Hamburg. Der Ökonom lag selbst mit Covid-19 auf der Intensivstation. Hier spricht er über die Krankheit und die Pandemie-Folgen für den Verkehr.

Die Corona-Krise ändert vieles – unsere Art zu leben, unsere Wirtschaft, unsere Innenstädte, die Mobilität und unsere Kultur. In dieser Interviewreihe sprechen wir über Chancen und Risiken dieses Wandels. Wolfgang Maennig (60) forscht und lehrt als Volkswirt und Verkehrsexperte an der Universität Hamburg. Im Gespräch beschreibt der Ruder-Olympiasieger von 1988, wie die Corona-Pandemie in den kommenden Jahren den Verkehr in der Hansestadt verändern wird und wie wir langfristig umdenken müssen.

Sie waren selbst mit dem Coronavirus infiziert. Wie haben Sie die Krankheit erlebt?

Prof. Wolfgang Maennig: Ich hatte es unterschätzt. Zuerst hat sich meine Frau angesteckt. Sie singt im Dom-Chor in Berlin, da haben sich im März von den 80 Sängern rund 60 infiziert. Als sie mit 39 Grad Fieber im Bett lag, dachte ich zuerst an eine normale Grippe. Wir fanden keinen Arzt, der sie testen wollte, denn das Testmaterial war zu dieser Zeit äußerst knapp. Schließlich hat ein befreundeter Arzt uns an den Hinterausgang seiner Praxis bestellt und einen Rachenabstrich genommen. Ich habe sie in unserem Kleinwagen hingefahren – vermutlich habe ich mich auf dieser Fahrt angesteckt.

Wie ging es weiter?

Auch als ich schon infiziert war, dachte ich, Corona wäre halt eine etwas schwerere Grippe, und hatte es immer noch nicht so ernst genommen. Ein anderer befreundeter Arzt besuchte mich und hatte ein Sauerstoffsättigungsmessgerät dabei. Das war mein Glück, denn die Sauerstoffsättigung war bei mir schon stark gesunken, das habe ich selbst gar nicht bemerkt. Ich kam dann sofort ins Krankenhaus und musste nach einer Woche auf die Intensivstation verlegt werden – dort blieb ich zwei Wochen lang. Das war eine Erfahrung, die niemand braucht.

Noch etwas anderes hat mir zu denken gegeben: Ich hatte damals gelesen, dass das Medikament Remdesivir gut hilft, aber in der Charité, wo ich behandelt wurde, wollte man mir es nicht geben. Es hieß: Dazu gibt es noch nicht ausreichend Studien. Heute wird es überall eingesetzt und hätte wohl auch meinen Krankenhausaufenthalt verkürzen können. Die Mediziner und Pharmakologen sind stark vom Contergan-Skandal geprägt und deshalb verständlicherweise vorsichtig mit neuen Therapien. Anders in der Wirtschaftspolitik: Hier werden sehr schnell Instrumente eingesetzt gegen die Folgen von Corona – ganz ohne Studien. Aber da sind wir schon mitten in der Wirtschaftspolitik.

Und nähern uns unserem Thema. Wie wird Corona den Verkehr in Hamburg verändern?

Das hängt davon ab, welches Szenario man für realistisch hält. Gehen wir einmal davon aus, dass wir in einem halben oder Dreivierteljahr Impfstoffe und Medikamente haben und Corona medizinisch so unter Kontrolle kommt wie andere Krankheiten. Dennoch wird Corona unsere Denkstrukturen noch eine ganze Weile beeinflussen. Die Wahrnehmung einer Gefahr, sich in engen Räumen und größeren Gruppen anstecken zu können, hat sich bei vielen eingebrannt. In der Ökonomie sprechen wir bei dauerhaften Änderungen der Denk- und Handlungsmuster von persistentem Verhalten. Der öffentliche Nahverkehr und der Flugverkehr werden es deshalb in den kommenden Jahren schwer haben – ebenso wie beispielsweise größere Warenhäuser.

2019 verzeichnete die Hochbahn einen neuen Höchststand an Fahrgästen in Bussen und Bahnen. Corona ließ die Zahlen im März dann schlagartig auf 30 Prozent sinken, sie erreichten auch im Juni nur 60 Prozent. Es wird also dauern, bis der öffentliche Nahverkehr diese Fahrgäste zurückgewinnt und auf den alten Stand kommt?

Ja, das wird dauern. Vielleicht zwei Jahre oder drei, vielleicht fünf Jahre. Um auf die alten Entwicklungspfade zu kommen, muss sich in den Köpfen der Menschen die alte Denk- und Informationsstruktur wiederherstellen.

Schlechte Aussichten also für die Hochbahn.

Ja, wenn sie es nicht schafft, die Vorbehalte der Menschen durch eine neue Politik zu überkompensieren – also beispielsweise durch innovative Angebote und attraktive Preise. Oder wenn die Politik nicht andere Verkehrsträger negativ diskriminiert, also beispielsweise den Bann von Dieselfahrzeugen auf die ganze Stadt ausweitet. Klar ist: Der HVV braucht, um schnell auf den alten Wachstumspfad zurückzukommen, zusätzliche offensive Maßnahmen.

Würden Sie sagen, dass Corona die Verkehrswende beschleunigt oder eher ausbremst?

Auf jeden Fall hat Corona den relativen Anteil des Individualverkehrs gefördert. Teilweise sind Menschen von Bus und Bahn wieder auf das eigene Auto umgestiegen. Nach meiner Beobachtung gab es in Großstädten wie Hamburg aber auch ein Ausweichen in Richtung Fahrrad. Und es wurden erstaunlich schnell neue Radwege geschaffen. Insofern gibt es Anzeichen dafür, dass Corona die Verkehrswende auch beschleunigen könnte. Bei den Sharing-Angeboten ist die Datenlage noch dünn, aber ich würde erwarten, dass auch sie unterm Strich eher profitieren.

Wenn Menschen – angesichts von mehr Homeoffice und steigenden Mieten – vermehrt aufs Land ziehen, was bedeutet das für den Verkehr? Wie müssen sich die Angebote darauf einstellen?

Corona dürfte in der Tat dazu führen, dass die durchschnittlich nachgefragte Quadratmeterzahl pro Kopf – in Hamburg rund 35 Quadratmeter – steigt. Die Menschen legen verstärkt Wert auf einen Balkon oder Garten, sie brauchen eine größere Wohnung, weil diese auch Platz zum Homeworking bieten muss. Aufgrund des begrenzten Wohnraums in der Stadt wächst der Druck, an den Stadtrand oder ins Umland zu ziehen. Allerdings werden die potenziell Umziehenden oft von dem abgeschreckt, was Ökonomen Raumüberwindungskosten nennen. Bei deren Überwindung spielt der ÖPNV eine große Rolle: Zusätzliche Verkehrsangebote werden insbesondere in den Umland- und Randgebieten benötigt, die bisher nicht besonders gut angebunden sind. Schienengebundene Verkehrssysteme allein werden dies nicht schaffen. Sinnvoll könnte eine Kombination mit Sharing-Angeboten für „die letzte Meile“ von der Haltestelle der Bahn bis nach Hause sein.

Warum?

Der Bau von schienengebundener Verkehrsinfrastruktur ist besonders teuer und lohnt sich nur langfristig. Die Hamburger S-Bahn ist über 100 Jahre alt, und auch die Schieneninfrastruktur, die wir jetzt bauen, ist für die kommenden 100 Jahre gedacht – mindestens. Alle Bevölkerungsvorausberechnungen für Deutschland gehen aber von einer schrumpfenden Bevölkerung aus, und auch Hamburg dürfte langfristig keine wachsende Stadt bleiben. Wir würden also für teures Geld schienengebundene Verkehrssysteme bauen für eine Zeit mit einer kleineren Bevölkerung. Und für eine Bevölkerung, die unter Umständen ein anderes Mobilitätsverhalten hat als heute.

Also kann man sich das sparen?

Nicht ganz, aber wir müssen flexibler denken. Ich komme immer wieder auf die nach meiner Ansicht bei Weitem nicht ausgeschöpften Potenziale der Sharing-Economy. Diese entspricht auch viel mehr der Lebenswelt junger Leute. Beispiel: Ich frage seit 20 Jahren in meinen verkehrswissenschaftlichen Seminaren: Wer hat einen Führerschein? Früher meldeten sich dann praktisch alle Studenten, heute sind es deutlich weniger. Und ein eigenes Auto war für mich, als ich 18 Jahre alt war, ein wichtiges Zeichen von Freiheit. Das ist heute bei vielen jungen Leuten „old school“ oder „Achtziger“. Ein Student sagte mir einmal: Wenn er heute beim ersten Date mit seinem eigenen VW Golf vorfahre, habe er schon verloren. Es sollte besser ein Carsharing-Auto sein, das ist viel moderner. Sharing-Angebote gibt es prinzipiell genug – beispielsweise Moia-Busse, auszuleihende E-Roller, Stadträder oder eben Carsharing. Aber leider fast nur im Stadtzen­trum. Was wir angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung mit veränderten Verkehrsverhalten brauchen, ist eine Ergänzung des Schienenverkehrs durch diese flexiblen Verkehrsmittel, insbesondere auch in den dezentralen Lagen.

Hamburg gönnt sich noch eine neue U-Bahn, die 2035 fertig werden soll. Eine Fehlinvestition?

Nein, weil nicht nur verkehrspolitische, sondern auch stadtentwicklungspolitische Überlegungen eine Rolle spielen. Die neue U-Bahn soll Teile Hamburgs anbinden, die bisher nicht gut zu erreichen sind. Auch eine bessere Anbindung der Stadtteile südlich der Elbe ist wichtig, um diese besser in das Stadtgefüge zu integrieren.

Ist der von Bürgermeister Tschentscher angekündigte Hamburg-Takt – also, dass jeder Hamburger binnen fünf Minuten ein öffentliches Verkehrsmittel erreichen soll – noch realistisch und sinnvoll?

Wenn jeder Hamburger innerhalb von fünf Minuten ein Verkehrsmittel erreicht, dann ist das gut, aber es muss nicht unbedingt ein öffentliches sein. Ich denke, der HVV wäre gut beraten, wenn er nicht jeden abgelegenen Winkel versucht, durch eine Bahn oder einen Bus zu erreichen. Sinnvoller wäre die Anbindung durch eine Ergänzung in Zusammenarbeit mit Privaten durch Sharing-Angebote. Das ist im Moment das Paradoxe: Moia-Busse fahren vor allem in der Innenstadt, auch Carsharing-Angebote gibt es kaum an der Peripherie, wo sie eigentlich für „die letzte Meile“ gebraucht würden. Das kann der Markt allein nicht regeln, denn die Nutzungsfrequenz ist am Stadtrand zu gering, als dass sich das für die Anbieter lohnen würde. Der HVV selbst und die Stadt müssten ein Interesse daran haben, die Gebiete, in denen es einen besonderen Bedarf gibt, auszuschreiben und Anbieter mit dem geringsten Zuschussbedarf zu finden, damit an allen S- und U-Bahn-Endhaltestellen immer eine gewisse Mindestzahl von E-Rollern, Stadträdern oder Carsharing-Smarts stehen. Der HVV könnte sich an der Subventionierung beteiligen, weil diese Lösung im Endergebnis dazu führen müsste, dass auch Busse und Bahnen mehr genutzt werden.

Wird es in zehn Jahren mehr oder weniger Autos in Hamburg geben?

Auch wenn junge Leute weniger Autos nutzen, ist die Zahl der Zulassungen in Hamburg weiter gestiegen. Das liegt an der bislang wachsenden Bevölkerung und an der steigenden Tendenz zum Zweitwagen. Für die Parkplatzsituation ist dies problematisch. Noch relevanter für das Verkehrsgeschehen ist aber die Gesamtzahl der gefahrenen Kilometer, und hier macht die Tendenz zur Nutzung von Fahrrädern und E-Rädern für größere Distanzen Hoffnung.

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Zum Schluss ein Blick in die Glaskugel: Wie sieht der Verkehr in 30 Jahren aus?

Das hängt maßgeblich von den politischen Mehrheiten ab. Hamburg wird rot-grün regiert und schiebt im Moment einen grundlegenden Umbau zugunsten des Fahrradverkehrs an. Wahrscheinlich werden wir in 30 Jahren mehr Radverkehr haben, keine Verbrennungsmotoren mehr und viel Carsharing, womit die Parkplatzproblematik entschärft würde. Und die Autos werden autonom fahren. Tesla will seinen Kunden anbieten, dass es die Autos gleich mitvermarktet. Das heißt: Tesla-Kunden fahren mit ihrem Auto zur Arbeit, ganz traditionell. Dann bringt der Wagen autonom andere Fahrgäste an ihr Ziel, und wenn der Tesla-Fahrer um 17 Uhr wieder nach Hause will, steht das Auto bereits frisch aufgeladen vor seinem Büro. Und in der Zwischenzeit hat der Tesla-Eigner Geld damit verdient – das ist die Vision.