Hamburg. Stadtforscher über unsere neue Sichtweise durch Corona– und wie sich die Vorteile lebendiger Viertel ins Gegenteil verkehren.
Der Hamburger Stadtforscher Dieter Läpple denkt seit Jahrzehnten über funktionierende Metropolen und ihre Zukunft nach. Die Corona-Krise wird vieles verändern. Der emeritierte HCU-Professor verrät, wie Hamburg darauf reagieren sollte.
Hamburger Abendblatt: Zugesperrte Cafés, geschlossene Restaurant, leere Läden – bekommen Sie derzeit bei einem Stadtbummel Angst um unsere gewachsenen Viertel?
Dieter Läpple: Wir befinden uns in einer äußerst kritischen Situation. Viele der kleinen Läden und Restaurants kämpfen ums ökonomische Überleben. Es gibt zwar Hilfspakete und auch einen zeitlich begrenzten Kündigungsschutz. Doch diese Maßnahmen können die Probleme nur etwas abschwächen. Aber es gibt Hoffnungsschimmer. Die meisten dieser kleinen Unternehmen haben zwar eine sehr dünne Kapitaldecke, aber einige verfügen über ein besonders wertvolles ‚Kapital‘: ihre lokale Stammkundschaft und ihre Lern- und Innovationsbereitschaft. So ist es beispielsweise einigen Buchläden gelungen, in kürzester Zeit auf Online-Lieferungen umzustellen, wodurch sie trotz Lockdown bis zu 80 Prozent ihres ‚normalen‘ Umsatzes erhalten konnten. Und es gibt weitere Beispiele, wo es kleinen Läden, Cafés und Restaurants gelungen ist, den Kontakt zu ihren Kunden zu halten und gleichzeitig eine beachtliche digitale Kompetenz zu erwerben. Besonders bemerkenswert sind die vielen Initiativen zum Aufbau von Quartiers-Plattfomen. #Kiez-retter.de, ein gemeinnütziges Projekt, wo lokale Läden durch Spenden unterstützt werden; das „WebKiezKaufhaus“ zum Beispiel in Berlin, das den Kauf beim lokalen Einzelhandel mit dem Komfort des Onlineshopping verbindet oder die „KiezEngel“, die mit Elektro-Lastenrädern die Kunden im Stadtteil beliefern. Diese Beispiele zeigen, dass in der Krise auch eine große Chance liegt.
Aber ein Trend der abzeichnet: Corona schadet den Kleinen und nützt den Multis, den Amazons dieser Welt ...
Läpple: Die gewachsenen Viertel sind nicht nur durch Corona bedroht, sondern noch sehr viel mehr durch den zunehmenden Konkurrenzdruck von Amazon & Co. und den Verdrängungsdruck großer Filialisten. Mit der Corona-Krise und der damit verbundenen Abstandsregelung wird überdeutlich, dass der Straßenraum in den Quartieren sehr unvernünftig verteilt ist. Auf den Gehwegen ist größtes Gedränge und die Straßen sind vollgestellt mit parkenden Autos oder werden von Fahrzeugen benutzt, in denen selten mehr als eine Person sitzt. Diese absurde Situation haben wir in fast allen großen Städten der Welt. Und überall werden gegenwärtig sinnvolle Lösungen gesucht, um den Fußgängern und Radfahrern mehr Platz einzuräumen und damit auch diese Quartiere attraktiver für Käufer zu machen.
Manches spricht dafür, dass ausgerechnet das eigene Auto wieder aktueller wird. Wer überall Viren vermutet, teilt ungern und verzichtet auf Bus und Bahn ...
Läpple: Ja, die Verunsicherung ist groß. Und es ist verständlich, wenn die Menschen in dieser Situation wieder verstärkt ihr eigenes Auto nutzen. Wenn dies aber alle machen, ist der Verkehrsinfarkt programmiert. Wir werden schnell mit der Grundsatzentscheidung konfrontiert werden: Treibt uns die Angst zurück zur autogerechten Stadt oder finden wir den Mut zur Gestaltung einer Stadt, die weniger vom Auto abhängig ist? Eine polyzentrische Stadt mit einer kreativen Mischung von Wohnen und Arbeiten könnte eine neue Zukunftsperspektive eröffnen, wo über kurze Wege die wichtigsten Einrichtungen des täglichen Bedarfs leicht zu Fuß oder dem Fahrrad erreichbar sind. Die funktionsgemischte und durchgrünte Stadt der kurzen Wege ist keine unerreichbare Utopie. Aber sie stellt sich nicht alleine her. Es bedarf überzeugender Beispiele und mutiger politischer Entscheidungen. Mit dem Bauforum 2019 zum Umbau der Magistralen ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung gemacht worden. Ein großes Problem hat der ÖPNV im Augenblick überall auf der Welt. Er ist zu unflexibel und zwängt im Normalbetrieb wegen mangelnder Kapazitäten die Menschen auf engem Raum zusammen. Jetzt ist der Zeitpunkt, erneut über eine Stadtbahn nachzudenken. Sie kann in den Straßenraum integriert werden, ist leistungsfähig, kann flexibel eingesetzt werden. Aber der erforderliche Umbau der Stadt und der Mobilitätsformen bedeutet das Bohren von sehr dicken Brettern. Und dazu bedarf es Mut. Die Corona-Krise wirft Fragen nach der Zukunftsfähigkeit unserer Städte und unserer Ökonomie mit großer Dringlichkeit auf.
Sie sprechen von der Zukunftsfähigkeit der Städte. Wie zukunftsfähig aber sind Städte, wenn der Traum von gestern - das Leben in urbanen Quartieren mit hoher Dichte - für viele Bewohner plötzlich zum Albtraum wird? Und wenn ein vermeintliches Auslaufmodell, das Häuschen am Stadtrand mit Garten, wieder attraktiv erscheint? Droht am Ende eine Renaissance der Peripherie?
Läpple: Im Kontext einer Stadtregion haben beide Modelle ihre Berechtigung - für unterschiedliche Lebensphasen und Lebensstile. Beide Modelle haben ihre Stärken und Schwächen. Das Leben im urbanen Quartier ist voraussetzungsvoll: Es ist eingebettet in ein dichtes Netz von sozialen Infrastrukturen und Dienstleistungen – Kitas, Schulen, Spielplätze, Parks, Quartiersläden, Restaurants. Wenn diese, wie in der aktuellen Phase der Pandemie, nicht zugänglich sind, werden die großen Vorteile des urbanen Wohnens zum albtraumartigen Problem. Dann träumt man Tucholskys Traum: „Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße“ oder wenigstens ein Häuschen am Stadtrand mit Garten. Aber auch dieses Wohnmodell ist voraussetzungsvoll: Es erfordert eine „Hausfrau“ oder einen „Hausmann“, der oder die den Haushalt organisiert, mindestens ein oder besser zwei Autos und ein planbares Einkommen für den Eigenheimkredit.
Vielleicht kommt auch das wieder?
Läpple: Aber die Frauen, die diese „Hausfrauenrolle“ übernehmen können oder wollen, sind selten geworden. Die Erwerbstätigenquote von Frauen stieg seit 1968 bis heute von 45 auf 73 Prozent und ist inzwischen fast so hoch wie die der Männer. Damit ist das tägliche Leben am Stadtrand für viele Familien - und insbesondere für die Frauen - sehr anstrengend geworden. In den kommenden Jahren werden sich wohl Suburbanisierungs- und Reurbanisierungstendenzen überlagern. Für die Mietentwicklung in den innerstädtischen Quartieren könnte es segensreich sein, wenn der Zuzug in die Stadt etwas gebremst würde. Für die Umwelt wäre die Expansion eines Siedlungsbreis an der Peripherie allerdings weniger segensreich. Aber unsere Städte mit ihrer äußerst differenzierten Bevölkerungsstruktur und ihren unterschiedlichen sozialen und kulturellen Milieus brauchen eine Vielfalt an Wohn- und Arbeitsformen. Und da bietet die Stadtregion, als Stadt und Umland, ein großes Gestaltungspotenzial für eine soziale, ökonomische und ökologische Zukunftsfähigkeit unserer Städte.
Viele Menschen entdecken derzeit die Heimarbeit neu für sich – werden wir in Zukunft dann in unserem Häuschen in der Peripherie arbeiten wollen und die Büros schrumpfen? Wie könnte dieser Trend die städtische Infrastruktur verändern?
Läpple: Mit Corona startete ein historisch einmaliger Feldversuch zur Heimarbeit. Dies hat zu einem Digitalisierungs- und Flexibilisierungsschub geführt, dessen Folgen noch nicht zu übersehen sind. Das Homeoffice wird sich sicherlich auf breiter Front durchsetzen. Die Arbeit wird flexibler und vernetzter. Man spart Pendlerzeit. Die Spitzen des Berufsverkehrs auf der Straße und im öffentlichen Nahverkehr könnten vermieden werden. Der Bedarf an Büroflächen – vor allem im Stadtzentrum – wird zurückgehen, was Spielraum für Nutzungsmischung öffnet. Für die Beschäftigten werden die Grenzen zwischen Privatleben und Arbeit unscharf. Führt dies zu einem „Arbeiten ohne Ende“? Oder erleichtert diese Entwicklung die Vereinbarkeit von Beruf und Familienleben? Studien kommen zu widersprüchlichen Ergebnissen: Heimarbeit führt zu mehr Stress, Überstunden, Isolation und weniger beruflicher Anerkennung, so die einen Forscher; die Arbeit wird effizienter, und die Lebensqualität steigt, so das Ergebnis anderer Studien. Mittelfristig kann erfolgreich eingeübte Heimarbeit dazu führen, dass Unternehmen ihre Stammbelegschaft abbauen und einen Teil der Arbeiten in Form von Werkverträgen über digitale Plattformen vergeben und andere Teile von Algorithmen ausführen lassen. In der Post-Coronazeit wird der Arbeitsmarkt unsicherer sein. Da kann das Häuschen an der Peripherie schnell zur Falle werden. Man ist abgeschnitten von den professionellen Netzwerken und sitzt auf sehr hohen Fixkosten für die Finanzierung des Hauses, des Autos. Möglicherweise ist im digitalen Zeitalter der bessere Standort doch das urbane Quartier, so wie heute schon die vielen Soloselbstständigen ihren Wohn- und Arbeitsort nicht am Stadtrand, sondern eher in urbanen Quartieren suchen.
Krisen sind immer auch Chancen - weil sie uns aus alten Denkmustern zwingen. Der ehemalige Stadtentwicklungssenator Maier hat vorgeschlagen, Magistralen eine Spur zu nehmen, um dort in Zeiten von weniger Verkehr Radler fahren zu lassen. Welche Chancen sehen Sie noch?
Läpple: Der Vorschlag von Wilfried Maier gefällt mir sehr gut. Er entspricht meiner Idee einer vernünftigeren Verteilung des Straßenraumes. Die Krise rückt nicht nur den Verkehr, sondern auch die Frage der Arbeit ins Bewusstsein. Es wird schmerzhaft deutlich, dass Hamburgs Wirtschaft – jenseits aller Shutdown- und möglicher Exit-Entscheidungen – nicht zukunftsfähig ist. Wir brauchen dringend eine Erneuerung der Ökonomie. Und diese Erneuerung erfolgt weniger vom Homeoffice aus, sondern könnte sich – zumindest teilweise – in brach gefallenen Fabrik- oder Werfthallen und umgenutzten Garagen entfalten: Jetzt kommt es darauf an, mit massiver Unterstützung Start-ups eine Chance zu geben! Das sind die Kräfte, die zu einer Erneuerung der Ökonomie beitragen. Wir können nicht warten, bis sich innovative Großunternehmen in Hamburg ansiedeln. Das wäre ein Warten auf Godot.
Sondern?
Läpple: Hamburg braucht eine Innovationsoffensive für eine digitale und postfossile Transformation, und zwar nicht nur im Hightech-Bereich, so wichtig dieser ist. Neue digitale Produktionstechniken wie der der 3-D-Drucker oder Leichtbauroboter, neue Materialien und neue Marketingstrategien eröffnen vielfältige Chancen auch für die Konsumgüterindustrie. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat in einer aktuellen Studie aufgezeigt, dass die Digitalisierung das Potenzial besitzt, die räumlichen Standortmuster der Industrie und der damit verbundenen Dienstleistungen neu zu justieren. Das DIW zeigt auf, dass Städte mit dem digitalen Wandel besonders stark von Betriebsneugründungen im Lowtech-Bereich profitieren können. Die Forscher sprechen von einer Reurbanisierung der Industrie, die völlig neue Chancen eröffnet: Städte können demnach zu „Inkubatoren für die Erneuerung der Industrie werden“. Diese Chancen fallen uns aber nicht in den Schoß.
Heißt das konkret, dass wir auch die Stadtplanung anders ausrichten müssen - muss etwa der Grasbrook wegen Corona noch einmal neu und anders gedacht werden?
Läpple: Die Ausgangsidee für den Grasbrook war, auf brach gefallenen Hafenflächen einen Innovationsdistrikt oder einen Innovationsstadtteil zu entwickeln. Diese Grundsatzentscheidung ist heute wichtiger denn je. Der städtebauliche Wettbewerb wurde mit einem breiten Beteiligungsprozess durchgeführt. Und das Ergebnis ist gut und so robust, dass der prämierte Entwurf auch nach Corona Bestand haben kann. Er ermöglicht Anpassungen an eine sich gegenwärtig stark verändernde Ökonomie und Gesellschaft. Mein Plädoyer ist, jetzt den Mut zu haben für Zwischenlösungen und Zwischennutzungen und gewissermaßen experimentell neue Strukturen zu entwickeln. Da wir gleichzeitig in Hamburg vor der Notwendigkeit stehen, eine massive Start-up-Offensive zu starten, bietet es sich an, bereits bestehende gute Ansätze auf dem Grasbrook zu bündeln und zu verstärken. An diesem symbolhaften Standort kann die Aufbruchsstimmung sichtbar und ansteckend gemacht werden. Ein möglicher Vorschlag wäre, ein „Inkubations- und Akzelerations-Campus“ in Form von „fliegenden Bauten“, also temporären Haus-in-Haus-Strukturen unter dem Dach des Überseezentrums. Mögliches Vorbild könnte die äußerst erfolgreiche „Brooklyn Navy Yard“ in New York sein.
Hat Hamburg den Mut zum großen Wurf? Und wie kann das Virus am Ende zum Beschleuniger des Wandels werden?
Läpple: Die Frage der Erneuerung und des Wandels stellt sich natürlich auf vielen Feldern. Aber der Grasbrook könnte zu einem Kristallisationspunkt des Wandels werden. Hier stellen sich die Fragen neuer Nutzungsmischungen und der Klimaneutralität; Fragen des Zusammenlebens unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, denn die Ankunftsstadtteile Veddel und Rothenburgsort sind in direkter Nachbarschaft; Fragen der Kooperation von Wirtschaft und Wissenschaft und die für Hamburg vielleicht größte Herausforderung: neue Kooperationsformen von Hafenwirtschaft und städtischer Wirtschaft. Die zukünftige städtische Wirtschaft ist geprägt von Nutzungsmischung und Vielfalt und nicht von Monostrukturen. Der Hafen muss seine Frontstellung überwinden und sich öffnen für Lösungen, die im Gesamtinteresse der Stadt sind. Der Handlungsdruck ist groß. Der Hafen wird als Umschlagsort weiter an Bedeutung verlieren. Aber mit der Reurbanisierung der Industrie eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Ich hoffe, dass Hamburg tatsächlich den Mut zum Wandel hat. Auf das entscheidende Problem hat schon vor achtzig Jahren der wohl einflussreichste Ökonom des 20. Jahrhunderts, John Maynard Keynes, hingewiesen: Die Schwierigkeit liegt nicht darin, neue Ideen zu entwickeln, sondern aus alten Denkmustern auszubrechen.