Hamburg. Zeitzeuge Harald Wehnert erinnert sich an die Tage der Befreiung: Sein Großvater war in Neuengamme inhaftiert.
Ich erlebte die Stunde null als Achtjähriger in Wellingsbüttel. Geboren wurde ich in der Franckschen Siedlung in Klein Borstel, dann sind wir nach Eilbek gezogen und ausgebombt worden. So bin ich bei meinen Großeltern in Wellingsbüttel aufgewachsen. Ich erinnere mich noch an die Stunden in den Luftschutzbetten im gesicherten Keller, die waren gegen Angriffe abgestützt. Draußen wiesen Pfeile auf Zugänge zum Keller hin.
Als die Briten kamen, wurden wir per Lautsprecher aufgefordert, in unseren Häusern zu bleiben, woran sich jedoch nicht alle hielten. Zwei britische Panzer hatten nur 100 Meter südlich von unseren Haus am Wellingsbüttler Weg, der damals Hamburger Straße hieß, Stellung bezogen und ihre Geschützrohre in unsere Richtung gerichtet. Aus heutiger Sicht war das eine bedrohliche Situation, aber dessen war ich mir damals nicht bewusst. Ich erinnere noch, dass damals ein britischer Soldat das Wäldchen hin zum Alsterwanderweg durchstreifte. Er suchte Nazis, fand jedoch nur einige Hakenkreuz-Fahnen, die Anwohner dort noch schnell „entsorgt“ hatten.
Für den kleinen Jungen in mir war die Befreiung mit einer naiven Enttäuschung verbunden: Mir war klar, dass ich nun nicht mehr zum Jungvolk kommen würde. Ich hatte mich schon auf die Uniform gefreut, die fand ich schick, ich hatte das Jungvolk ein wenig für Pfadfinder gehalten. Was hatte ich auch von der Unterdrückung mitbekommen?
Genau erinnere ich auch die Reaktion meines Großvaters Hermann Carstens. Er war ein überzeugter Sozialdemokrat und wurde im KZ Neuengamme sehr misshandelt. Auf Intervention meines Vaters, der Offizier bei der Gestapo in Paris war, um dort den Schwarzmarkt zu bekämpfen, war er entlassen worden. Nach der Befreiung holte mein Opa die schwarz-rot-goldene Fahne der Weimarer Republik, die er in Ölpapier eingewickelt im Garten vergraben hatte, hervor und hängte sie unter Tränen an eines unserer Fenster. Er hatte das verhasste Regime überlebt und dessen Untergang erlebt. Mein Opa war mein großes Vorbild, meinen Vater hingegen habe ich als Jugendlicher eher verachtet. Er musste später ein Jahr Steine kloppen. Heute sehe ich ihn etwas anders – ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte zu widerstehen.
Essen war damals das Wichtigste, aber wir haben viel im Garten angebaut, wir lebten ja im sogenannten Handwerkerviertel von Wellingsbüttel – wir hatten Apfel- und Birnbäume, Stachel- und Johannisbeerbüsche, auf dem Misthaufen wuchsen Kürbisse. Hinzu kamen Bohnen, Rosenkohl, Kartoffeln, Blumenkohl, Rhabarber und Salat. Als Selbstversorger haben wir nicht so furchtbar gelitten. Ich denke: Armut tut nur weh, wenn man Reichtum sieht – wir aber hatten damals alle nichts auf der Naht.
Für uns Jungs war das sogar eine aufregende und unbeschwerte Zeit. Wir hatten ein Jahr keinen Unterricht, unsere Schule war ein Lazarett. Erst zum Schuljahr 46/47 ging es wieder los, wir hatten teilweise Unterricht im Herrenhaus, im Klubhaus von Klipper und in einem Schuppen. Schulbücher gab es nicht, und wir mussten nachher schließlich ein Jahr Schule dranhängen, also neun statt acht Jahre.
Im Herrenhaus Wellingsbüttel waren nach dem Krieg britische Soldaten untergebracht. Die haben uns zufrieden gelassen – und wir sie. Ich weiß nur, dass wir da Benzinkanister mitgehen ließen und uns daraus ein Floß gebaut haben, mit dem wir auf der Alster unterwegs waren; einmal wurden meine Stiefel völlig durchnässt – das gab vielleicht Ärger. Schuhe waren Kostbarkeiten.
Harald Wehnert arbeitete als Auto- und Immobilienmakler und lebt nach vielen Jahren in den USA wieder in Wellingsbüttel. Aufgezeichnet von Matthias Iken