Auschwitz/Hamburg. Abendblatt-Redakteure besuchten den Tatort des größten Verbrechens der Menschheit. Was macht der Ort mit einem? Was kann man lernen?

Sie ist aus ihrem Kindertipi geklettert und hat mich gemustert, mit fünfjährigem Ernst. „Was machst du denn in Polen?“, hat sie gefragt.

„Mir etwas angucken, wo gemeine Leute schlimme Sachen gemacht haben“, habe ich gesagt.

„So wie Räuber?“, hat sie gefragt, und gestrahlt, weil sie es liebt, wenn ich ihr lustige Notrufe der Polizei erzähle.

„Nee, leider viel schlimmer“, habe ich gesagt. Sie hörte weiter ihr Hörspiel, den „König der Löwen“. Dann rief sie. „Papa, warum haben die denn die schlimmen Sachen gemacht?“

Ich denke daran, als der Wagen die letzten Kilometer durch Oświęcim ruckelt. Vorbei an farblosen Wäldern und kalter Erde, dem Ortskern mit einem Kino und Geschäften. Rechts verlaufen Schienen. Die Nazis haben die Kleinstadt bewusst ausgesucht. Gute Anbindung, flaches Land, Flussläufe als natürliche Barrieren. Keine Chance zu fliehen. Ein unscheinbarer Ort für das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.

Besuch in Auschwitz: Was ich sehe, wirkt nicht real

Auschwitz, so nannten sie Oświęcim. „German Nazi Extinction Camp“, steht auf einem schwarzen Schild. Wir steigen aus dem Auto, die Luft nagt an den Fingern. Mir schießen die „Geister der Vergangenheit“ in den Sinn, von denen die Rede ist, wenn Neonazis morden wie in Halle oder die AfD triumphiert. Hier wohnen sie.

Ich würde gern schreiben, dass es meine Idee war, herzukommen. Dass ich nicht zu bequem war, bis der Chefredakteur es als Dienstreise anbot. „Man muss einmal dort gewesen sein“, hat er gesagt. Es verändere einen. Also sind wir losgefahren. 75 Jahre nach der Befreiung. Das erste Mal in meinem Leben.

Sie geben mir einen Sticker, den ich mir an die Brust kleben muss. Führen uns durch einen Flachbau, Sicherheitskontrolle, Hunderte Besucher in engen Schritten hintereinander, auf der anderen Seite hinaus. Was ich sehe, wirkt nicht real. Wie ein Filmkulisse mit roten Baracken. Die Sonne bricht durch den Nebel, streift das geschwungene Schild, „Arbeit macht frei“.

Ich fühle mich wie ein Narr

Ich habe Dokumentationen gesehen und Spielfilme, ich habe Klassenarbeiten geschrieben, Yad Vashem in Jerusalem und Ausstellungen in Hamburg besucht. Ich bin 31 Jahre alt und glaube erwachsen zu sein, zu wissen, was richtig ist. Meiner Tochter zeigen zu können, wie man lebt als guter Mensch. Jetzt fühle ich mich wie ein Narr, vor einer Prüfung, der er kaum gewachsen ist.

Hören Sie hier den Podcast: Warum jeder Auschwitz besuchen sollte

Kann ich fühlen, was 1,1 Millionen Menschen hier erleiden mussten? Habe ich es überhaupt verstanden?

Janusz Wlosiak gibt mir kräftig die Hand, seine Haut ist ledern und seine Augen matt, so dass man nie hinter die Fassade gucken kann. Er ist unser „Guide“, nicht Führer, wie man anderswo sagen würde. Ein Geschichtslehrer, der seit 35 Jahren auch in der Gedenkstätte arbeitet. „Früher kamen noch 600.000 Menschen im Jahr, jetzt sind es mehr als zwei Millionen“, sagt er.

Die Trauer reift langsam, die Wut kommt schnell

Woher der plötzliche Ansturm kommt, weiß er selbst nicht genau. „Die meisten Überlebenden wollten nie zurückkehren.“ Er sieht uns lächelnd einzeln an. Als prüfe er, wie viel er uns zumuten kann. Den genauen Ablauf der Tour verrät er nicht. „Folgen Sie mir“, sagt er.

Wir werden vom Halblicht einer Baracke verschluckt, „Road to Death“ steht auf einem Schild neben der Tür. An der Wand große Schwarzweißbilder, eines zeigt eine Familie vor einem Zug. Mein Blick fällt sofort auf das Mädchen rechts am Rande. Sie schaut weinend zur Seite, wie auf der Suche nach einem Lächeln, das sie beruhigt. Aber die Augen ihrer Eltern sind aufgerissen. Vielleicht fünf Jahre alt war sie. Sie kann jenen Tag nicht überlebt haben.

Wer keine 14 Jahre alt war, den schickten die SS-Männer in die Gaskammern. 210.000 Kinder starben in Auschwitz. Nur 600 fanden die Russen im Januar 1945, abgemagert, zerschunden. Während wir durch den Raum gehen, sagt der Guide mehrfach, dass 900.000 Menschen in Auschwitz ermordet, vergast, erschossen, zu Tode gehungert, gefoltert und verbrannt wurden.

Wie viele der Täter von Auschwitz wurden am Ende bestraft?

Ich muss wieder an meine Tochter denken, ein dunkles Gefühl tritt in die Mitte meines Körpers. Aber mein Kopf sagt mir, dass es stärker sein müsste, diese Menschen mehr verdient haben. „Ein Toter ist eine Tragödie, eine Million Tote nur eine Statistik“, soll Stalin gesagt haben. Ich hasse es, zu ahnen, dass Menschen an diesen Punkt kommen können. Ich frage mich, wie früh es angefangen haben muss, dass aus Toten nur Nummern wurden, aus Leichen bloß Müll.

Auf den Fluren einer Baracke sind die Bilder von Inhaftierten zu sehen.
Auf den Fluren einer Baracke sind die Bilder von Inhaftierten zu sehen.

Auf dem nächsten Bild sehe ich die Züge an der Rampe in Birkenau, unten drei SS-Männer, die in Richtung der Kamera spazieren. Der Mann in der Mitte ist jung, Anfang zwanzig, das rechte Bein schwingt nach vorn in der Luft, er stolziert da wie ein Gockel und lächelt. Die Wut erfasst mich sofort.

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Janusz erzählt, wie die 4500 SS-Leute im Lager noch bis November 1944 Tausende Menschen am Tag getötet haben, obwohl der Krieg verloren war. Ich frage ihn, wie viele der Täter von Auschwitz am Ende bestraft wurden. „700 wurden gefangen, verurteilt“, sagt er, nicht einmal jeder Sechste. Er sieht mich noch einige Sekunden an, wir schweigen beide.

Mit jedem Raum fühlt es sich mehr an wie eine Fahrt in das Dunkle, bis zum Abgrund. In Vitrinen sind die Dokumente zu einzelnen KZ-Insassen, die Mörder notierten jede Kleinigkeit, die Augenform, ein abstehendes Ohr. Hinter Glas liegen Kartuschen des Giftgases Zyklon B, „Hamburg“ prangt auf einigen, weil der Lieferant im Ballinhaus residierte.

Die Mörder wussten, dass sie Monster geworden waren

Auf einer Rechnung für eine Charge steht „Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung“. Auf einem SS-Dokument daneben ist von einer „Sonderbehandlung“ die Rede. Ein Rest von Menschlichkeit muss in den Mördern gelegen haben, gerade genug, um ihre Verbrechen mit Worten zu verharmlosen.

Mir wird übel, gleichzeitig spielt mein Kopf das Tonband ab. Wie Alexander Gauland von einem „Vogelschiss“ in der „erfolgreichen deutschen Geschichte“ spricht. Wie Björn Höcke mit bübisch angedeutetem Grinsen in eine ZDF-Kamera sagt, es könne doch sein, dass er noch einmal eine „interessante, politische Person in diesem Land“ werde.

Ich brauche Luft, eine Pause. Aber der Guide stapft vor mir eine Treppe hoch und warnt mich nicht vor. Frauenhaare liegen aufgetürmt, schlammig und grau, aber noch als Zöpfe zu erkennen, Berge davon, Zehntausende. Für 50 Pfennig pro Kilo haben die Nazis sie noch an Fabriken verhökert. Auf den Säcken stand „K.L. Auschwitz“. Ich stelle mir die Arbeiter vor, die sie ausgepackt haben, um daraus Teppiche zu knüpfen. Nach Hause gingen und ihr Abendbrot aßen. Denke an den Lagerarzt Josef Mengele, der gesagt haben soll, wenn die Insassen „schon ins Gas gingen“, könne er auch seine Experimente mit ihnen machen.

Schuhe von Opfern des Massenmordes in Auschwitz. Die Nazis sammelten die Habseligkeiten der Opfer, um sie zu verwerten oder zu verkaufen.
Schuhe von Opfern des Massenmordes in Auschwitz. Die Nazis sammelten die Habseligkeiten der Opfer, um sie zu verwerten oder zu verkaufen. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Weil es alle machen, macht man eben mit. Jeder einzelne. Diese verdammten, bestialischen Feiglinge. Einen Moment später frage ich mich: Wann habe ich das letzte Mal wirklich etwas gegen den Hass getan? Demonstriert, Blumen für von Neonazis ermordete Menschen niedergelegt, irgendetwas?

Die Hiebe kommen jetzt in schneller Folge

Ich habe keine Zeit, mich selbst zu verurteilen, Auschwitz ist noch nicht fertig mit mir. Die Hiebe kommen jetzt in schneller Folge. Erst Hunderte dreckige Schuhe in einem, dann Tausende im nächsten Raum. Die Koffer der Getöteten, „Sara“ steht auf einem in gelber Schrift. Ihre Habseligkeiten, Kaffeegeschirr und Teller, in einem schwimmbeckengroßen Container. Eine Vitrine, in der nur Kinderschuhe und Hemdchen liegen. Mir steigen Tränen in die Augen.

Janusz Wlosiak führt uns in eine am Rand stehende Baracke. Aus Lautsprechern dringt ein heller Chor. Er gibt uns zwanzig Minuten zum Innehalten, bevor es nach Birkenau geht, in das Vernichtungslager. Über die Wände flirren Alltagsszenen von jüdischen Familien.

Einen Gang weiter bellen die Reden Hitlers aus Lautsprechern, ich bleibe an einer Tafel stehen. 524.000 Juden hätten vor dem Holocaust in Deutschland gelebt, steht da, gerade einmal 0,8 Prozent der Bevölkerung. Sie seien an allem Schuld, riefen die Nazis, wollten das Land „bolschewisieren“, so wie die Muslime das Land heutzutage angeblich „islamisieren“ wollen. Das reichte, um den Hass zu schüren. Bei Polizisten, Nachbarn, Milchmännern, Maurern, Hausfrauen. Mir wird klar, dass ich auch hier in Auschwitz niemals ganz verstehen werde. Nur die Warnung hören kann.

Die Kratzspuren sind noch an der Wand zu sehen

Beiläufig sagt Janusz auf dem Weg zurück zum Parkplatz, dass der KZ-Kommandant Rudolf Höß gleich da drüben gewohnt habe, in einem Haus mit Schwimmbad. Seine Frau und seine Kinder waren bei ihm. Aus dem Fenster konnte er auf den Flachbau am Lagerrand sehen. Das Krematorium mit der ersten Gaskammer, die Kratzspuren sind noch an der Wand zu sehen.

Sie hängten Höß nach dem Krieg am Galgen, hier in Auschwitz. Ich ekle mich nicht vor ihm, das gönne ich ihm nicht. Aber mir kommt der Gedanke, ob er so grausam hätte sterben müssen, wie er selbst gemordet hat.

Nein, es folgt ein anderes Gefühl. Bewunderung. Für die Überlebenden, die ihre Seele von dem Gift befreiten. Die es schafften, nicht zu hassen. Mensch zu bleiben, was die Täter nicht konnten.

Die Verantwortung, die jeder nach Auschwitz hat

Ein Bus bringt uns nach Birkenau. Regen kommt in dünnen Fäden herunter, der Boden ist matschig, der Wind zieht über die Fläche, wie schon damals. 350 Baracken standen im Vernichtungslager, für Hunderttausende Gefangene. Das Gefangenenorchester spielte „La Paloma“ für alle, die erst rasiert, gedemütigt und ausgebeutet wurden, bevor sie starben.

Die Bretterverschläge in den Baracken sind schmal, viel enger noch als auf all den Bildern. Sieben Menschen lagen nebeneinander, halb aufgelöst durch den Hunger. Ich suche nach etwas tröstlichem, einer eingeritzten Botschaft der Insassen im Holz, dass sie ohne Angst starben, in Würde gingen. Da ist nichts.

Die Kälte ist schnell herangekrochen, an Beinen, Armen, Gesicht. Wir gehen um das Gelände herum, vorbei an den Ruinen der Krematorien. Die Nazis sprengten sie und flohen. Gräber gibt es keine, nur einen Teich, der noch immer aschfahl da liegt. Die Farbe kommt von den Zehntausenden, vielleicht Hunderttausenden Knochenresten, die sie nach dem Mord hineinkippten.

Die deutsche Erinnerungstafel am Gedenkaltar des ehemaligen Vernichtungslagers.
Die deutsche Erinnerungstafel am Gedenkaltar des ehemaligen Vernichtungslagers. © Marcelo Hernandez | Marcelo Hernandez

Ich will etwas tun, jeden Rechten hierherschleppen und ihn zwingen hinzusehen, den Opfern die Würde mit Worten oder Taten wiedergeben, aber es geht nicht. Die Luft ist leer, nichts zu hören. Es fühlt sich falsch an, wie ein Scheitern, als wir wieder in den Bus steigen.

Vor der Abreise habe ich mit einem Kollegen gesprochen, ein gestandener Mann. Die AfD sei widerlich, aber das Thema Auschwitz nerve ihn. „Wir Deutschen sind ja immer nur in der Büßerhaltung und zahlen“. Ich werde noch einmal mit ihm reden, schwöre ich mir. Sagen, dass jeder Mensch eine Verantwortung hat, dass es nie wieder passiert. Ob Deutscher, Engländer, Chinese, Christ, Muslim oder Jude. Es wird nichts bringen, wahrscheinlich, aber es wird ein Anfang sein, zumindest hoffe ich das.

Umweit vom Ghetto wurden alte Lagerhallen zu hippen Geschäften umgebaut

Wir fahren zurück nach Krakau, eine wunderschöne, alte Stadt. Im Viertel Zabłocie, unweit vom Ghetto, in dem die Juden zusammengepfercht wurden, haben sie alte Lagerhallen zu hippen Geschäften umgebaut. Ich will wiederkommen, irgendwann, mit meiner Tochter.

Als sie mich fragte, warum die bösen Leute die schlimmen Dinge taten, beugte ich mich zu ihr. „Es gibt Menschen, die andere Leute nicht mögen, weil sie eben anders sind“, sagte ich ihr. Ich habe es in ihrem Kopf kurz arbeiten sehen. Dann guckte sie so, als wollte ich sie veräppeln.