Hamburg. Beim Lernen zu Hause werden Schüler unterschiedlich gut betreut. Für manche birgt es Chancen – für viele aber Risiken.

Drei Wochen sind die Schulen wegen des Coronavirus in Hamburg geschlossen, die Ferien eingerechnet sind mehr als 200.000 Mädchen und Jungen jetzt schon seit fünf Wochen zu Hause, allein mit ihren Familien. Und ein Ende dieser Zeit ist nicht abzusehen, auch, wenn alle auf eine Rückkehr zur Normalität nach dem 19. April hoffen.

Wie geht es den Kindern und ihren Eltern, die so lange wie nie miteinander auskommen müssen? Was bringt das sogenannte Homeschooling, also der Unterricht mit Materialien, die die Schulen für die Kinder zusammenstellen? Und: Wie lange kann man in Hamburg und anderswo so weitermachen, ohne am Ende die Gesundheit von Kindern zu gefährden?

Corona in Hamburg: Boie sorgt sich um sozial schwächere Kinder

Kirsten Boie, Ehrenbürgerin und Kinderbuchautorin.
Kirsten Boie, Ehrenbürgerin und Kinderbuchautorin. © Axel Leonhard / FUNKE Foto Services

Das sind Fragen, mit denen sich viele Lehrer und Eltern, Kinderärzte und andere Experten beschäftigen. Hamburgs Ehrenbürgerin Kirsten Boie, eine der erfolgreichsten Kinderbuchautoren des Landes, macht sich vor allem um Kinder und Familien aus sozial schwächeren Milieus Sorgen: „Wenn wir vom Homeschooling sprechen und davon, was das von Eltern abverlangt, sehen wir zum Beispiel im Fernsehen Bilder von Familien im Einfamilienhaus mit Garten oder in schönen Altbauwohnungen“, schreibt sie. „Ich weiß, viele, viele Eltern leisten gerade Großartiges, und dafür muss ihnen die Gesellschaft dankbar sein. Aber was ist mit den Kindern auf der anderen Seiten der Schere? Deren Eltern ihnen nicht helfen können, kein bisschen, obwohl sie es ebenso sehr brauchen würden? Denen außerdem die Segnungen digitalen Lernens nicht so richtig zugutekommen, weil als digitales Endgerät nur ein Handy zur Verfügung steht?“

Neben der Größe beziehungsweise Enge der Wohnung und dem Bildungsstand der eigenen Eltern konterkariere jetzt noch die „digitale Ausstattung der Familien jede Chancengleichheit: Die Bildungsschere, deren Auseinanderklaffen wir ohnehin schon seit einigen Jahren beklagen, öffnet sich gerade eilig weiter“, so Boie.

Schulte-Markwort: Öffnet Schulen und Kitas!

Der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort sagt es noch deutlicher: „Sozial schwache und bildungsferne Kinder und ihre Familien werden einmal mehr die Verlierer dieser Krise sein.“ Die aktuellen Erfahrungen zeigten aber immerhin, „dass die große Mehrheit der Familien gut mit der Lage zurechtkommt“ und dass viele Lehrer per digitalem Kontakt zur Verfügung stünden.

Wie lange das so weitergehen kann, vermag auch Schulte-Markwort nicht zu sagen: „Die aktuelle Perspektive auf den 20. April ist absehbar – und für die Seelen der Familien lang genug.“ Dann wären die Hamburger Kinder sieben Wochen nicht in den Schulen gewesen, also länger, als die Sommerferien dauern. Schulte-Markwort hat auch einen eindeutigen Rat an die Regierungen: „Öffnet die Kitas und die Schulen so schnell wie möglich. Wir sollten uns primär um den Schutz von Risikogruppen kümmern. Und Schulkinder gehören nicht dazu.“

Coronavirus – Ärzte sorgen sich um Gesundheit der Kinder

Das stimmt – und trotzdem müsse eben zunächst in seriösen Studien geklärt werden, ob Kinder und Jugendliche als sogenannte Superspreader das Coronavirus verteilen, ohne selbst zu erkranken, oder eben nicht, sagt Stefan Renz, Hamburger Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte. Ihm macht große Sorgen, dass Kinder in diesen Tagen „durch soziale Isolation Opfer von häuslicher Gewalt werden könnten“. Lehrerinnen würden berichten, dass sie zu vielen Familien überhaupt keinen Kontakt mehr hätten.

Die Hamburger Kinderärzte selbst sehen derzeit deutlich weniger Patienten, Renz registriert über alle Praxen einen Rückgang von 30 bis 50 Prozent. Dabei sind es sonst gerade die Kinderärzte, denen häusliche Gewalt als Erstes auffällt. Renz fordert deshalb, dass „Kinder aus Risikofamilien weiter in Kita, Hort oder Schule betreut werden“.

Coronavirus: So können Sie sich vor Ansteckung schützen

  • Niesen oder husten Sie am besten in ein Einwegtaschentuch, das Sie danach wegwerfen. Ist keins griffbereit, halten Sie die Armbeuge vor Mund und Nase. Danach: Hände waschen
  • Regelmäßig und gründlich die Hände mit Seife waschen
  • Das Gesicht nicht mit den Händen berühren, weil die Erreger des Coronavirus über die Schleimhäute von Mund, Nase oder Augen in den Körper eindringen und eine Infektion auslösen können
  • Ein bis zwei Meter Abstand zu Menschen halten
  • Schutzmasken und Desinfektionsmittel können helfen – aber umgekehrt auch zu Nachlässigkeit in wichtigeren Bereichen führen

Coronapandemie kann in Familien zu vermehrten Konflikten führen

Für Philippe Stock, den Ärztlichen Leiter der Pädiatrie im Altonaer Kinderkrankenhaus (AKK), wäre es „sehr sinnvoll, jetzt rasch auch Videosprechstunden einzuführen, damit der Kontakt zwischen Familien und Ärzten oder Jugendämtern aufrechterhalten werden kann“. Die Einschränkungen während der Coronapandemie könnten zwar für viele Familien eine Möglichkeit sein, mehr Zeit miteinander zu verbringen und Dinge zu tun, zu denen man sonst nicht kommt.

Aber: „Es gibt auch Familien, und wir erhalten derartige Rückmeldungen, in denen die räumliche Enge und die reduzierte Möglichkeit, sich zurückziehen, zu vermehrten Konflikten führt. Wenn dann noch Zukunftssorgen über die eigene Arbeitsstelle oder das Gehalt dazu- kommen, kann durchaus eine explosive Mischung entstehen, die Konflikte eskalieren lässt.“ Klar sei: Je länger die Maßnahmen, insbesondere die Schul- und Kita-Schließungen andauern, desto größer werde das Konfliktpotenzial.

Uni-Präsident Lenzen sieht im digitalen Lernen Chance

Das betrifft nicht nur das Miteinander in den Familien, sondern auch scheinbar lapidare Dinge wie das tägliche Mittagessen: „Kinder in belasteten Familiensituationen leiden unter der Coronakrise besonders“, heißt es in einer Mitteilung des Vereins Mittagsrakete, der sich zum Ziel gesetzt hat, „so vielen Hamburger Kindern wie möglich aus betroffenen Familien ein kostenloses Mittagessen an die Haustür zu liefern (wer helfen will: www.mittagsrakete.de).

Zurück zur Frage, ob und wann die Schulen wieder aufgemacht werden sollen: Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg und von Haus aus Pädagoge, sieht angesichts der Möglichkeiten, Kinder und Jugendliche digital zu betreuen, keinen Grund zur Eile. Im Gegenteil: „Die aktuelle Form der Beschulung bietet Chancen, die wir noch gar nicht richtig einschätzen können“, sagt er.

Und meint unter anderem damit, dass Lehrer mit Skype oder anderen technischen Hilfsmittel „eine Idealform von Einzelunterricht anbieten“ und gezielt wie sonst kaum auf ihre Schüler eingehen könnten: „Die Schüler wiederum stellen dann vielleicht Fragen, die sie in der Klasse vor all den anderen niemals stellen würden.“ Eltern seien mit der Situation dann nicht überfordert, „wenn die Schulen gut agieren“ und man die Möglichkeiten des digitalen Lernens nutze: „Allein die Geräte sind doch so attraktiv, dass ich mir vorstellen kann, dass viele Kinder große Lust haben, damit zu lernen.“