Hamburg . Noch keine Reaktion auf überfüllte Party-Meilen. CDU fordert scharfe Kontrollen. Jugendpsychiater plädiert für Streetworker

Für alle, die in großer Sorge vor einer zweiten Corona-Welle leben, waren es bedenkliche Bilder: Wahre Massen von jungen Menschen feierten am Wochenende auf St. Pauli, ebenso wie zum wiederholten Male im Schanzenviertel (das Abendblatt berichtete gestern). Allein auf dem Kiez waren 50 Polizisten damit beschäftigt, die Situation einzudämmen. Trotz scharfer Kritik an „leichtsinnigem und gefährlichem Verhalten“ reagieren die Bezirksämter jedoch zurückhaltend. Experten bezweifeln unterdessen, dass sich die Hygieneregeln nur mit restriktiven Maßnahmen durchsetzen lassen.

Die Bilanz der Polizei lautete am Montag eindeutig, dass der Mindestabstand vielerorts nicht mehr eingehalten worden sei. Auf St. Pauli wurde es in der Nacht zum Sonntag so eng, dass die Beamten die Große Freiheit zweimal für etwa eine halbe Stunde schließen mussten. Der Club Noho am Nobistor musste ganz schließen, weil die Menschen in der Disco ausgelassen tanzten. In der Sternschanze wurden einer Shisha-Bar und einem Kiosk durch Beamte vor Ort der Verkauf von Alkohol untersagt. Gegen beide Besitzer sowie den Club-Betreiber wurde Anzeige wegen Ordnungswidrigkeiten gestellt.

Polizei musste Disco auf dem Kiez schließen

Die polizeilichen Maßnahmen hätten sich nicht gegen Einzelpersonen gerichtet, so Polizeisprecher Holger Vehren. „Wir haben keine Platzverweise ausgesprochen.“ Allerdings wurde eine Person auf St. Pauli in Gewahrsam genommen. „Wir hatten am Sonnabendabend auf dem Kiez einen Zustrom von etwa 25.000 Menschen“, sagt Vehren. Im Vergleich: Im vergangenen Sommer waren es gern mal 50.000 Menschen. An jederzeit eingehaltenen Mindestabstand ist aber auch bei dieser reduzierten Zahl nicht ansatzweise zu denken.

Die Corona-Auflagen erlauben zudem, dass sich derzeit Gruppen von zehn Personen aus zehn Haushalten im Freien aufhalten dürfen. Das Problem, vor dem die Beamten stehen: in der Masse zu erkennen, wer die elfte Person der Runde ist. Für das kommende Wochenende will die Polizei die gleiche Strategie fahren: Präsenz zeigen und wenn nötig, als letztes Mittel einzelne Alkoholverbote aussprechen. Wie viele Beamte eingesetzt werden, hänge auch vom Wetter ab.

Während die CDU schärfere Kon­trollen fordert, zögern die zuständigen Bezirksämter Mitte und Altona am Montag noch. Man befinde sich im „behördlichen Austausch“, hieß es auf Abendblatt-Anfrage. „Wir schauen noch, welche Maßnahmen wir ergreifen“, so eine Sprecherin des Bezirksamtes Mitte. Das sei von mehreren Faktoren wie dem Wetter abhängig. Man wolle „verhältnismäßig“ reagieren. Ein Alkoholverbot ist für das kommende Wochenende für den Kiez ist nach aktuellem Stand nicht geplant.

Die Szenen vom Wochenende bringen den Bezirk dabei in einen Zwiespalt: Einerseits will man die Corona-Auflagen durchsetzen, andererseits nicht den Gastronomen auf dem Kiez über Gebühr schaden, die über Monate überhaupt nicht öffnen durften und teilweise weiter in Existenznot sind. Für das Schanzenviertel hatte die Bezirksamtsleiterin in Altona, Stefanie von Berg (Grüne), zuletzt gegenüber dem Abendblatt aus ähnlichen Gründen zwar erneute vorsorgliche und befristete Verbote, aber auch ein Vorgehen mit Augenmaß angekündigt.

Jugendpsychiater appelliert für Verständnis für Jugend

Dass es junge Menschen verstärkt auf die Feiermeilen zieht, ist für den renommierten Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort sehr verständlich. „In dem Alter liegt einem die Welt zu Füßen. In der Jugend sieht man nur wenige Gefahren“, sagt der Leiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE. Nach den monatelangen Einschränkungen sei der Drang zu feiern nun umso größer.

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Seine Empfehlung: Streetworker in Zivil, die das Gespräch suchen, statt sanktionierende Maßnahmen von Uniformierten. „Man könnte mit einem witzigen Flyer mit nicht zu viel Text an die Vernunft appellieren“, sagt der Experte. Das hätte bessere Aussichten auf Erfolg als der erhobene Zeigefinger.

Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

  • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum, und halten Sie mindestens 1,50 Meter Abstand zu anderen Personen
  • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
  • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
  • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
  • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an Ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

Unabhängig von Corona haben sich die Partys auf den Straßen des Schanzenviertels für viele Anwohner zu einem Dauerproblem entwickelt. Sie haben sich mit einem offenen Brief an Bürgermeister Tschentscher, die zweite Bürgermeisterin Fegebank und Innensenator Grote einem Vertreter des Senats gewandt und fordern Maßnahmen gegen das ausufernde Cornern und die enorme Lärmbelästigung. „Kurzfristig kann nur ein Alkoholverbot helfen“, sagt Jan Simon, Zweiter Vorsitzender des Vereins „Standpunkt Schanze“.

Anwohner und auch Gastronomen sind genervt

„Mittlerweile wird auf der Schanze von Donnerstag bis Sonntag gefeiert wie früher zur Fußball-Weltmeisterschaft“, sagt der mehrfache Vater und Anwohner. Autofahrer würden auf der Straße posen und ihre Anlagen bis zum Anschlag aufdrehen. Die Verzweiflung bei den Anwohnern sei groß. „Manche wissen sich nicht mehr anders zu helfen, als am Wochenende auswärts zu schlafen.“

Dabei verhalten sich viele Gastronomen vorbildlich, nehmen Rücksicht auf Nachbarschaft und halten sich an die Auflagen der Corona-Verordnung. „Aber es ist schwierig, die Massen unter Kontrolle zu halten“, sagt Peter Kämmerer von der Interessengemeinschaft St. Pauli und Hafenmeile, die mehr als 180 Gewerbetreibende im Viertel vertritt. Der Verband fordert eine striktere Regelungen für Kiosk-Betreiber, um den Verkauf von billigem Alkohol an Kiosken einzudämmen.