Hamburg. Wissenschaftler der Universität Hamburg schreiben über Einschränkungen unseres Lebens und unserer Grundrechte.
Prof. Dr. Andreas Lange, Volkswirtschaftslehre
Verbote und Gebote gehören zu unserem Alltag – man denke an Umwelt- oder Gesundheitsschutz, an Energiesparverordnungen, an Rauchverbote. Und doch sind die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie einzigartig. Angesichts ihrer Stringenz mag verwundern, dass ein anderes globales Problem, das des Klimawandels, nur zögerlich adressiert wird. Die Eindämmung von Covid-19 bringt unmittelbare Vorteile, der Nutzen aus Klimaschutz entsteht primär auf lange Sicht. Wir reagieren weniger, wenn die potenzielle Bedrohung leise und allmählich auftritt, tendieren dazu, uns erst später mit dem Problem zu befassen. Dies ist nun nicht möglich, es sind sofortige Eingriffe nötig.
Hierbei spielt der Einzelne eine große Rolle: genau wie eine Kette reißt, wenn nur ein Bindeglied versagt, kann ein einzelner Infizierter, der sich nicht isoliert, sehr viele anstecken. Verhaltensökonomische Experimente zeigen, dass unter solchen Bedingungen freiwillige Anstrengungen kaum effektiv sein können. Hier kommt der Politik die Aufgabe zu, Verhalten zu koordinieren. Es mag hierzu einfacher sein, zunächst flächendeckend soziale Kontakte einzuschränken, bevor stärker nach Risikogruppen differenziert wird.
Ökonomik ist typischerweise eine Wissenschaft des Abwägens. Angesichts großer Unsicherheiten für Covid-19 können selbst reine Kosten-Nutzen-Überlegungen „social distancing“ als temporäre Maßnahme motivieren, abhängig von der Permanenz der Schocks für das Wirtschaftssystem. Viele Existenzen sind bedroht, auch gesunde Unternehmen, innovative Start-ups, unzählige Kleinunternehmen. Den Eingriffen in die individuelle Freiheit folgt somit der Zwang, auch die Wirtschaft zu stützen.
Alle müssen jetzt ihre Gewohnheiten ändern, selbstverständlich gewordene Freiheiten fallen weg. Neben allen Existenzängsten liegt darin auch eine Chance: sich von vermeintlichen Zwängen zu befreien. Die eigene Wertschätzung neu kennenzulernen, sei es für die sonst so alltäglichen Dinge wie das Treffen mit Freunden, den Espresso im Café, den Urlaub in Italien. Den Blick auf die Umwelt zu ändern angesichts plötzlich klarer Gewässer in Venedig. Und vielleicht erscheinen auch die Kosten von Klimaschutz plötzlich etwas relativiert.
Prof. Dr. Volker Lilienthal, Journalistik und Kommunikationswissenschaft
In jeder Krise gibt es auch die, die von ihr profitieren. Wenn im Zeichen der Coronapandemie der Staat zum Zwecke der Prävention Kontaktsperren erlässt, teils sogar Ausgangssperren, wenn die erste Bürgerpflicht sich plötzlich #stayathome buchstabiert, dann geht mit diesem partiellen Freiheitsverlust ein plötzliches Mehr an Fernsehkonsum einher. Die Menschen bleiben notgedrungen zu Hause, sie wollen sich über die Gefahr informieren, sie wollen sich aber auch unterhalten und ablenken lassen – legitimer Eskapismus in schwerer Zeit.
Aktuelle Daten der Marktforschung zeigen, wie sehr vor allem die Fernsehsender Krisengewinnler sind. Die Fernsehnutzung ist enorm gestiegen, vor allem die Programme mit viel Information (darunter Privatsender wie n-tv oder Welt) profitieren vom Shutdown, vom angeordneten Zuhausebleiben. Beispiel ARD: Als am 22. März die weitreichenden Ausgangsbeschränkungen verkündet wurden, schalteten am Abend mehr als zwölf Millionen Menschen die „Tagesschau“ ein. Der TV-Marktanteil des Ersten betrug während dieser Viertelstunde 30 Prozent – ein Rekordwert, den die ARD seit Langem nicht erlebt hatte.
Auch die Websites der Zeitungen und Zeitschriften profitieren vom nur allzu verständlichen Informationshunger der Menschen. Wie der Verlegerverband BDZV Ende März berichtete, verbuchten die Internetangebote der Presse Reichweitensprünge um bis zu 65 Prozent. In der Woche 16. bis 22. März griffen mehr als zwei Drittel der deutschsprachigen Bevölkerung darauf zu. 46,2 Millionen Menschen seien erreicht worden, so der BDZV.
Eine gloriose Krise? Mitnichten. Denn zugleich verliert die Presse an Werbeeinnahmen, die Wirtschaft schaltet weniger Anzeigen, Verlage planen Kurzarbeit – mit der möglichen Folge reduzierter Informationen, obwohl doch gerade die von der Bevölkerung so stark nachgefragt und existenziell gebraucht werden. Ein Paradoxon.
Währenddessen harren ganze Redaktionen im Homeoffice aus und vollbringen trotz Bewegungseinschränkung manchmal Spitzenleistungen. Andere hingegen missbrauchen Sterberekorde für einen Online-Journalismus des „Clickbaiting“. Sie spekulieren mit der schrecklichsten Schlagzeile auf die höchste Klickquote. Und werden so zu Krisengewinnlern im schlechtesten Sinne.
Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht
Was dieser Tage als Freiheitsverlust thematisiert wird, hat auch etwas mit den Freiheitserwartungen zu tun, die gleichsam einer Normallage entstammen. Katastrophen fegen diese Normallagen hinweg, entweder mit einem Schlag oder schleichend wie bei einer Pandemie.
Für das Recht ist diese Situation eine Herausforderung. Viele seiner Annahmen entstammen der normalen Situation. Damit ermöglicht das Recht die Erwartungssicherheit, in der man sein Leben einrichten kann und in der die freiheitliche Gesellschaft funktioniert. Auch Freiheitsrechte, die im Übrigen in den meisten Fällen auf konkurrierende Freiheitserwartungen anderer treffen, werden aber in Kontexten realisiert. Sie hängen in ihrer konkreten Bedeutung von der tatsächlichen Entwicklung und den Rahmenbedingungen der aktuellen Pandemie, den möglichen Gegenmaßnahmen und dem darauf bezogenen wissenschaftlichen Wissen ab.
Die Situation ist im Moment durch ein hohes Maß an Ungewissheit und Vorläufigkeit gekennzeichnet. Recht aber ist in Normallagen an vielen Stellen auf Zurechnungsmöglichkeiten angewiesen, etwa bei Maßnahmen gegenüber Risikoverursachern. Wenn aber fast die Hälfte der Infektionen von Personen ausgehen, die asymptomatisch sind, ihre Infektion nicht kennen und die diese unbemerkt weitergeben und damit die Pandemie enorm beschleunigen können, dann funktionieren gewohnte Zurechnungskriterien nur noch begrenzt. Insoweit werden die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie der Ungewissheit und Vorläufigkeit angepasst werden müssen. Damit aber werden auch Freiheitseinschränkungen jedenfalls auf Zeit legitimierbar, die sonst so nicht zu rechtfertigen wären. Das wird sich mit fortschreitenden Kenntnissen und einer Besserung der Situation ändern.
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Einstweilen aber steht die Politik und anschließend auch die rechtliche Beurteilung vor schwierigen Abwägungen zwischen konkurrierenden Freiheitsrechten, wobei die Verfassung eben dem Recht auf Leben und der damit verbundenen Pflicht des Staates zum Schutz desselben einen so hohen Rang einräumt, dass damit viele Einschränkungen gerechtfertigt werden können, auch wenn die Wirkungen im Einzelnen (noch) nicht sicher zu beurteilen sind. Selten ist der Zusammenhang von wissenschaftlichen Erkenntnissen, politischen Optionen und rechtlichen Bewertungen auch in der Öffentlichkeit so deutlich zutage getreten.
Prof. Dr. Jan Wacker, Differentielle Psychologie und Psychologische Diagnostik
Unterschiede individueller Wahrnehmungen der aktuellen Kontaktbeschränkungen hängen sicherlich zuallererst von unseren jeweiligen Lebensumständen ab bzw. davon, wie sich diese in den letzten Wochen geändert haben. Ein kinderloses Paar ohne finanzielle Sorgen wird im komfortablen Homeoffice mit Garten oder Dachterrasse die notwendigen Einschränkungen der ansonsten freieren Tagesgestaltung vergleichsweise gelassen hinnehmen können (sofern die Internetverbindung funktioniert). Als Persönlichkeitspsychologe interessiere ich mich noch mehr für individuelle Unterschiede des Erlebens und Verhaltens in einer objektiv sehr ähnlichen Situation.
Menschen mit hohen Werten in der Persönlichkeitseigenschaft Gewissenhaftigkeit wird es beispielsweise leichter fallen, sich besonders streng an die geltenden Kontakt- und Hygieneregeln zu halten, und sie haben so ein etwas geringeres Risiko, andere anzustecken oder selbst zu erkranken.
Ob jemand nur auf die fraglos stark überwiegenden negativen Aspekte des Alltags mit Corona schaut oder sich zumindest manchmal von positiven Seiten des nun gezwungenermaßen anderen Tagesablaufs überraschen lässt, hängt u. a. von zwei weiteren Persönlichkeitseigenschaften ab, der emotionalen Stabilität und der Extraversion. Ein emotional weniger stabiler Mensch wird stark auf die negativen Effekte fokussieren, sich viel sorgen und gedrückter Stimmung sein; ein sehr aktiver und geselliger Extrovertierter wird zurzeit vieles besonders vermissen. Beide empfinden so den Freiheitsverlust noch stärker als andere.
Ob jemand stark auf die Konsequenzen für die eigene Person schaut oder sich zuallererst um das Wohlergehen älterer Verwandten, Freunde und Bekannten kümmert, hängt u. a. mit der Persönlichkeitseigenschaft Verträglichkeit zusammen. Ein weniger verträglicher gesunder junger Mensch wird die Einschränkungen eher als Freiheitsentzug denn als freiwilligen -verzicht erleben.
Vielleicht kann der persönlichkeitspsychologische Blick helfen, die unterschiedlichen Reaktionen auf die plötzlichen Veränderungen besser zu verstehen, welche wir bei uns selbst und bei anderen beobachten. In jedem Fall sind wir in diesen Tagen alle individuell herausgefordert, das persönlich wie gesamtgesellschaftlich Beste aus den geltenden Freiheitsregularien zu machen, die uns derzeit den Verzicht auf viele gewohnte Lebensabläufe abverlangen.