Hamburg. Machtkämpfe, Intrigen – sie hat in ihrer Karriere schon eine Menge erlebt. Jetzt schaffte sie doch noch den Sprung in den Bundestag.
Es ist der Sommer 1990, als ein zwölfjähriges Mädchen aus der Pfalz an den Landungsbrücken den Hafenfähren zuschaut. Es dreht sich um zu seinen Eltern, sagt: „In dieser Stadt will ich einmal leben.“ 30 Jahre später eilt Dorothee Martin (42) vom Rathausmarkt in Richtung Großer Burstah zum vereinbarten Treffen in der Abendblatt-Redaktion.
Sie ist längst angekommen in ihrer Stadt, seit 1998 lebt sie nun in Hamburg. Und nun zählt sie sogar zum Kreis der 16 Frauen und Männer, die die Hansestadt im Bundestag vertreten. Dorothee Martin übernahm ihr Mandat erst im Mai nach einer weitgehend schlaflosen Nacht. Ihr Leben zeigt, für welche Volten die Politik sorgen kann.
Dorothee Martin: Über Hamburg in den Bundestag
Doch um ihre Geschichte zu verstehen, muss man noch einmal zurück in den Pfälzer Wald. Nach Heltersberg, 20 Kilometer südlich von Kaiserslautern. In den Sommerferien fährt die Familie – die Eltern Wechselwähler, der ältere Bruder engagiert sich kurz für die Jusos – immer nach Langeoog. Dorothee Martin liebt das Fahrradfahren auf der Insel, herrlich flach, im Gegensatz zur Pfalz. Sie mag die Weite und das Meer. Und so steht schon vor ihrem Abi in Pirmasens fest: Studieren wird sie im Norden.
In der Republik tobt im Sommer 1998 gerade einer der spannendsten Wahlkämpfe in der Geschichte der Bundesrepublik. Gerhard Schröder fordert den seit 16 Jahren amtierenden Kanzler Helmut Kohl heraus. In Hamburg klebt die junge Studentin der Politikwissenschaft und des Staatsrechts Plakate für den Hannoveraner. Sie findet, es ist Zeit für einen Wechsel, auch wenn dies den bekanntesten Politiker ihrer Pfälzer Heimat das Amt kostet.
Wenige Tage nach Schröders Amtsantritt unterschreibt sie ihren SPD-Mitgliedsantrag
Der Aufstieg Dorothee Martins zur Bundestagsabgeordneten ist untrennbar verknüpft mit diesem Wahlkampf. Denn in jenem Sommer 1998 lernt sie aufstrebende Sozialdemokraten wie die heutigen Senatoren Andy Grote und Andreas Dressel kennen, die ebenfalls für Schröder kämpfen. Nach dem Wahlsieg schwenken die Jusos gegen Mitternacht SPD-Fahnen vor dem CDU-Quartier am Leinpfad. Wenige Tage nach Schröders Amtsantritt unterschreibt Dorothee Martin ihren SPD-Mitgliedsantrag.
Ihr Marsch durch die Institutionen verläuft zäh. 2008 schafft sie den Sprung in die Bezirksversammlung Nord, doch Dorothee Martin will mehr. Im Herbst 2010 ist sie auf dem Weg zu einem Kurzurlaub nach Usedom, als die Radiosender melden, dass die schwarz-grüne Koalition zerbricht, die Hansestadt vor Neuwahlen steht. Dorothee Martin kehrt sofort um, wittert ihre Chance. Sie informiert die Parteispitze, dass sie für die Bürgerschaft kandidieren will. Sie gewinnt den Machtkampf gegen Genossen, die ebenfalls auf ein Mandat spekuliert hatten – und zieht am 20. Februar 2011 nach dem Erdrutschsieg der SPD in die Bürgerschaft ein.
Knapp zehn Jahre später sagt Dorothee Martin in der Abendblatt-Redaktion diesen Satz: „Die parteiinterne Aufstellung war damals schwieriger als der eigentliche Wahlkampf.“ Eine Erkenntnis, die ihre Karriere prägt.
Ihr Vater bestärkt sie, nicht aufzugeben
Herbst 2016: Die Parteien bringen ihre Kandidaten für die Bundestagswahl im September 2017 in Stellung. Dorothee Martin plant den nächsten Karriereschritt, den Einzug in den Bundestag. Sie will als Direktkandidatin im Wahlkreis Hamburg-Nord nominiert werden. Es entwickelt sich eine parteiinterne Schlammschlacht, wie sie der Politikbetrieb, wo Machtspiele und Intrigen zum Alltag gehören, nur selten erlebt.
Gerüchte kursieren, gestreut offensichtlich von Parteifreunden, Dorothee Martin habe bei der Bürgerschaftswahl 2015 falsche Angaben zu ihrem Wohnsitz gemacht. Sie lebe nicht in Fuhlsbüttel, also in ihrem Wahlkreis, sondern bei ihrem Freund auf der Uhlenhorst. Bei ihrem Arbeitgeber, einem Wohnungskonzern, taucht ein anonymer Brief auf. Die Chefetage wird gewarnt, die Schlammschlacht könne auch auf das Unternehmen abfärben. Es ist der Moment, in dem Dorothee Martin sich fragt, ob der Preis für die große politische Karriere nicht doch noch zu hoch ist.
Vor allem ihr Vater bestärkt sie, nicht aufzugeben: „Dann hätten die anderen gewonnen.“ Am Ende entscheidet sie bei der Delegiertenwahl das Duell gegen den parteiinternen Rivalen mit 39 zu 22 Stimmen klar für sich. „Diese Wochen haben mich verändert“, sagt sie mit nunmehr fast vier Jahren Abstand: „Ich bin sehr viel vorsichtiger geworden, ich hinterfrage alles Tun und Handeln deutlich kritischer.“ Andererseits stählen solche Grenzerfahrungen. Wer sie in Wahlkämpfen erlebt, spürt eine Härte gegen sich selbst, die man der zierlichen Frau mit dem gewinnenden Lächeln auf den ersten Blick nicht zutrauen würde.
Mit privater Handynummer auf dem Wahlkampf-Flyer
„Dieses Arbeitsethos habe ich von meinem Vater“, sagt sie. Im Sommer 2017 nimmt sie ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub, um sich ganz auf den Wahlkampf konzentrieren zu können. Sie opfert sogar ein Stück Privatsphäre: Ihre private Handynummer steht auf jedem Flyer, mehr Nähe geht nicht. Ihr Signal: Ich bin für euch da, ich kümmere mich.
Sie klingelt an Tausenden Haustüren, besucht Sportvereine, fährt nachts durch den Wahlkreis, um beschmierte Wahlplakate zu überkleben. Als sie in Eile die Kofferraumtür zu schnell zuschlägt, bricht sie sich den Zeigefinger. „Ich habe mir diesen speziellen Klingel-Finger machen lassen, damit ich im Haustürwahlkampf noch besser an den Türen klingeln kann“, witzelt sie auf ihrer Facebook-Seite.
Noch mehr als der Finger schmerzen die Umfrageergebnisse ihrer Partei. Martin Schulz, ihr Kanzlerkandidat, wird medial vom Hoffnungsträger („Sankt Martin“) zum Verlierer aus Würselen durchgereicht. Den Genossen Trend kann sie nicht besiegen, in der Wahlnacht verfolgt sie mit versteinerter Miene im Kurt-Schumacher-Haus die Ergebnisse aus den Wahllokalen, mit jeder Zahl stabilisiert sich ihre Niederlage gegen ihren CDU-Kontrahenten Christoph Ploß. „Rückblickend hätte ich mir im Kurt-Schumacher-Haus einen Raum reservieren lassen sollen, in den ich mich zurückziehen kann“, sagt Dorothee Martin. Stattdessen hockt sie traurig neben ihrem Parteifreund Andreas Dressel auf einer Treppe, während im Saal nebenan die anderen Hamburger SPD-Direktkandidaten Johannes Kahrs, Aydan Özoguz, Niels Annen, Matthias Bartke und Metin Hakverdi frenetisch gefeiert werden.
3 Fragen
- 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre? Ganz persönlich: gesund und zufrieden leben, etwas mehr Zeit für Familie und Freunde haben.
- 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Ich möchte weiterhin mit aller Kraft dafür arbeiten, dass unsere Stadt ein gutes Zuhause für alle Menschen ist.
- 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Ich wünsche mir, dass die Stadt gestärkt aus der Pandemie hervorgehen wird, gute Arbeitsplätze gesichert werden und wir gerade in den Bereichen Digitalisierung und Mobilität weiter vorangekommen sein werden.
Dressel spricht ihr an jenem Abend Mut zu. Dies geschieht keineswegs nur aus der vorhandenen Sympathie für die Parteifreundin. Der ausgebuffte Politiker hat registriert, dass Dorothee Martin in Wahrheit ein sehr beachtliches Ergebnis eingefahren hat: Mit 30,8 Prozent liegt sie bei den Erststimmen nur 2,7 Prozentpunkte hinter Ploß – und 9,4 Prozentpunkte über dem Zweitstimmenwert der SPD. Und das alles trotz der bundesweiten Genossen-Depression – und des SPD-Desasters auf Landesebene, ausgelöst durch die Ausschreitungen beim G-20-Gipfel. „Ich habe alles gegeben, mehr ging nicht“, sagt Dorothee Martin.
So gesehen könnte man es fast für ausgleichende Gerechtigkeit halten, dass die Frau mit dem roten Haar jetzt unverhofft den Einzug in den Bundestag geschafft hat, weil sie das Mandat von Johannes Kahrs übernehmen durfte: Kahrs hatte die Brocken hingeworfen, als seine Hoffnungen auf das Amt des Wehrbeauftragten zerschellten.
Enorme Taklung in Berlin
„So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben“, sagt Dorothee Martin. Sie weiß, dass ihre Entscheidung, für knapp eineinhalb Jahre Bundestag fünf sichere Jahre in der Bürgerschaft einzutauschen, manche Genossen irritiert. Zudem war sie erst wenige Monate zuvor als Partnerin in eine Hamburger Kommunikationsagentur eingestiegen. Auch das Gespräch mit ihrem Lebensgefährten über die Aussicht, sich noch seltener zu sehen, war hart. „Aber am Ende hat er meine Entscheidung mitgetragen.“
Nun also Berlin. „Die Taktung ist enorm“, sagt Dorothee Martin über ihren Start in der Hauptstadt. Erste Termine um 7.30 Uhr, frühestens um 22 Uhr endet ihr Arbeitstag. Aber genau das fasziniert sie. Wohnung? Braucht sie nicht: „Ich suche mir ein WG-Zimmer.“ Ihr Augenmerk richtet sich ohnehin auf die Bundestagswahl im Herbst 2021, mit entsprechender Verve will sie ihren Hamburger Wahlkreis beackern. Diesmal dürfte die Aufstellung als Direktkandidatin eine Formsache sein. Andererseits: Wie soll im Herbst 2021 ein Sieg bei der Neuauflage des Duells gegen Ploß gelingen? Ihr Rivale hat sich einen Namen gemacht. Und dann der Bundestrend. In Umfragen dümpelt die SPD bei 15 Prozent.
Dorothee Martin ficht das nicht an. Wie schnelllebig das Geschäft sei, habe ihr ein Magazin aus dem Sommer 2019 gezeigt, das sie zufällig bei einem Besuch bei ihren Eltern in der Pfalz entdeckte. Auf dem Titel wurde Grünen-Co-Chef Robert Habeck als Kanzlerkandidat gezeigt. Nun habe zwar der Kampf gegen die Pandemie Angela Merkel unverhoffte Popularität beschert, aber die trete ja nicht wieder an: „Alles kann sich schnell drehen.“ Wer wüsste das besser als sie.