Hamburg. Virus nimmt Umweltschützern ihr wichtigstes Instrument – Massenprotest auf der Straße. Oder ist Pandemie eine Chance?
Die Ziffern der Rathausuhr rücken auf 9.45 Uhr, als der rote Transporter an diesem sonnigen Freitag im April auf dem Hamburger Rathausmarkt vorfährt. Acht Aktivisten sperren mit Flatterband ein rund 600 Quadratmeter großes Rechteck ab. Die jungen Frauen und Männer holen 600 Plakate und Spruchbanner aus dem Auto, drapieren sie auf dem Pflaster, die Zeit läuft, um 11 Uhr muss die Aktion beendet sein.
Auf den eilig aufgebauten Stelen kleben Flugblätter. Unter der Überschrift in roten großen Buchstaben „Schützen Sie sich und andere, bitte lesen Sie diesen Text allein und gehen Sie zügig weiter“ verschwindet fast die eigentliche Botschaft: „Mit dieser Schilderaktion appellieren wir an die Hamburgische Bürgerschaft mit der Forderung, endlich vernünftiges Krisenmanagement zu betreiben.“ Nur ein paar Männer, die auf den Bänken mit Bierdosen in der Sonne dösen, schauen zu, mehr amüsiert denn interessiert.
Fridays for Future demonstrierte in Hamburger Innenstadt
Noch am 22. Februar waren Zehntausende durch die Innenstadt gezogen. Greta Thunberg, Ikone der Klimaschutz-Bewegung, attackierte bei der Abschlusskundgebung die Politiker: „Ich weiß nicht, wie sie den Kindern in die Augen schauen können, während sie ihnen die Zukunft stehlen.“ Fettes Brot, eine der bekanntesten deutschen Hip-Hop-Bands, sang auf dem Heiligengeistfeld Lieder gegen Neonazis, an der U-Bahn-Brücke Rödingsmarkt seilten sich Aktivisten ab und entrollten ein Plakat mit der Aufschrift „Klimawandel – schneller als die Politik erlaubt“.
Ganze zwei Monate liegen zwischen diesen beiden Demonstrationen. Und doch wirken sie wie aus zwei verschiedenen Welten. Hier Luftballons, Lautsprecherwagen, ein nicht abreißender Menschenstrom, bunt, laut, schrill. Dort Flatterband, Klebestreifen, Schutzmasken. Und Leere, Stille.
Klimastreik in Hamburg mit Greta Thunberg und Fettes Brot
Wer die Bilder vergleicht, fragt sich: Bedeutet Corona das Ende einer Bewegung, die wie keine andere auf ihre Präsenz auf der Straße setzt? Auf öffentlichkeitswirksame Schulstreiks mit Massenkundgebungen, organisiert über den ganzen Globus? Und was macht die Corona-Krise mit denen, die in den vergangenen Monaten genau diese Aktionen organisiert haben? Leiden sie wie Sänger, die statt in großen Arenen nun nur noch in ihren Wohnzimmern für eine überschaubare Internet-Gemeinde konzertieren?
Plakate-Aktion auf dem Rathausmarkt
Philipp Wenzel (22) und Arnaud Boehmann (24) wirken an diesem Freitag bei der Plakate-Aktion auf dem Rathausmarkt alles andere als frustriert. „Klappt doch alles super“, freut sich Wenzel, in einer Zeit ohne Pandemie würden die beiden jetzt wahrscheinlich abklatschen. Aber das geht natürlich jetzt nicht. Als der Abendblatt-Reporter einen Kaffee in der Backstube spendieren will, zögern beide kurz, die Einwegbecher seien ja alles andere als klimafreundlich. Wenn überhaupt, dann bitte ohne den üblichen Plastikdeckel.
Die beiden Studenten zählten schon bei den großen Demonstrationen im vergangenen Jahr zu den zentralen Figuren der Hamburger Bewegung – Wenzel als Pressekoordinator, Boehmann als einer der vier Sprecher der Hamburger Gruppe.
Auf eine mitgebrachte Leiter, sechs Meter hoch, klemmt ein Aktivist eine Kamera, die die gesamte Aktion streamt. Und von oben ändert sich die Perspektive. Jetzt umrahmen auf dem bekanntesten Platz der zweitgrößten deutschen Stadt 600 selbst gemalte Plakate mit Sprüchen wie „Opa, was ist ein Schneemann?“ das riesige Klimastreik-Banner.
Die Botschaft dahinter ist klar: Unsere Mission transportieren wir auch ohne Menschen. In Fridays-for-Future-Kreisen heißt es, dass viele Polizisten mit den Zielen der Klimaschützer sympathisieren, auch deshalb seien bei den Demos die neuen Elektro-Funkwagen im Einsatz.
„Wenn wir durch Corona der Politik nicht mehr so auf die Füße treten können, indem wir die Massen vor das Rathaus stellen, müssen wir andere Zugangswege finden“, sagt Boehmann. Der Vorteil der Bewegung: Auch die Großdemonstrationen haben die Macher über das Netz organisiert: „Wir mussten uns in unserer Organisation nicht umstellen.“
600 Plakate statt 100.000 Demonstranten
Und in der Tat: Während die Generation Ü 50 in der Vor-Pandemie-Zeit mit „Zoom“ nur den Refrain im Klaus-Lage-Hit „1000 und 1 Nacht“ statt einer Video-Konferenz verband, hat Fridays for Future von Beginn an auf soziale Netzwerke und Internetplattformen gesetzt. Wer so digital denkt, ist in einer Krise mit sehr realen Kontaktverboten klar im Vorteil.
Die Aktion im April organisierten die Hamburger vor allem über WhatsApp: „Schnapp Dir Pinsel und Stifte und male ein Schild.“ Die neun Abgabestellen, darunter zwei Filialen einer Bio-Kette sowie eine Kirchengemeinde, spielten die Organisatoren über Google Maps aus. Mit einem Transporter holten die Aktivisten am Donnerstagabend die Schilder ab, um sie dann am Freitag zum Rathausmarkt zu karren. Der einzig mögliche Weg in Zeiten der Pandemie: Die Innenbehörde hätte niemals gestattet, dass 600 Plakat-Protestierer ihre Werke selbst zum Markt bringen.
Doch zur Wahrheit gehört auch: Die Corona-Krise und ihre Folgen haben Fridays for Future hart getroffen. 2019 war ihr Jahr, die Bewegung ist zu einer Macht geworden. Schüler und Studenten gelang es, den Klimaschutz ganz oben auf die politische Agenda der Bundesrepublik zu setzen, wie dies zahlreichen etablierten Initiativen zuvor nicht gelungen war.
Das Etikett „in Zusammenarbeit mit Fridays for Future“, mit dem sich viele der Initiativen schmückten, erschien plötzlich wie ein Qualitätssiegel. Die Unterstützung für das Klimaschutzanliegen reicht weit in die Gesellschaft hinein – mit den „Parents for Future“ beispielsweise, den „Scientists for Future“, den „Artists-“ , „Farmers-“ oder „Psychologists-“ entstanden zahlreiche „for Future“-Gruppen, wie sie intern heißen.
Die eloquente Studentin Luisa Neubauer, die aus Hamburg stammt, wurde zum deutschen Gesicht der Bewegung. Das Thema war allgegenwärtig, der Umgang mit dem Klimaschutz schien auch Wahlen entscheiden zu können. Und das verdankte Fridays for Future vor allem der Präsenz auf der Straße, den Bildern der Hunderttausenden von Menschen, die weltweit für ein Umdenken in der Politik demonstrierten.
Netzstreiks halten die eigenen Anhänger bei der Stange
Dann kam Corona – und Klimastreiks und Protestmärsche waren vom einen auf den anderen Tag nicht mehr möglich. „Man hat schon gemerkt, dass es eine Umstellung war, auf die Demos zu verzichten. Damit sind wir groß geworden. Für viele ist es die Identität von Fridays for Future, auf der Straße zu streiken“, sagt Arnaud Boehmann. „Selbstverständlich fehlt uns das.“
Die Klimaschützer mussten sich kurz schütteln. „Aber innerhalb weniger Wochen haben wir relativ zügig neue Zuversicht gewonnen. Wir profitieren davon, dass wir gut vernetzt sind, dass jeder jeden kennt. Deshalb war es gar nicht so schwer, den Protest ins Netz zu verlegen.“ Es sei gelungen, dem „Protest ein neues Gesicht“ zu geben. „Das ist eine Herausforderung, aber da sind wir gut dabei“, sagt Arnaud Boehmann.
Allerdings: Die öffentliche Aufmerksamkeit, die Fridays for Future mit ihren Massendemonstrationen erlangte, erzielt sie mit ihren Netzaktionen und Livestreams bisher nicht. Beobachter glauben, dass die Bewegung damit vor allem die eigenen Anhänger erreicht – und sie bei der Stange hält.
„Der Livestream richtete sich eher an die Aktivisten und an die Medien“, sagt Prof. Sebastian Haunss, Protestforscher an der Universität Bremen. Die Corona-Einschränkungen würden die Bewegung treffen: „Die Forschung zeigt, dass reine Online-Demonstrationen bislang noch nicht wirklich funktioniert haben. Auch die Protestaktionen gegen Upload-Filter im Internet haben erst dann wirklich Wirkung gezeigt, als sie auf die Straße getragen wurden.“
Ohnehin schien Fridays for Future schon vor Corona ein wenig an Schwung zu verlieren, zumindest auf der Straße. Die Zahl von bis zu 100.000 Teilnehmern bei der Demo am 22. September wurde im November und Februar nicht annähernd wieder erreicht. Die Veranstalter schätzten jeweils rund 55.000 bis 60.000, die Polizei sprach von 20.000 bis 30.000 Teilnehmern.
Verdrängt Corona-Pandemie den Klimaschutz als Thema?
Arnaud Boehmann schiebt dies vor allem aufs Wetter: „Wenn wir im Mai oder Juni wieder eine Demo auf die Beine stellen könnten, wären sicherlich ebenso viele Leute da wie im September“. Annika Rittmann, ebenfalls eine Sprecherin der Hamburger Gruppe, sagt: „Auch wenn irgendwann weniger Menschen auf der Straße stehen sollten, bleibt das Thema wichtig – und wir werden weitermachen.“
Dennoch müsse man sich damit auseinandersetzen: „Wir müssen uns überlegen, wie wir wieder mehr Aufmerksamkeit für das Thema schaffen können, und uns kreativere Aktionen überlegen, um etwas Neues zu bieten.“ Protestforscher Haunss bestätigt dies: „Es war klug, auf selbst gemalte Bilder zu setzen, die bundesweit auf zentralen Plätzen verteilt wurden, stellvertretend für Demonstrationsteilnehmer. Dies war eine kreative Idee, die es so noch nicht gab. Zudem gab es ein weiteres nicht digitales Format mit Transparenten, die aus Fenstern gehängt wurden, ebenfalls ein gutes Signal.“
Aber können solche Aktionen wirklich verhindern, dass die allgegenwärtige Corona-Pandemie und ihre gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen das Thema Klimaschutz aus der Wahrnehmung der Menschen verdrängt? „Wir befinden uns in einer sehr ernst zu nehmenden Krise, deren Auswirkungen wir im Gegensatz zur Klimakrise hier in Deutschland jeden Tag spüren. Da ist es selbstverständlich, dass die Menschen viel über dieses Thema nachdenken und reden“, gibt Annika Rittmann zu.
Ergeht es der Bewegung am Ende wie der Piratenpartei, die 2011/12 mit Stimmenanteilen um die acht Prozent gleich vier Landesparlamente (Berlin, Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen) kaperte und nun Richtung völliger Bedeutungslosigkeit steuert?
Haunss hält diese Parallele für falsch: „Die Piratenpartei zielt auf Wahlen, auf die Beteiligung in Parlamenten. Wenn eine solche Partei ihre Wahlziele verfehlt, schwindet automatisch das öffentliche Interesse an ihr.“ Fridays for Future sei dagegen eine gesellschaftliche Protestbewegung, zu vergleichen mit der Anti-Atomkraft-Bewegung oder mit der Frauenbewegung: „Solche Bewegungen bekommen nicht nur alle vier Jahre bei Wahlen öffentliche Aufmerksamkeit.
Fridays for Future findet immer noch Gehör
Das hängt vielmehr von ihren eigenen Aktionen ab. Solange ihr Thema relevant bleibt, gibt es für sie immer wieder Gelegenheiten, Aufmerksamkeit zu bekommen.“ Und dies sei bei Fridays for Future ohne Frage der Fall: „Die Klima-Beschlüsse der Bundesregierung sowie die Klimanotstands-Erklärungen in Städten und Gemeinden auch vonseiten der etablierten Politik haben dazu beigetragen, dass das Thema Klimawandel weiter politisch präsent bleiben wird.“
Dafür will auch Fridays for Future sorgen. „Wir finden immer noch Gehör. Wenn jetzt die Forderung aufkommt, die Klimaziele zu lockern, dann geht das gar nicht. Deshalb sind wir da und machen weiter“, sagt Annika Rittmann kämpferisch. Zum – vielleicht notwendigen – Innehalten jedenfalls ist die Bewegung kaum gekommen.
Sie richtet ihren Blick bereits auf die Zeit nach Corona – und darauf, wie die Wirtschaft mithilfe staatlicher Hilfsprogramme wieder aufgebaut wird. Hier liegen große Chancen – aber auch Gefahren; vielleicht steht man an einer entscheidenden Weggabelung bei der Frage, ob Deutschland Ernst macht mit dem Umbau zu einer deutlich klimafreundlicheren Wirtschaft und Gesellschaft oder aber wieder zurückfällt.
„Natürlich besteht eine große Gefahr, dass jetzt versucht wird, Vereinbarungen zum Klimaschutz wieder zu lockern – dagegen müssen wir eintreten“, sagt Annika Rittmann. „Auf der anderen Seite wird bereits darüber diskutiert, dass man Investitionen nach der Corona-Krise an sozialökologische Bedingungen knüpfen muss. Wenn der Staat jetzt finanzielle Hilfen leistet, muss er damit Impulse für nachhaltiges Wirtschaften setzen.“
Auch ihr Co-Sprecher Arnaud Boehmann fordert: „Wir dürfen die Fortschritte, die wir im vergangenen Jahr auf dem Weg zur Erreichung der Klimaziele gemacht haben, nicht zurückdrehen. Für die Bewältigung der Corona-Epidemie müssen wir jetzt einen Sprint hinlegen, aber in Sachen Klimaschutz haben wir einen Marathon vor uns.“
Die Stimmen aus allen Bereichen, die dazu aufrufen, die Wirtschaft durch Investitionen im Zuge der Corona-Krise stärker ökologisch aufzustellen, würden zahlreicher. „Da hat unsere Arbeit im vergangenen Jahr bereits zu einer Bewusstseinsveränderung geführt“, ist er überzeugt. Bei den groß angelegten staatlichen Unterstützungsprogrammen liege eine wichtige Stellschraube. „Die muss man entsprechend widmen, um den Klimaschutz zu stärken.“
2020 könnte zum Jahr der Entscheidung werden
2019 war das Jahr des Aufstiegs von Fridays for Future. 2020 könnte zum Jahr der Entscheidung werden. Auch wenn Kritiker ihre manchmal schon fast sakrale Inbrunst und ihr oft kompromissloses Sendungsbewusstsein nervt: Viele der Unterstützer haben sich – manchmal bis zur Erschöpfung – bereits in den Monaten vor Corona aufgerieben für ihre Sache, getrieben vom Idealismus, eine bessere Welt zu schaffen, und der Angst, es könnte in Sachen Klimaschutz bald zu spät sein. 20, 30 Stunden haben einige von ihnen Woche für Woche investiert, neben Schule oder Studium, um Demonstrationen zu organisieren, Transparente zu malen, in einer der zahlreichen AGs Konzepte zu entwickeln, die Internetpräsenz zu optimieren.
Infos rund um Fridays for Future:
- Fridays for Future (Kurzform FFF) ist eine globale Bewegung, die von Schülern und Studenten initiiert wird, die sich für einen schnelleren und effizienteren Klimaschutz einsetzen
- Die Gründerin der Bewegung ist Greta Thunberg. Sie rief Fridays for Future im August 2018 ins Leben
- Jeden Freitag bestreiken Schüler auf der ganzen Welt den Schulunterricht und gehen für ein besseres Klima auf die Straße
- In Hamburg ist Luisa Neubauer das Gesicht von Fridays for Future
- Am 20. September 2019 beteiligten sich in Hamburg mindestens 70.000 Menschen an dem Protest und setzten ein Zeichen für den Klimaschutz
Mit dabei ist Emma Pfeuffer, eine 16-jährige Zehntklässlerin der christlichen August-Hermann-Francke-Stadtteilschule auf der Uhlenhorst. Sie trägt Zahnspange, beschäftigt sich, wie sie sagt, seit einem Jugendcamp 2018 intensiv mit der Klima-Debatte. Inzwischen gehört sie als Spezialistin für Logistik zu den wichtigsten Aktivisten der Hamburger Bewegung.
Sie organisiert etwa Bierbänke und Warnwesten. Bei der Großdemo im September dirigierte sie sogar per Funk von der Bühne die Position der Lautsprecherwagen im Demo-Zug, drei Tage später feierte sie ihren 16. Geburtstag. Laut Jugendschutzgesetz hätte sie mit 15 noch nicht einmal allein eine Kneipe besuchen dürfen.
„Ich habe über Funk mitbekommen, wie viele Leute da unterwegs sind“, erinnert sie sich. Nie hätte sie mit einem solchen Andrang gerechnet. Und doch sei sie nicht nervös geworden: „Ich hatte gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken. Und ich wusste, dass dort Leute im Zug unterwegs sind, denen ich vertrauen kann.“
Klimaschützer werden als Schulschwänzer verunglimpft
Auch die jüngste Bilderaktion organisierte vor allem sie, sprach mit dem Gesundheitsamt über die Corona-Auflagen, füllte die Anmeldung für die Demonstration aus. Dabei sei sie eigentlich ein eher chaotischer Typ: „Erst durch Fridays for Future habe ich gelernt, dass man solche Aktionen mit System angehen muss.“ Und die Schule? „Ich versuche im Unterricht mehr aufzupassen.“ Und im Zweifelsfall verzichte sie auch mal auf ein Organisationstreffen, um daheim zu lernen.
Wer sich näher mit der Fridays-for-Future-Bewegung beschäftigt, lernt schnell, dass das vor allem in rechten Kreisen gepflegte Vorurteil, die jungen Klimaschützer seien in Wahrheit doch nur Schulschwänzer, mit der Realität nichts zu tun hat. Wer etwa Annika Rittmann mangelndes Engagement für den Unterricht unterstellt, könnte auch Uwe Seeler vorwerfen, er habe in seiner Laufbahn den Kampfgeist vermissen lassen. Die 17-Jährige macht gerade Abitur am Gymnasium Blankenese, hört als Junior-Studentin bereits Mathe-Vorlesungen an der Uni Hamburg, spielt Klarinette und gibt Nachhilfe.
Arnaud Boehmann konzentriert sich derzeit zwar ganz auf Fridays for Future, passt indes gar nicht zum oft bemühten Klischee des ewigen Studenten. Seine Bachelor-Arbeit über „Strukturelle Defizite der chinesischen Militär-Reformen zwischen 1860 und 1894“ hat er abgeschlossen und arbeitet weiter als Wissenschaftliche Hilfskraft am Kieler Institut für Sicherheitspolitik. Nur Corona kann noch seinen Plan vom Studium in Singapur durchkreuzen, die Zusage der Uni hat er bereits.
Viele der Klimaschützer wirken älter als ihre 17 oder 18 Jahre
Wer das derzeit nur digital an Sonntagen oder Sonnabenden tagende Plenum im Netz verfolgt, entdeckt viele Rittmanns und Boehmanns. Sie wirken oft älter als ihre 17, 18 oder 19 Jahre. Wenn sie sprechen, fallen häufig Worte wie „Akteure“, „sozioökologische Bedingungen“ oder „Diskurs“. Wäre nicht ab und zu Jugendslang wie „total nice“ oder „echt krass“ zu hören, man könnte sich auch bei einer virtuellen Sitzung eines Parlaments wähnen. Obwohl auf dem Bildschirm die rund 90 Teilnehmer fast zu Pixeln verschwinden, herrscht große Disziplin. Keine Blödeleien, keine Zwischenrufe.
Wer für einen Posten etwa in der Pressekoordination kandidiert, stellt sich kurz vor, die Moderatoren führen straff durch die Tagesordnung. Anfragen von außen etwa für die Teilnahme an Podiumsdiskussionen werden kurz vorgestellt, dann wird abgestimmt oder in eine Arbeitsgruppe verwiesen.
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Auch die regelmäßigen Einsteiger-Workshops haben mit irgendwelchen Sponti-Veranstaltungen nichts gemein. Nach der kurzen Vorstellungsrunde der Interessenten erklärt ein Aktivist mit Diagrammen den Aufbau der Hamburger mit den Arbeitsgruppen. Zuvor erscheint ein Chart mit sieben verschiedenen Handzeichen mit den Kommunikationsregeln: Wedeln heißt Zustimmung, X bedeutet Ablehnung, Dach signalisiert eine Verständnisfrage.
„Fridays for Future ist unglaublich pragmatisch. Keine Studentengruppe der Welt hätte diese Bewegung aufbauen können“, sagt Sprecher Boehmann, der schon als 15-Jähriger seine erste Demo in Westerstede im Ammerland zum Gedenken an die Reichspogromnacht organisierte. Die klaren Regeln sollen auch eine spontane feindliche Übernahme verhindern: Abstimmen darf nur, wer zweimal binnen vier Wochen an einer Plenumssitzung teilgenommen hat.
Luisa Neubauer zur deutschen Greta Thunberg stilisiert
In der Graswurzelbewegung wird alles in den vielen Ortsgruppen und zahlreichen Arbeitsgruppen ausdiskutiert und dann gemeinsam entschieden. Die strikte Basisdemokratie, die an die Grünen in ihren Anfängen erinnert, mag kräftezehrend sein, sie ist aber zugleich auch eine Stärke der noch jungen Bewegung. „Durch die lokalen Strukturen ist Fridays for Future in der Gesellschaft verankert“, sagt Protestforscher Haunss.
So fällt es ihr leicht, neue Mitstreiter zu gewinnen und zu motivieren. Hier kann man gleich mitreden. Für Neue gibt es ein „Onboarding“, sie werden in die Arbeitsweise eingewiesen. Etwa 150 Jugendliche umfasst die Hamburger Ortsgruppe. Rund 60 von ihnen, so heißt es, engagieren sich wirklich ganz regelmäßig. Bei den wöchentlichen Plenumssitzungen sind stets rund 30 Personen dabei – in diesen Zeiten virtuell, versteht sich.
Daneben gibt es die Programm-AG und die Struktur-AG, die Presse-AG, die Awareness-AG, die Musik-AG. Eine Arbeitsgruppe kümmert sich darum, dass sich die Botschaften von FFF bestmöglich im Netz verbreiten. Ihre klug ausgeklügelte Präsenz in den sozialen Medien hat im vergangenen Jahr dazu beigetragen, dass aus einer Handvoll Schülern, die jeden Freitag vor dem Rathaus standen und ihre Schilder hochhielten, eine machtvolle Bewegung wurde, glauben viele. Eine Technik AG hilft unter anderem freitags beim Aufbau.
Andererseits birgt der Jugend-forsch-Drang auch eine Gefahr, sagt Protestforscher Haunss: „Ein Problem könnte sich für Fridays for Future entwickeln, wenn es nicht gelingt, die älteren Unterstützer, die inzwischen bei den Demonstrationen die deutliche Mehrheit stellen, in die Organisationsstrukturen einzubinden.“ Eine Bewegung könne auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn sie breite Unterstützung findet und wenn sie denen, die mit ihr auf die Straße gehen, auch Möglichkeiten der Beteiligung bietet.
Luisa Neubauer in vielen Talkshows präsent
Wenn Luisa Neubauer, die eine Zeit lang in vielen Talkshows präsent war, von den Medien zur „deutschen Greta Thunberg“ stilisiert wird, löst das in der Bewegung nicht unbedingt Jubel aus. Wie bei den Grünen in ihren Anfangsjahren, als Amts- und Mandatsträger streng rotieren mussten, wendet man sich gegen einen Personenkult in den eigenen Reihen. „Es ist wichtig, dass das Thema im Fokus bleibt und nicht einzelne Personen“, sagt Annika Rittmann. „Wir wissen, dass sich ein Thema besser transportieren lässt, wenn es mit Gesichtern verknüpft wird, und es würde niemand Luisa den Mund verbieten, aber wir wollen, dass alle dabei sind.“
Dezentral sind in Hamburg auch die Finanzen organisiert. Als die Fridays-for-Future-Bewegung begann, größer zu werden, gründete sie zur Verwaltung der Finanzen einen eigenen Verein: Donate for Future. Weil dafür Volljährige gebraucht wurden, waren auch Parents for Future mit an Bord. Zum Vorstand des Vereins, der derzeit 14 Mitglieder hat, gehört Andreas Schnor, er ist 18 Jahre alt.
Fridays for Future bemüht sich in Hamburg um Transparenz. Ideeller Zweck des gemeinnützigen Vereins ist der Umweltschutz, er ist der Förderverein aller Umweltschutzprojekte von FFF. Konkret hat er die Aufgabe, die Spendengelder zu verwalten, die FFF sammelt, sie für die Finanzierung von Demos und anderen Projekten auszuzahlen und dem Finanzamt eine Buchführung vorzulegen.
Juristen, die die Klimaschutzsache unterstützen, kontrollieren ehrenamtlich die Richtigkeit der Zahlungsein- und -ausgänge. „Wie jeder Verein verfassen wir einen Jahres- und einen Steuerbericht, ein Kassenprüfer begutachtet unsere Finanzen, und wir werden vom Finanzamt geprüft“, sagt Schnor. „Es gibt einen klaren Rahmen, an den wir uns halten müssen.“
Kosten einer Demo liegen im fünfstelligen Bereich
Das allermeiste Geld werde dafür benötigt, die regelmäßigen kleinen und vor allem großen Demonstrationen zu bezahlen. Größter Posten sind dabei die Bühne und die dazugehörende Technik sowie das Personal zum Aufbau; daneben müssen Lautsprecherwagen, mobile Toiletten und Ähnliches angemietet werden, hinzu kommen Versicherungen.
Wer Geld benötigt, stellt einen Antrag, den der Vereinsvorstand bewilligen muss. Über Ausgaben von mehr als 5000 Euro entscheide zusätzlich ein dreiköpfiger Förderrat, so Schnor. Auch die Juristen schauten noch einmal drauf, ob die Ausgabe tatsächlich dem gemeinnützigen Zweck entspreche.
Die Gesamtkosten für eine Großdemonstration bewegten sich „im unteren bis mittleren fünfstelligen Bereich“, heißt es von den Verantwortlichen. „Kosten, die wir haben, werden von den Spenden gedeckt, aber wir gehen da plus minus null raus“, sagt Schnor.
Auf den Demonstrationen wird wiederum emsig gesammelt. „Die Spendenbereitschaft ist groß, weil viele Menschen unsere Ziele für richtig halten und uns unterstützen wollen“, sagt Annika Rittmann. Meist seien es Mitglieder der Ortsgruppe, die sich für diese Aufgabe registrieren lassen und in kleinen Gruppen, klar gekennzeichnet, auf den Protestmärschen unterwegs sind – mit Boxen, deren Deckel bis auf einen Schlitz zugeklebt sind.
Ohne Präsenz auf der Straße fließen weniger Spenden
Ohne Präsenz auf der Straße fließen derzeit weniger Spenden. Andererseits gibt es ohne Großdemonstrationen auch weniger Finanzbedarf. Würde die Bewegung irgendwann aufgelöst, fließt die Hälfte des dann angesammelten Geldes an die Stiftung Plant-for-the-Planet, die andere Hälfte an den BUND, so steht es in der Satzung. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass sie demselben ideellen Zweck entsprechen müssen wie FFF.
Mittlerweile planen die Klimaschützer wieder mehr Aktionen auf der Straße – in enger Absprache mit der Versammlungsbehörde und unter Beachtung der Hygieneregeln. Sie wollen ihre Positionen einbringen in die Koalitionsverhandlungen von Rot-Grün in Hamburg, fordern ein nachhaltiges Konjunkturprogramm und eine Nachbesserung des Hamburger Klimaplans.
Der Senat habe in der Corona-Krise gezeigt, dass er der Wissenschaft gegenüber nicht beratungsresistent ist, sagt Annika Rittmann. „Dies muss auch für seine Klimapolitik gelten.“ Um während der laufenden Koalitionsverhandlungen von Rot-Grün ein Signal zu setzen, demonstrierten am Freitag vergangener Woche – auflagenbedingt – 25 Fridays-for-Future-Anhänger draußen auf dem Rathausmarkt. Immerhin: Das sind schon mehr als bei der Plakataktion im April. Man wolle die Verhandlungspartner daran erinnern, dass die Hamburger im Februar „konsequenten Klimaschutz gewählt“ haben, heißt es. Es geht darum, Flagge zu zeigen.
Personenkult hin oder her – an diesem Tag spricht auch Luisa Neubauer vor dem Rathaus, das ist den Hamburger Klimaschützern sogar eine Ankündigung wert. Nach einem Vorgespräch mit ihrem „Backoffice“ – Luisa Neubauer ist weiterhin eine sehr gefragte Person – ist sie ein paar Tage später am Telefon. „Mit viel Motivation, Energie und zwangsläufig mit viel Kreativität“ werde man es durch die Krise schaffen, sagt sie. „Da bin ich sehr zuversichtlich.“
Klar, sie sei in Sorge, dass der Klimaschutz angesichts der Corona-Krise aus dem Fokus geraten könne. „Die Lage ist vertrackt. Natürlich sehen wir, dass es gewaltiger Anstrengungen bedarf, um die Pandemie zu stoppen. Gleichzeitig ist die Klimakrise ungebrochen da. Die Art, wie wir die Corona-Krise bewältigen, wird mit darüber entscheiden, inwieweit wir den Klimaschutzzielen des Pariser Abkommens gerecht werden können.“ Man könne es sich nicht leisten, diese Ziele aus dem Blick zu verlieren.
Luisa Neubauer fühlt sich an die Anfänge von FFF erinnert
Die Einschränkungen des Demonstrationsrechts sieht sie kritisch. „Die Tatsache, dass derzeit nur unter so großen Beschränkungen protestiert werden darf, bedeutet ein riesiges Defizit an Demokratie. Gerade wenn die Exekutive so viele Entscheidungen trifft, muss die Öffentlichkeit die Möglichkeit haben, ihre Stimme zu erheben“, sagt sie. „Das Machtungleichgewicht zwischen Regierung und Öffentlichkeit war nie größer.“
Wäre die Corona-Krise eine Gelegenheit gewesen, innezuhalten und die Strategie zu überdenken? Man denke laufend über die richtigen Instrumente nach, um Druck auszuüben, sagt sie. „Denn wie viele Menschen zu unseren Demonstrationen kommen, sagt nur zum Teil etwas darüber aus, wie mächtig unser Widerstand ist.“
Die Bürgerschaftswahl in Hamburg beispielsweise habe im Zeichen des Klimaschutzes gestanden, „auch weil wir vor dem eigentlichen Klimastreik das Thema groß gemacht haben. Zu sagen, das hätte nicht funktioniert, wäre eine seltsame Analyse.“ Erst nach dem Ende der Pandemie weiterzumachen – das wäre aus ihrer Sicht ein großer Fehler gewesen: „Die Klimakrise macht ja auch keine Pause.“
Luisa Neubauer fühlt sich derzeit manchmal an die Anfänge der Bewegung erinnert. „Fridays for Future ist aus einer Krise heraus entstanden, wir kennen den Modus, in dem Krisenbewältigung stattfindet, und sind gewissermaßen Krisenexperten, das kommt uns jetzt zugute.“
Aber reicht das alles, um das Überleben zu sichern, wenn es womöglich durch Corona selbst 2021 keine einzige Großdemo geben darf? Man werde selbst bei positiven Signalen aus der Politik nur dann wieder Massen mobilisieren, wenn auch die Wissenschaftler grünes Licht geben, versichern die Sprecher.
Selbst eine lange Demo-Zwangspause werde die Bewegung aber verkraften, weil das Thema Klima immer dominanter werde, ist Arnaud Boehmann überzeugt. Dass inzwischen sogar der Bundesverband der Deutschen Industrie für ein „Klima-Konjunkturpaket“ plädiert, um Investitionen in umweltfreundliche Technologien zu fördern, sei auch ein Verdienst von Fridays for Future. Er ist sicher: „Das Thema wird nicht mehr verschwinden.“ Und 2020 könnte zum Jahr der Entscheidung werden – nicht trotz, sondern wegen Corona.