Hamburg. 5068 Kilometer ruderten vier Frauen über den Atlantik: Ein 42 Tage langer Kampf gegen Wellen, Müdigkeit und Seekrankheit.

Sechs Wochen lebten Steffi Kluge, Timna Bicker, Meike Ramuschkat und Catharina Streit auf einem Ruderboot, acht Meter lang, zwei Meter breit. 42 Tage auf 16 Quadratmetern, mitten auf dem Atlantik. Seit vier Monaten sind die vier Frauen nun wieder in Hamburg. Und doch können sie über das Abenteuer ihres Lebens nur über eine Video-Plattform mit dem Abendblatt reden – die Corona-Regeln verhindern ein persönliches Treffen.

Aber auf dem Bildschirm fügen sich die Miniatur-Einstellungen aus den Wohnungen schnell zu einem großen Ganzen. Man spürt: Die 5068 Kilometer auf hoher See, der Kampf gegen Wellen, Sturm und Seekrankheit haben das Quartett zusammengeschweißt.

Frau Ramuschkat, Sie waren 2018 beim Start des Atlantik-Ruderrennens auf La Gomera als Zuschauerin dabei. Es hat Sie sofort gepackt. Ihre Begeisterung war die Initialzündung für das Projekt. Ganz ehrlich, wie oft haben Sie diesen Tag auf La Gomera inzwischen verflucht?

Meike Ramuschkat: Das ist eine gute Frage. Während der wirklich harten Vorbereitungszeit schon das eine oder andere Mal. Während des Rennens aber eigentlich nie. Wenn man sich für etwas begeistern kann, erträgt man vieles.

Frau Bicker, Sie wurden in der ersten Phase des Rennens fürchterlich seekrank. Wie oft haben Sie die Teilnahme verflucht?

Timna Bicker: Ich war zunächst gar nicht in der Lage, irgendwas zu verfluchen. Ich habe die ersten drei Tage und Nächte fast nur gespuckt. Ich konnte nichts bei mir behalten. Ich habe mir Sorgen gemacht, dass es so schlimm wird, dass es nicht mehr weitergeht.

Tschüs: Das Hamburger Ruderteam verlässt am 12. Dezember 2019 La Gomera.
Tschüs: Das Hamburger Ruderteam verlässt am 12. Dezember 2019 La Gomera. © Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen | Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen

Sie hätten sich an den ersten Tagen noch von einem Begleitboot von Bord holen lassen können.

Bicker: Ich wusste, wie groß die Belastung für das Team ist. Ich habe den Mädels gesagt: Wenn ihr der Meinung seid, es funktioniert nicht mehr, dann sagt mir das ehrlich. Aber von mir aus werde ich nicht aufgeben.

Frau Kluge, für Sie als Mutter muss es besonders schlimm gewesen sein, Ihre Tochter so leiden zu sehen.

Steffi Kluge: Das stimmt, Timna ging es wirklich schlecht. Sie hat, als sie wieder rudern konnte, auch ihre Pausen in den ersten zwei Wochen komplett an Deck verbracht. Sie hat sich, eingewickelt in Ölzeug, in die Mitte des Bootes gelegt, um wieder Kraft zu sammeln. Das war sehr tapfer.

Ihnen selbst ging es auch nicht gut.

Steffi Kluge: Ja, mich hat es bei der Seekrankheit auch ganz schön erwischt, ich habe mich sogar noch am letzten Tag kurz vor der Ankunft übergeben müssen. Auch Meike hat am Anfang gelitten. Catharina ist dagegen eine echte Meeresbraut.

Wussten Sie das vor dem Start, Frau Streit?

Catharina Streit: Nein, im Gegenteil. Auf großen Fähren bin ich auch schon seekrank geworden. Daher war ich mir ziemlich sicher, dass es mich auch erwischen würde.

Frau Ramuschkat, Sie haben am sechsten Tag des Rennens Timna in Absprache mit der Rennleitung eine Infusion gelegt. Wie schwierig war das auf hoher See?

Ramuschkat: Ich bin ja Ärztin, daher ist das eigentlich kein Problem für mich. Zum Glück hat Timna sehr gute Venen. Dennoch habe ich zwei Anläufe gebraucht. Bei der Schaukelei der Wellen kann man ja nicht die Sachen für die Infusion irgendwo hinlegen, die werden sofort nass oder gehen über Bord. Steffi hat mir attestiert, zu zweit ging es dann.

Gehörten die Infusionen zur Standardausrüstung?

Mit Fackeln ins Ziel: Am 23. Januar feierte das Team die Ankunft auf Antigua.
Mit Fackeln ins Ziel: Am 23. Januar feierte das Team die Ankunft auf Antigua. © Ben Duffy for Talisker Whisky Atlantic Challenge 2019 | Ben Duffy for Talisker Whisky Atlantic Challenge 2019

Ramuschkat: Nein, ich hatte die Flaschen vor allem mitgenommen, weil ich dachte, ich selbst könnte irgendwann Infusionen benötigen.

Frau Streit, an Bord war die Konstellation sehr speziell. Meike und Sie sind seit Jugendtagen eng befreundet. Steffi und Timna sind Mutter und Tochter. Das kann ja schnell zu einer Konstellation zwei gegen zwei führen.

Streit: Das war nie ein Problem, auch dank der Vorbereitung mit unserer Sportpsychologin Anett Szigeti (betreute auch die Beachvolleyball-Olympiasiegerinnen Kira Walkenhorst und Laura Ludwig, die Red.).

Meike und Sie haben sich eine Kabine geteilt, Steffi und Timna die andere.

Streit: Aber die Ruder-Schichten waren so geplant, dass sich aus Komfortgründen immer nur eine in der Kabine aufhalten sollte, die andere hat gerudert.

Was war der gefährlichste Moment der Reise?

Kluge: Richtig schlimm war die erste Nacht an Bord. Wir haben von La Gomera bei einer Windgeschwindigkeit von 32 Knoten abgelegt. Das war wirklich heftig, die Wellen schlugen über unserem Boot zusammen. Unter solch extremen Bedingungen konnten wir nie trainieren. Und das passierte direkt zu Beginn des Rennens, ein paar Tage später hätten wir mit etwas mehr Erfahrung damit besser umgehen können. Wir hatten neben einer guten Portion Glück ein ziemlich perfekt gepacktes und damit gut austariertes Boot und zudem noch großes Vertrauen zueinander. Diese Kombination hat uns durch die erste Nacht gebracht. Und wir sind allesamt Kämpfernaturen und hatten deutlich weniger Pro­bleme als andere Teams. 50 Prozent der Flotte hatten sich Schäden eingehandelt.

Der Film:

  • Die Hamburger Filmemacher Silvia und Guido Weihermüller (Close Distance Produc­tions) haben das Projekt von Beginn an begleitet. Durch die Corona-Krise ist offen, wann der Film im Kino Premiere feiern wird. Er verspricht spektakuläre Bilder, die Ruderinnen haben 60 Stunden Material auf dem Atlantik gedreht. Zudem gibt es sehr persönliche Einblicke aus dem Innenleben der Crew. Silvia und Guido Weihermüller sind spezialisiert auf aufwendige Sportdokumentationen, für Aufsehen sorgte vor allem der Film über die Beachvolleyball-Olympiasiegerinnen Laura Ludwig und Kira Walkenhorst („Der Weg zu Gold“). Alles zum Projekt im Internet auf www.wellenbrecherinnen.de.

Wie verkraftet man mental solche schwierigen Phasen?

Ramuschkat: Wenige Tage vor dem Start haben wir uns noch mit Kelda Woods getroffen …

… die trotz einer Behinderung das Rennen ein Jahr zuvor als Soloruderin erfolgreich absolvierte …

Ramuschkat: … Kelda hat uns erklärt, dass irgendwann im Rennen der Chimp, also der Schimpanse, aus einem herausbrechen wird.

Was hat sie damit gemeint?

Bicker: Die Idee ist, dass der Schimpanse in Extremsituationen unsere Urinstinkte widerspiegelt. Er steckt in jedem Menschen. Und der Schimpanse ist eigentlich auf dem Atlantik ein guter Freund, weil er einen davor bewahrt, leichtsinnig zu werden, was einen in Gefahr bringen könnte. Nichtsdestotrotz rastet er halt manchmal aus, obwohl es eigentlich nicht notwendig wäre. Manchmal hat er Angst oder findet, dass irgendwas gerade nicht so läuft, wie er es gern hätte. Das Kunststück besteht darin, ihn dann im Zaum zu halten. Das ist nicht einfach. Mein Schimpanse empfand es zum Beispiel als extrem nervig, immer wieder nass zu werden. Irgendwann kam er dann raus aus dem Käfig. Und ich habe dann richtig den Atlantik verflucht. Aber das wurde ziemlich schnell witzig. Spätestens nach zehn Minuten habe ich ihn in meinen Käfig zurückgeholt. Und musste über mich selbst lachen.

Streit: Irgendwann ist der Schimpanse bei jedem von uns rausgekommen.

Ramuschkat: Wir hatten alle Momente der Verzweiflung. Das Gute war, dass wir über den Schimpansen besser kommunizieren konnten. Wir mussten nicht auf der direkten Ebene sagen: Nun reg dich mal nicht so auf. Stattdessen haben wir gefragt: Was fehlt deinem Schimpansen denn gerade? Hat er Hunger? Ist er wieder nass geworden? So konnten wir das Ganze ins Spielerische ziehen. Ändern konnten wir an den äußeren Umständen ja eh nichts.

Wie haben Sie signalisiert, wenn man im Team in Ruhe gelassen werden wollte?

Kluge: Unser zuvor vereinbartes Code-Wort war Diddl-Maus. Das hatten wir vor der Reise vereinbart. Wer Diddl-Maus ausspricht, möchte in den nächsten Minuten nicht mehr angesprochen werden. Aber wir haben lieber mit dem Schimpansen gearbeitet.

Das Rowhhome Team  Die Ruderinnen Catharina Streit, Stefanie Kluge, Timna Bicker und Meike Ramuschkat rudern über den Atlantik.
Das Rowhhome Team  Die Ruderinnen Catharina Streit, Stefanie Kluge, Timna Bicker und Meike Ramuschkat rudern über den Atlantik. © Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen | Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen

Nun gibt es schon bei einer normalen Urlaubsreise mal Stress, welches Hotel oder welche Sehenswürdigkeit man ansteuern sollte. Wie sind Entscheidungsprozesse bei euch abgelaufen? Wurde abgestimmt?

Streit: Nein, wir haben uns die Zeit für Diskussionen genommen. Jeder konnte seine Meinung sagen, am Ende haben wir dann eine Entscheidung getroffen, hinter der alle standen.

Bicker: Manchmal haben wir uns auch dreimal am Tag umentschieden.

Kluge: Diskussionen gab es zum Beispiel bezüglich der Navigation Wir hatten zwei Berater. Robert Eichler, Besitzer einer Jachtschule auf Finkenwerder, einen erfahrenen Nautiker, der aus Hamburg über das Internet immer genau sehen konnte, wo wir gerade waren. Er hat Wind und Strömung analysiert und uns den besten Kurs empfohlen. Und Charlie Pitcher, unseren Bootsbauer, der mit uns die „Doris“ gepackt hatte und die Strecke aus eigener Erfahrung von einer Rennteilnahme kannte. Irgendwann wurden Einschätzungen unterschiedlich. Wir haben uns dann letztendlich für Robert entschieden. Und sind damit gut gefahren.

Es gab also nie wirklich richtigen Streit?

Kluge: Nein, ich bin schon stolz darauf, dass wir so gut zusammen agiert haben. Wir sind außerdem auch das einzige Team, das sowohl vor dem Start auf La Gomera in einer WG zusammengewohnt hat als auch nach der Ankunft auf Antigua. Wir konnten uns so gut auf das Rennen einstimmen und auf Antigua den Abschied von dem Projekt ein Stück weit gemeinsam gestalten.

Wie groß ist eigentlich die Gefahr, dass man mitten auf dem Atlantik von einem riesigen Containerschiff übersehen und einfach überrollt wird?

Bicker: Wir haben auf der ganzen Fahrt nur drei größere Schiffe gesehen. Und es gab auf der „Doris“ ein akustisches Alarmsignal, wenn sich ein Schiff zu sehr genähert hat.

Zum Abschied aus Hamburg kam auch die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank. Darüber freuten sich Catharina Streit, Meike Ramuschkat, Timna Bicker und Stefanie Kluge.
Zum Abschied aus Hamburg kam auch die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank. Darüber freuten sich Catharina Streit, Meike Ramuschkat, Timna Bicker und Stefanie Kluge. © A.Laible | Andreas Laible

Wussten die Schiffsbesatzungen von dem Rennen?

Ramuschkat: Nur am Anfang wurde über Funk von der Rennleitung allen Schiffen in der Umgebung signalisiert, dass gerade ein Ruderrennen startet.

Streit: Einmal kamen wir an einem Frachter vorbei. Den haben wir zur Sicherheit angefunkt, damit er uns nicht übersieht. Die waren ziemlich überrascht, warum da mitten auf dem Atlantik ein Ruderboot unterwegs ist. Die haben uns gefragt, was wir da machen und ob alles okay sei. Und haben uns dann alles Gute gewünscht.

Kluge: Dann hat uns noch die Besatzung eines Segelschiffs gefragt, wo wir unsere Netze hätten. Die haben uns für Fischer gehalten.

Guter Zweck:

  • Jede Crew, die für die Atlantic Challenge meldet, verpflichtet sich, Überschüsse des Projekts an einen wohltätigen Zweck zu spenden. Laut Veranstalter erhielten Organisationen, die sich etwa für den Umweltschutz oder Kampf gegen Krankheiten engagieren, inzwischen insgesamt über elf Millionen Euro.
  • Die Hamburger Ruderinnen werden ihren Gewinn aus dem Verkauf des Bootes an die internationale Frauen-Crew One Ocean (startet 2020/21) an die Vereine Kinderlachen und Zeit für Zukunft – Mentoren für Kinder spenden. Für das Rennen hatte das Quartett mehrere Sponsoren gewinnen können.

Sie haben auch Weihnachten auf dem Meer verbracht. Wie war dieses Fest?

Kluge: Wir hatten in der Vorbereitung überlegt, ob wir Weihnachten etwas Besonderes machen wollen. Ich habe einen Stollen gebacken, der schmeckte aber wohl durch den Salzgehalt in der Luft ganz anders als daheim.

Bicker Mein Mann hatte uns eine Lichterkette zum Zusammenstecken mitgegeben. Aber irgendwie war uns nicht nach Weihnachten zumute. Es war eigentlich ein ganz normaler Rudertag, und der vorgesehene Piccolo blieb unangetastet.

Ramuschkat: Die Lichterkette haben wir dann später zur Beleuchtung der Toilette genutzt.

Bicker: Für die Stimmung haben wir den ganzen Tag Weihnachtslieder gehört, fast in einer Endlos-Schleife.

Kluge: Insgesamt waren wir Weihnachten eher ein wenig von der herrschenden Flaute genervt. Das Rudern war zäh, fehlten doch Wind und Wellen zum Anschieben der tonnenschweren „Doris“. Wir haben deswegen die Zeit genutzt, das Boot von außen zu putzen. Bei der langsamen Fahrt setzen sich relativ schnell Muscheln und Algen an der Bootswand ab, das bremst. Die haben wir dann mit einer Art Eisschaber abgekratzt. Dafür hat sich eine angeleint ins Wasser begeben, eine andere hat das Seil geführt, und die anderen beiden haben währenddessen Ausschau gehalten, etwa nach Haien.

Ansonsten war das Leben an Bord wahrscheinlich streng durchgetaktet…

Kluge: Das stimmt. Die Schicht hat alle zwei Stunden gewechselt, Tag wie Nacht. Wir hatten zwar drei Ruderplätze, aber in der Regel haben nur zwei gerudert, die anderen beiden konnten sich ausruhen, sich waschen oder was essen. Das bringt viel Struktur in das Leben. Und man merkt, wie wenig man doch braucht, um glücklich zu sein.

Rüstet dies für das eingeschränkte Leben in Zeiten von Corona?

Monatelang bereitete sich das Hamburger Ruderteam auch auf der Alster auf das große Abenteuer vor.
Monatelang bereitete sich das Hamburger Ruderteam auch auf der Alster auf das große Abenteuer vor. © A.Laible | Andreas Laible

Kluge: Diese Erfahrungen helfen zumindest. Durch die sehr intensive 18-monatige Vorbereitung waren unsere Sozialkontakte ja schon vor dem Rennen stark reduziert. Bei unserer Rückkehr stürzte dann vieles auf uns ein. Ganz viele liebe Leute wollten sich mit uns verabreden, das kann manchmal ein wenig stressig sein, zumal wir unsere Erfahrungen ja noch gar nicht wirklich verarbeitet haben. Covid hilft uns in gewisser Weise, dass wir Zeit haben, uns auf uns selbst zu besinnen. Und hier können wir zumindest skypen, wir können telefonieren. An Bord war das kaum möglich. Corona hat allerdings auch dazu geführt, dass wir uns noch nicht einmal nach der Reise zu viert getroffen haben. Unter normalen Umständen hätten wir uns bestimmt wiedergesehen, etwa zusammen etwas gekocht und uns über unser Abenteuer ausgetauscht.

Ramuschkat: Ich habe die Corona-Einschränkungen schon als extrem empfunden. Als ich zurückkam, war ich voller Freiheitsdrang. In den ersten Wochen wollte ich nur unterwegs sein. Plötzlich war das alles nicht mehr möglich. Aber ich glaube, dass wir alle durch die Reise eine gewisse Widerstandskraft erworben haben, uns auf schwierige Momente einzustellen. Deshalb empfinden wir dieses Virus auch nicht so sehr als akute Bedrohung.

Streit: Es ist schon ziemlich komisch, weil man sich ja auf dem Atlantik immer wieder vorstellt, dass man nach der Rückkehr die Freunde treffen will, die man die eineinhalb Jahre vernachlässigt hat. Das geht jetzt natürlich nicht. Zudem ist bei mir auch teilweise Homeoffice angesagt. Man ist mehr zu Hause, obwohl man doch rauswill. Ich genieße das Wetter trotzdem. Das hat man auch gelernt auf dieser Reise. Einfach das Beste aus einer Situation machen und nicht den Kopf hängen lassen.

Bicker: Ich habe den Vorteil, dass ich noch zur Arbeit fahren darf, sodass sich mein Alltag gar nicht so krass verändert hat. Was wir alle gelernt haben, ist: durchhalten, sich die schönen Dinge bewusst zu machen. Und wir haben im Gegensatz zu anderen die Möglichkeit, die Augen zu schließen und uns an die Momente unserer Reise zu erinnern.

Welche Momente sind das?

Bicker: Das sind so viele. Etwa das Abreiten von fünf Meter hohen Wellen mit einem Ruderboot. Der unglaublich weite Blick, gerade auch bei spiegelglattem Wasser. Die Delfine, die wir von unserem Boot gesehen haben. Und manchmal stelle ich mir vor, dass ich wieder in unserer Kabine schlafe.

Wirklich? Die muss doch sehr eng gewesen sein.

Bicker: Nein, für uns war die Kabine ja auch der Rückzugsort. Und ehrlich gesagt, war es dort sehr bequem. Ich habe im Boot manchmal besser geschlafen als jetzt im großen Bett. Manchmal überlege ich, ob ich mir große Seesäcke ins Bett packen soll. (lacht)

Kluge: Wir waren nach einer Schicht gerade nachts in der Dunkelheit richtig müde. Und je länger die Reise dauerte, umso mehr wurde die „Doris“ für uns ein glückliches, sicheres Zuhause. Wir hatten alles, was wir brauchten.

Was gab es zu essen?

Ramuschkat: Gefriergetrocknete Nahrung, die man mit heißem Wasser aufgießt. Dann wird daraus zum Beispiel Kartoffeleintopf oder Spaghetti bolognese. Die Geschmäcker waren unterschiedlich bei uns.

Streit: Wir konnten uns im Vorwege die Gerichte aussuchen, ich hätte das noch länger ausgehalten.

Ein kritischer Moment war, als der mit dem Autopiloten gekoppelte Kompass nicht mehr richtig funktionierte.

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Ramuschkat: Das war in der Tat ein Schock. Die „Doris“ hat plötzlich ihre Richtung geändert. Und wir wussten nicht genau, was los war. Wenn so ein Boot auf einmal quer zur Welle steht, kann es kentern. Oder die Skulls geraten unter den Rumpf und können brechen. Wir haben das ganz gut in den Griff bekommen. Aber die Vorstellung, dass der Kompass die nächsten 20 Tage ausfallen könnte und damit unser elektronisches Leitsystem, war sehr unangenehm. Aber wir hätten noch einen normalen Kompass gehabt und ein manuelles GPS. Wir wären also nicht komplett verloren gewesen.

Kluge: Aber ein so schweres Boot manuell zu steuern hätte uns auch körperlich sehr gefordert. Aber wir waren in diesem Moment so sehr beschäftigt, nach einer Lösung zu suchen, dass für Gefühle wie Angst oder große Sorge nicht so viel Platz war.

Bicker: Wir hatten Glück, dass das am Tag passiert ist. Und nicht in der dunklen Nacht.

Kluge: Und wir hatten Glück, dass zu diesem Zeitpunkt gerade eine Bootsmesse in Düsseldorf stattfand. Dort war geballte Kompetenz versammelt. Mithilfe dieser Experten konnten wir den Kompass wieder neu starten.

Wie lief der Abschied von der „Doris“?

Kluge: Direkt nach der Ankunft gab es noch einen letzten Check. Es wurde alles geprüft, zum Beispiel, ob die Überlebensanzüge und die Ankerkette, halt die schweren Dinge, noch an Bord waren. Wir hätten diese ja auch theoretisch unmittelbar vor dem Start wieder auspacken können, um Gewicht zu sparen. Unser Boot war übrigens besonders sauber, wir haben den Müll immer gut komprimiert. Es ging ja auch um Nachhaltigkeit. Wir haben nach dem Check noch ein Foto gemacht, bekamen die Beachflag, auf der unser Teamname und die Deutschlandflagge eingetragen waren, überreicht. Dann wurde die „Doris“ zum Verschiffen verfrachtet. Wir hatten sie schon vor dem Rennen verkauft, um mit dem Erlös unsere Charity-Aktionen zu finanzieren (siehe Kasten auf dieser Seite, die Red.) .

Ramuschkat: Das Boot liegt jetzt in England. Eine Frauen-Crew will 2020/21 mit der „Doris“ an den Start gehen. So richtig wollten wir uns nach der offiziellen Ehrung in London von unserem Boot auf der Werft verabschieden. Aber Corona hat all diese Pläne durcheinandergewirbelt.

Das Rennen:

  • Die Ruder-Regatta von den Kanaren bis in die Karibik fand erstmals 1997 statt. Seit 2011 sponsert die Whisky-Destillerie Talisker den Wettbewerb. Gestartet wird in hochseetauglichen Ruderbooten mit Schlafkabinen für Einer, Zweier, Dreier und Vierer.
  • Jedes Boot ist auf sich allein gestellt (also ohne Begleitschiffe), die Crews telefonieren täglich mit der Rennleitung über Satellit. Die Teilnehmer sind angesichts der meterhohen Wellen stets angeleint. Trinkwasser wird aus solarbetriebenen Entsalzungsanlagen gewonnen. Die Teams machen rund 1,5 Millionen Ruderschläge.

Wie haben Sie körperlich diese so anstrengenden sechs Wochen verkraftet?

Kluge: Wir haben auf dem Atlantik ähnlich wie alle Teams sieben bis elf Kilo Gewicht verloren. Das haben wir allerdings noch auf Antigua schnell wieder ausgeglichen. Unser Appetit auf frisches Essen dort war schon gigantisch. Ansonsten hatten wir ein paar Probleme mit der Haut und durch die wochenlange Ruderei eine Krallenhand, was sich darin äußert, dass sich die Finger schlecht schließen und wieder öffnen lassen. Aber dies wird sich wieder bessern. Also insgesamt haben wir die Challenge relativ unbeschädigt überstanden.

Und psychisch?

Kluge: An Bord der „Doris“ haben wir sehr viel geträumt, weil man alle zwei Stunden für die nächste Schicht wieder geweckt wurde. Diese Träume waren zum Teil sehr witzig. Ich wurde von den anderen immer direkt gefragt, ob ich wieder was Lustiges geträumt habe, wenn ich nachts aus der Kabine kam.

Wie sehr hat die Reise verändert?

Kurs halten auch bei meterhohen Wellen: Auf die „Doris“ war Verlass.
Kurs halten auch bei meterhohen Wellen: Auf die „Doris“ war Verlass. © Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen | Close Distance Productions/Wellenbrecherinnen

Kluge: Ich habe mich auf der Reise über jeden Morgen gefreut, wenn das Tageslicht wieder zu sehen war, und habe jeden Tag besonders begrüßt. Hallo, schöner guter Morgen, schön, dass du da bist! Danke für die ruhige Nacht. Das habe ich gar nicht laut gesagt, sondern nur für mich. Das mache ich nun auch zu Hause. Wobei es natürlich auf dem Meer schon anders ist, wo man direkt in der Natur aufwacht.

Streit: Ich habe auf dem Atlantik meine Arbeit komplett vergessen. Für mich war das nach der Rückkehr beruflich ein echter Neustart. Mein Chef sieht dies sehr positiv, weil ich viele Dinge noch mal anders sehe, von einer anderen Seite betrachte. Viele finden, dass ich gelassener geworden bin. Und voller Energie stecke.

Ramuschkat: Mir geht das ähnlich. Gerade bei der Arbeit merke ich, dass ich mich nicht mehr so leicht stressen lasse. Wenn die Patienten mal länger warten müssen, beeile ich mich zwar. Aber ich will dennoch jedem die Zeit geben, die er braucht. Ich hatte schon immer einen perfektionistischen Drang. Aber ich spüre, dass mich nichts mehr so richtig aus der Ruhe bringt. Und ich denke viel nach. Was sind die langfristigen Ziele im Leben? Da habe ich aber noch nicht die erleuchtende Antwort gefunden. Im Alltag fehlt mir diese unbeschreibliche Freiheit auf dem Atlantik. Aber damit muss man eben fertig werden.

Bicker: Ich glaube, wir selber merken diese Veränderungen gar nicht so stark, unserem Umfeld ist das viel deutlicher bewusst. Für uns war die Veränderung ein schleichender Prozess, aber für Freunde, Verwandte und Kollegen sind wir auf einmal anders, haben andere Ideen und Sichtweisen.

Würden Sie das große Abenteuer ein zweites Mal wagen?

Ramuschkat: Ich würde es sofort wieder machen.

Streit: Ich auch. Von mir aus kann es morgen schon losgehen. Oder jetzt gleich.

Bicker: Als ich in Antigua von Bord gegangen bin, habe ich zu mir gesagt: Das war es jetzt. Aber je mehr Zeit vergeht, umso schöner werden die Erinnerungen. Man vergisst schnell, wie furchtbar schlecht es einem ging. Am meisten reizen würde mich eine andere personelle Konstellation. Vielleicht in einem Zweierteam.

Kluge: Ich weiß ja jetzt, dass ich keine Meeresbraut bin. Daher eher nicht. Aber ich würde es mir überlegen, wenn ein Team dringend jemanden sucht, weil kurzfristig ein Crewmitglied aus gesundheitlichen oder familiären Gründen ausfallen sollte. Ich weiß, wie viel Vorbereitung hinter einer Teilnahme steckt. Und an den vorgeschriebenen Kursen habe ich ja allesamt teilgenommen, die Bescheinigungen sind noch gültig. Aber mit einem neuen Team würde man immer vergleichen, wie es bei unserem Abenteuer war. Und vielleicht den Teamgeist vermissen. Und wir waren das erste komplett deutsche Team bei diesem Rennen. Wir haben Geschichte geschrieben. Mehr geht nicht.