Hamburg. 1000 Bühnen, Bars und Betriebe von Krise bedroht. Prostituierte verschwunden. Verändert die Krise das Viertel dauerhaft?

Trotz allem kommt die Tänzerin noch, sagt ihr Kollege. Sie macht sich zurecht, legt Schminke und Lippenstift auf, trägt ein glitzerndes Kostüm. Dann dreht sie die Musik auf, geht allein auf die Bühne des Clubs und beginnt sich zu bewegen. Burlesque, die Kunst des sinnlichen Entblätterns. Ohne Jubel, ohne Lachen bei den Proben, ohne Publikum. Die Show muss weitergehen. „Zumindest wird sie das irgendwann“, sagt der Kollege. „Die Hoffnung glimmt ja ab und an auch wieder auf.“

Am Donnerstagmittag scheint nur die Sonne auf den leeren, grauen Kiez. Es ist die sechste Woche des Dornröschenschlafes. Auf der Großen Freiheit durchschneidet der Lärm von Bauarbeiten an der Straße die Stille. An der Reeperbahn streunert ein einzelner Herr mit ledernem Gesicht über den Gehweg, auf dem Kopf eine Kapitänsmütze. „Hau mir langsam mal ab mit diesem Mist“, sagt er, wenn man ihn auf die Coronakrise anspricht. „Ich bin jedenfalls kerngesund. St. Pauli ohne Peoples, das geht nicht mehr lange gut“, sagt er und geht.

Kiez sucht nach einem Weg durch die Corona-Misere

25.000 Menschen sind an normalen Wochenenden in der Spitze auf St. Pauli unterwegs, besaufen sich am Leben. Allein die beiden Geldautomaten der Haspa spucken bis zu 29 Millionen Euro an Bargeld pro Jahr aus, das direkt in die Kassen der Bars, Clubs, Striplokale, Bordelle, Restaurants und Geschäfte fließt. Alles vorbei. „Wenn man alle mitzählt, sind wohl bis zu 1000 Betriebe auf St. Pauli betroffen“, sagt die Quartiersmanagerin Julia Staron. Realistisch gesehen werde nicht jeder von ihnen überleben, selbst wenn die Verbote gelockert sind.

Ein Souvenirshop hat kurzerhand auf den Verkauf von Schutzmasken und Coronascherzartikeln umgestellt. Die Touristen, von denen viele Betriebe leben, bleiben weg.
Ein Souvenirshop hat kurzerhand auf den Verkauf von Schutzmasken und Coronascherzartikeln umgestellt. Die Touristen, von denen viele Betriebe leben, bleiben weg. © Michael Rauhe

Der Kiez sucht noch nach einem Weg durch die Misere. Und nach einer Antwort auf die Frage, ob und wie sie das Viertel dauerhaft verändern wird. Manche glauben, es werde nie mehr sein wie früher. Andere, dass nicht mal ein gefährliches Virus ihr St. Pauli kleinkriegt.

Das größte Laufhaus hat staatliche Hilfe beantragt

Jedenfalls laufe sein Tag bis jetzt ohne Zwischenfälle, sagt Axel, ein kahler Bär von einem Mann, der vor den Resten des „Elbschlosskellers“ am Hamburger Berg Wache hält. Die „als härteste Kneipe Deutschlands“ bekannte Kaschemme hat ihr großes Namensschild abgebaut und die Fenster mit Spanplatten verdeckt. Für den Fall, dass Vandalen während des Stillstandes zuschlagen. In einer luftigen Schlange stehen Menschen den Gehweg hinunter. Statt Trost und Alkohol zu spenden, geben sie nun Essen und Kleidung an Bedürftige aus.

Die Tafel macht ja im Moment kaum noch was“, sagt Axel, er passt auf, dass alles in geregelten Bahnen läuft. Er hat eine Schutzmaske, aber sie hängt am Kinn; und beim Reden Abstand zu halten passt nicht recht zu einem wie ihm. „Die Kundschaft verhält sich aber wirklich gut, ich muss nur ganz selten mal laut werden“, ist Axel zufrieden.

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    Das Ganze war eine spontane Idee, sagt Daniel Schmidt, der Wirt der umfunktionierten Kneipe. In knapp 70 Jahren hatte der Elbschlosskeller nicht einen einzigen ganzen Tag geschlossen. „Jetzt konnte ich auf einmal nicht mehr arbeiten, deshalb habe ich etwas anderes gemacht und wie immer gar nicht darüber nachgedacht“. Er will jetzt einen Verein gründen, der Ex-St.-Pauli-Profi Holger Stanislawski hilft ebenso mit wie vielleicht auch Theatermacher Corny Littmann und Udo Lindenberg.

    Düstere Prognose

    Wie es mit seiner eigenen Existenz weitergehe? „Meine Frau hat den Überblick über die Finanzen“, sagt Schmidt. „Sie meint, wir halten das vier Monate aus. Aber das gilt niemals für alle. Ich gehe davon aus, dass 30 bis 40 Prozent der Betriebe es nicht schaffen werden“. Entlang der Hauptmeile würden bis zu 100.000 Euro Miete aufgerufen. „Das ist derzeit dann einfach nur grausam.“

    Polizisten bei einer Streife an der Reeperbahn. Die Atmosphäre­ sei „fast gespenstisch“, sagt der Revierleiter. Angesichts der Krise wolle man aber Präsenz im Viertel zeigen.
    Polizisten bei einer Streife an der Reeperbahn. Die Atmosphäre­ sei „fast gespenstisch“, sagt der Revierleiter. Angesichts der Krise wolle man aber Präsenz im Viertel zeigen. © Michael Rauhe

    Ein paar Hundert Meter weiter die Reeperbahn hinunter sind die 55 Zimmer des Pink Palace verwaist. Es ist das größte Laufhaus auf St. Pauli, früher galt es als Kathedrale des Rotlichtmilieus – im Moment verursacht es nur laufende Kosten, ohne dass Prostituierte die Zimmer mieten und für die Sexarbeit nutzen. „Wir wussten ja vorher, dass wir zumachen müssen, konnten es aber nicht glauben“, sagte Geschäftsführer Thorsten Eigner. Als es dann Mitte März wirklich so weit war, habe er das erst von einem Nachbarn erfahren. „Ich habe dann bei der Davidwache angerufen. Die haben mir das bestätigt.“

    Prostituierte sind verschwunden

    Für seine 18 Angestellten hat er Kurzarbeitergeld beantragt, für die Firma Soforthilfe. „Die kam auch ruck, zuck. Damit konnte ich die Miete bezahlen.“ Viele der Prostituierten, die in seinem Haus die Zimmer mieten, hätten als Soloselbstständige ebenfalls Soforthilfe beantragt und auch erhalten. „Das habe ich zumindest gehört“, sagt Eigner. „Aber je länger es dauert, werden die Damen vielleicht auch vermehrt in die Illegalität abwandern“, befürchtet er.

    Auch die Prostituierten, die sich draußen an der Davidstraße feilboten, sind verschwunden. In Polizeikreisen ist davon die Rede, dass man Sorgen vor verstärktem Menschenhandel nach dem Ende der Krise haben müsse. „Das Milieu wird versuchen, die Einnahmeverluste zu kompensieren“, so ein Beamter.

    Polizei zeigt verstärkt Präsenz

    Auch bei den Polizisten selbst in der Davidwache habe das Virus große Auswirkungen, sagt Revierleiter Ansgar Hagen. „Vor der Coronakrise lag ein polizeilicher Schwerpunkt in der Bekämpfung der Gewaltkriminalität.“ Das stehe angesichts ausbleibender Besucher kaum noch im Fokus. Gerade in Zeiten gesundheitlicher Angst brauchten die Kiezbewohner aber ein Gefühl der Sicherheit. Auch die mit Spanplatten gesicherten Fenster seien ein Zeichen dafür, dass die Krise „etwas mit dem Stadtteil macht“. Deshalb zeige die Polizei verstärkt Präsenz. „Der Bürger soll merken, wir sind da.“ Aber nach seinem Eindruck ist die Atmosphäre „fast gespenstisch“.

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    Normalerweise würden die Beamten auf ihren Streifen auf Olivia Jones treffen, wie sie kichernde Touristengruppen mit einem lauten „Husch-Husch“ über den Kiez scheucht. Derzeit muss auch die bekannte Dragqueen in der Krise sich um die ungewisse Zukunft für ihre Show-Bars und Mitarbeiter kümmern.

    Olivia Jones: „Das ist auch für uns eine nie da gewesene Herausforderung“

    Gegenüber dem Abendblatt verzichtete sie in der derzeitigen Situation auf ihre sonst üblichen launigen Sprüche. „Das ist auch für uns eine nie da gewesene Herausforderung“, so Olivia Jones. Ich mache mir aber vor allem Sorgen um die Vielfalt auf dem Kiez.“ Die Dragqueen versucht auf Spendenkampagnen befreundeter Gastronomen aufmerksam zu machen. Und trotz allem positiv zu bleiben: „St. Pauli hat sich immer durch einen besondern Kampfgeist und Kreativität ausgezeichnet. Ich bin mir sicher: Wenn es einen Ort gibt, an dem die Menschen nach der Krise die Lebensfreude wieder feiern werden, dann hier bei uns. Das gibt mir Kraft“, sagt Olivia Jones.

    Dass am Anfang der Woche zumindest die Einzelhändler auf dem Kiez wieder öffnen durften, war zumindest ein Hauch eines Aufbruchs. Bei Crazy Jeans an der Ecke Reeperbahn/Silbersackstraße hat Geschäftsführerin Sabine Beck die Türen aufgesperrt – in 50 Geschäftsjahren waren sie in den letzten Wochen des erste Mal verschlossen geblieben. Der Andrang hält sich aber nun stark in Grenzen. „90 Prozent unserer Kunden sind Touristen“, sagt Beck. Und die sind nun erst einmal weg.

    Arbeit für den Tag X nach der Wiedereröffnung

    Etwas besser sieht der Geschäftsführer der Boutique Bizarre, Kay Arnold, die Lage. Als nach eigenen Angaben größtes Erotik-Kaufhaus Europas liegt ein Schwerpunkt seines Sortiments bei SM und Bondage. „Und da gibt es mit Sicherheit eine ganze Menge Bedarfskunden.“ Die Angestellten stehen mit Mundschutz hinter Plexiglas an den Kassen.

    Im Hotel Hafen Hamburg arbeiten sie noch an einem Plan für den Tag X der Wiedereröffnung. „Im Management bedeutet so eine Schließung nicht weniger Arbeit, aber viel mehr Druck“, sagt der Direktor Enrico Ungermann. Immerhin spüre er eine Hilfsbereitschaft derjenigen, die bereits ein Zimmer gebucht hatten: „Die meisten nehmen Gutscheine an, die sie in den nächsten zwei Jahren einlösen können“, sagt Ungermann. Hinweise, wann die Rückkehr zur Normalität beginnen könnte, entnehme er aber auch nur den Medien. „Und wir haben eine große WhatsApp-Gruppe“.

    Große Solidarität

    Die hat Peter Kämmerer von der Interessengemeinschaft (IG) St. Pauli in der häuslichen Isolation eingerichtet. „Gerade hier im Viertel gehört sich das, dass man sich unterstützt“, sagt Kämmerer. Besonders schlimm habe es Gastronomen getroffen, die erst vor Kurzem eröffnet und viel Geld investiert hätten. Einer habe seine Wohnung aufgeben müssen und sei zurück zu seiner Mutter gezogen.

    Coronavirus: Verhaltensregeln und Empfehlungen der Gesundheitsbehörde

    • Reduzieren Sie Kontakte auf ein notwendiges Minimum und halten Sie Abstand von mindestens 1,50 Metern zu anderen Personen
    • Achten Sie auf eine korrekte Hust- und Niesetikette (ins Taschentuch oder in die Armbeuge)
    • Waschen Sie sich regelmäßig die Hände gründlich mit Wasser und Seife
    • Vermeiden Sie das Berühren von Augen, Nase und Mund
    • Wenn Sie persönlichen Kontakt zu einer Person hatten, bei der das Coronavirus im Labor nachgewiesen wurde, sollten Sie sich unverzüglich und unabhängig von Symptomen an ihr zuständiges Gesundheitsamt wenden

    „Wir tauschen uns aus und helfen, auch wenn einer nicht Mitglied in der IG ist“, sagt Kämmerer. Sie sitzen jetzt alle im selben Boot, bei hohem Wellengang. Selbst die Kioske, deren Ausbreitung vor Corona noch für viel Streit auf dem Kiez sorgte. Esraf Almaoglu sitzt am Donnerstag in seinem „St. Pauli Kiosk“ an der Hein-Hoyer-Straße, allein. Wie die Geschäfte laufen? „Schleppend“, sagt Almaoglu. Er mimt mit den Händen einen Schiffbrüchigen, der sich gerade noch über Wasser hält. „Aber irgendwie geht es ja immer weiter.“ Dann lächelt er und schaut weiter einen Film auf seinem iPad. (mit dpa)