche Einheit Fernstraßenplanungs- und -bau GmbH, die Anwohner sehr gut informiert. „Es gab gute Anwohnerveranstaltungen und Infozeitungen“, erzählt sie. „Und wir durften vor der Freigabe des Verkehrs sogar in den Tunnel.“ Auch die leichten Schäden an den Häusern seien regelmäßig aufgenommen worden. „Die Lebensqualität in Stellingen steigt“, freut sich Güssmann. „Jetzt brauchen wir nur noch etwas gegen Fluglärm.“

Am Imbekstieg verläuft die Autobahn direkt hinter den Reihenhäusern aus den 50er-Jahren. Die Häuslebauern bauten einst im Grünen – bis die Autobahn kam und sich immer weiter in ihre Gärten fraß. Nun haben sich die Bürger einen Traum verwirklicht – als sie sich 2005 mit dem Wunsch nach einem Deckel an die Politik wandten, winkte diese verständnislos ab. Wenige Jahre später feierten sich die Entscheider dann selbst für das Jahrhundertprojekt.

Der Volkspark Altona ist ein etwas vergessenes Kleinod der Stadt: Der Dahliengarten lockt mit 600 verschiedenen Arten und insgesamt mehr als 11.000 Einzelpflanzen. Nun beginnen die ersten Dahlien zu blühen.
Der Volkspark Altona ist ein etwas vergessenes Kleinod der Stadt: Der Dahliengarten lockt mit 600 verschiedenen Arten und insgesamt mehr als 11.000 Einzelpflanzen. Nun beginnen die ersten Dahlien zu blühen. © Matthias Iken

Aber das ist es ja auch: 300 Millionen Euro fließen in die Wiedervereinigung der Stadt – und die Umsetzung einer Idee des legendären Altonaer Baumeisters Gustav Oelsner, mit rund 100 Jahren Verspätung. Der wollte schon damals einen Grüngürtel vom Altonaer Volkspark bis an die Elbe verwirklichen. Wer hier entlangbummelt, sieht: Der Traum geht sogar weiter. In wenigen Jahren können Stadtwanderer von der Elbe durch die Natur bis zum Niendorfer Gehege wandern.

Der Stellinger Deckel reicht bis zum Kollauwanderweg. Am Kollenhof beginnt die Stadt ins Umland auszufasern, ein paar Einfamilienhäuser kommen noch – und dann nichts mehr. Es ist eine Stadt im Übergang: Der Zivilisationsmüde mag sich über Hochspannungsmasten ärgern oder die Autobahn, die 400 Meter entfernt brummt, summt, nie verstummt. Der Naturfreund hingegen erfreut sich an bunten Wiesen mit Blau, Rot, Gelb und Weiß, mit Kornblumen Mohn, Schafgarbe und Soldatenknöpfen.

Rechts vom Weg dümpelt bald die Kollau, links spannt sich ein norddeutscher Himmel über weitläufige Weiden. Der Amtsschimmel droht auf großen Schilden Mopedfahrern – und auch E-Bikern? „Befahren mit motorisierten Fahrzeugen und Reiten ist strengstens verboten“, heißt es da in großen Lettern. Um dann gleich die Luft aus der Drohung abzulassen: „… und wird als Ordnungswidrigkeit verfolgt.“ Hier wirkt Hamburg nicht wie Deutschlands zweitgrößte Metropole, sondern wie ein norddeutsches Kuhdorf.

Einige Hundert Meter später stehe ich im Wald – dem wunderschönen Niendorfer Gehege. Das verdiente Abschiedsbier verweigert mir Corells Waldcafé: Montags ist Ruhetag. Also setze ich mich auf eine Bank im Wald, lasse die neuen Eindrücke, die neuen Bilder, die neuen Gedanken Revue passieren und löse auch noch das Rätsel der Präsident-Krahn-Straße – Carl Krahn war Präsident der preußischen Eisenbahndirektion Altona von 1884 bis 1894. Wandern macht den Kopf frei, es gibt dem Denken neue Impulse – und es verändert den Blick auf die eigene Stadt: Hamburg ist eine Stadt der Baustellen und zugleich eine Metropole, die immer grüner wird. Wer kann das schon über sich behaupten?