Hamburg. Bei Deutschlands größtem Versandhändler ist die Personalvorständin für den Corona-Schutz der Mitarbeiter zuständig.

Bei Otto gibt es einen Termin, den alle Mitarbeiter fest im Kalender haben. Das Town-Hall-Meeting, wie sie die Betriebsversammlung bei Deutschlands größtem Onlinehändler nennen, findet einmal im Monat immer an einem Freitag statt. Normalerweise stehen dann die vier Bereichsvorstände in der Zentrale in Bramfeld vor mehreren Hundert Menschen und berichten über das aktuelle Geschäft, geben Hintergrundinformationen zur weiteren Entwicklung und beantworten Fragen.

In Zeiten von Corona geht das natürlich nicht. Seit März ist die Veranstaltung deshalb ins Internet verlagert worden. Funktioniert auch, ist aber anders. „Am Anfang habe ich mich wie eine ,Tagesschau‘-Sprecherin gefühlt“, sagt Katy Roewer. Sie lacht ein bisschen. Kameras statt Gesichtern. Wie soll man da wissen, ob gerade positive Energie herrscht oder dicke Luft? „Der Kontakt zu Menschen ist mir wichtig. Das habe ich in den vergangenen Monaten am meisten vermisst“, sagt die Otto-Vorständin für Service und Personal.

Mehr Mitarbeiter sollen jetzt zurück ins Büro kommen

Bei Otto hat Anfang der Woche die Phase M angefangen und damit die zweite Stufe des Rückkehrprogramms in die Arbeitsnormalität für die 4900 Beschäftigten in Hamburg. M steht für Medium (mittel). „Wir wollen jetzt mehr Mitarbeitern einen Mix aus mobilem Arbeiten und Präsenz im Büro ermöglichen“, sagt Roewer. Dann können bis zu 50 Prozent der Beschäftigten auf den Campus zurückkehren. Die Phase vorher hieß S – wie small (klein). Ob die große Lösung, L wie large, bald kommt, ist angesichts der steigenden Corona-Fälle in Hamburg nicht vorhersehbar.

Es gehört zu Roewers Job, das irgendwann mitzuentscheiden. Die 45-Jährige ist als Leiterin des Krisenstabs Ottos Frau für Corona. Schon Mitte Fe­bruar ging es los. „In der Hochphase haben wir uns per Videoschalte täglich getroffen. Siebenmal die Woche“, sagt Roewer, die auch die einzige Frau im vierköpfigen Vorstand der deutschen Amazon-Alternative ist – mit einem Teilzeitvertrag. „Im Prinzip ist man vorbereitet auf die Rolle und auch auf die Arbeitsabläufe. Aber es ist eben was anderes, wenn es plötzlich nicht um Hackerangriffe oder Ähnliches geht, sondern um die Gesundheit der Mitarbeiter.“

Ihr freier Tag am Montag fiel ebenfalls erst mal aus. Jetzt sitzt Katy Roewer in einem Konferenzraum im sechsten Stock eines Bürogebäudes auf dem weitläufigen Otto-Campus mit Blick über Hamburg. In den vergangenen Jahren hat der Handelskonzern angefangen, die in die Jahre gekommenen Räumlichkeiten in moderne Arbeitswelten umzubauen. Mobiles Arbeiten ist schon länger ein Thema bei dem Versender mit einem Jahresumsatz von 3,5 Milliarden Euro und 7,5 Millionen Kunden. Jetzt sind die Flure leer, die schicken neuen Arbeitsplätze verwaist.

Corona ging auch Roewer an die Substanz

Roewer legt zwei Mobiltelefone auf den Tisch. Das blaue Jackett hat sie zugeknöpft, dazu hat sie enge Jeans und Sandalen mit hohen Absätzen an. „Die trage ich das erste Mal seit Monaten“, sagt sie. Auch Roewer hat wochenlang ausschließlich von ihrem Haus in Rahlstedt aus gearbeitet, wo sie mit Ehemann Michael, dem sechsjährigen Sohn und ihrer Mutter lebt.

Mit dem Laptop auf dem Schminktisch im Schlafzimmer steuerte die Topmanagerin Otto durch die Krise. „Acht Wochen lang bin ich praktisch nicht rausgekommen“, sagt Roewer. „Das ging ganz schön an die Substanz.“ Aber es ist gut gelaufen. Die Vorständin klickte sich von morgens bis abends von einer Videokonferenz zur nächsten. Ab und zu kam ihr Sohn vorbei, um ein neues Bild zu zeigen oder einfach nur mal auf Mamas Schoß zu krabbeln – natürlich auch mal bei laufender Kamera. Der ganz normale Corona-Alltag wie bei vielen anderen Familien im Land.

3 Fragen:

  • 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre? Ich möchte genug Zeit für uns als Familie haben, meinen Sohn gut bei seinem Schuleinstieg unterstützen und ihn in seiner weiteren Entwicklung begleiten. Und eigentlich möchte ich auch noch gern zusammen mit meinem Mann und meinem Sohn die Alpen überqueren ...
  • 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen möchte ich Otto zu einer nachhaltig erfolgreichen Plattform transformieren und die Mitarbeiterzufriedenheit weiter steigern.
  • 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Dass Hamburg eine weltoffene, vielfältige, bunte Stadt bleibt, die allen Menschen ein sicheres Zuhause bietet – unabhängig von Lebenseinstellung, individuellem Hintergrund, sozialer Herkunft oder auch sexueller Identität.

„Vor allem junge Mitarbeiter haben mir hinterher erzählt, dass sie froh waren, mitzubekommen, dass es mir genauso geht wie ihnen“, sagt Katy Roewer. Sie hat das nicht geplant, aber so, wie sie es gemacht hat, war es eine Ermutigung für andere – man könnte auch sagen: ein Vorbild. Sie selbst würde das nie so ausdrücken. Ihr Ehemann brauchte eben den großen Tisch für seine Arbeit, weil er als Controller mit mehr Bildschirmen hantieren muss. Im Rest des Hauses verbrachten Sohn und Oma die Tage, als die Kita wochenlang dicht war. Keine einfache Situation. Aber einen Grund, sich zu beschweren, habe sie nicht, sagt sie. „Mich hat immer das gereizt, was mit mehr zu tun hat.“

Viertagewoche war eine Bedingung für die Zusage

Als erste Chefin in Teilzeit hat Katy Roewer in den vergangenen Jahren gezeigt, dass sich Beruf und Familie auch auf höchster Führungsebene vereinbaren lassen. Die Betriebswirtin, die in Bremen und Marseille studiert hat, war 2001 als Controllerin zu Otto gekommen. Dort war sie schnell in eine Führungsposition aufgestiegen.

2015, Roewer war gerade aus der sechsmonatigen Elternzeit zurück, bot ihr der Konzernvorstand der Otto Group, Alexander Birken, überraschend die Position als Bereichsvorständin an. Roewer erbat sich einige Tage Bedenkzeit, dann stellte die frischgebackene Mutter eine Bedingung. „Wenn ich zusage, möchte ich bis auf Weiteres vier Tage in der Woche arbeiten. Nur so kriegst du mich.“ Seitdem hat sie montags frei. „Der Tag ist mir heilig. Da bin ich mit meinem Sohn zusammen.“

Ein Jahr habe es gedauert, bis sich alles organisatorisch eingespielt habe. Und ja, natürlich müssten Frauen in Teilzeit immer noch besonders effektiv sein. Auch sie ist auch am Montag für ihr Team erreichbar und schaltet sich bei wichtigen Konferenzen zu. „Das ist – bis auf die Corona-Zeit – allerdings nicht die Regel.“

Karriereweg der Topmanagerin hat auch mit ihrer Kindheit in der DDR zu tun

Der Karriereweg der Topmanagerin hat auch mit ihrer Kindheit in der DDR zu tun. „Meine Eltern haben immer beide gearbeitet“, sagt Katy Roewer, die mit ihrer jüngeren Schwester in einem Dorf bei Neubrandenburg aufgewachsen ist. Die Mutter als Laborantin, später in der Buchhaltung, der Vater war viel auf Montage unterwegs. Nach der Wiedervereinigung gründeten die beiden gemeinsam eine Baufirma. „Ihre Ehe war gleichberechtigt. Die typischen Mann-Frau-Unterschiede habe ich nicht erlebt – außer dass mein Vater nicht so gut kocht.“ Dagegen bekam sie die Unterdrückungsmechanismen in der DDR mit, das Gefühl, eingeschlossen zu sein. Vor allem ihr Großvater sei jemand gewesen, der sich nicht habe den Mund verbieten lassen. „Das hat mich geprägt“, sagt sie. In der Schule belegte sie das Sprachprofil, bei dem man neben Russisch auch Französisch lernte.

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    Bei der Wiedervereinigung 1989 war sie 14 Jahre alt. „Ich wusste, dass ich raus wollte: aus dem Dorf, aus dem Land, in die weite Welt.“ Das hat die Frau, die sich als gradlinig beschreibt, durchgezogen. Studium in Bremen und Marseille, Jobs in Berlin und Hamburg. „Ich wollte immer etwas machen, das ich auch gut finde“, sagt Katy Roewer, die sich selbst einen „gewissen Ehrgeiz attestiert“. Dabei habe sie ihre beruflichen Stationen nicht strategisch geplant – schon gar nicht den Wechsel in die Otto-Unternehmensleitung. „Reine Macht begeistert mich nicht, es muss Verantwortung dazukommen.“

    Für Otto sieht Roewer die Situation optimistisch

    Seit ihr Sohn auf der Welt ist, haben sich ihre Prioritäten noch mal kräftig verschoben. Es ist ihr wichtig, möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Dass sie am Tag seiner Einschulung Anfang August freinimmt, war keine Frage. Um 10 Uhr stand sie wie alle anderen Mütter und Väter bei einer Feierstunde in der Schule. „Das ist ein Meilenstein.“ Danach gab es eine Grillparty im Garten – wegen der Corona-Beschränkungen im engsten Kreis. „Ich mache mir viele Gedanken darüber, was Corona mit den Kindern macht“, sagt Katy Roewer.

    Anfangs habe ihr Sohn es noch genossen, dass Mama und Papa immer da gewesen seien und es sogar ein neues Trampolin für den Garten gab – natürlich bei Otto bestellt. Aber dann sei die Angst gekommen, dass es nie wieder so wird wie früher. „Wie stark lässt die Gesellschaft Kinder spüren, dass sie ein Risiko sind?“, fragt Roewer. Das sei besonders zu Schuljahresbeginn ein Thema. „Die Kinder haben ein Recht auf Bildung. Das muss die Politik ermöglichen.“

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    Für das Unternehmen sieht sie die Situation optimistisch. Otto komme gut durch die Krise. Nachdem in den ersten Monaten die Gesundheit im Mittelpunkt gestanden habe, seien Themen wie Lieferengpässe und das veränderte Kaufverhalten in den Mittelpunkt der Arbeit im Krisenstab gerückt. „Die Kunden haben vor allem ihre Büros und Küchen ausgestattet“, sagt Roewer. Alles rund um Garten und Heimwerken stand auf den Einkaufslisten – und Nähmaschinen. Dafür blieben auch bei Otto die Frühjahrs- und Sommerkollektionen liegen. Inzwischen hat der Onlinehändler mit Rabattaktionen den Verkauf angekurbelt.

    Roewers wichtigste Aufgabe in den nächsten Wochen ist, die neue Normalität in dem Unternehmen zu gestalten. Wenn alles läuft, wie geplant, gehört dazu auch der Umzug in die umgebaute Konzernzentrale in gut einem Jahr. Dann sollen auch die Chefs keinen eigenen Schreibtisch mehr haben. „Da sehe ich keine Probleme“, sagt Roewer nach ihren Erfahrungen der vergangenen Monate. Und wo stellt sie dann die Fotos von Mann und Sohn hin? „Ich hoffe, dass ich auf dem Arbeitstisch einer unserer Assistentinnen, Platz dafür bekomme“, sagt sie und lacht. Und irgendwann soll es dann auch wieder Town-Hall-Meetings geben, bei denen sich alle wiederbegegnen – in echt und nicht im Netz.