Hamburg. Sie führt den Verein Viva con Agua, der das Leben in armen Ländern verbessert. Rüstzeug bekam sie am Esstisch im Elternhaus.
Den Moment, als Carolin Stüdemann die Ausschreibung für die Geschäftsführung bei Viva con Agua las, wird sie nie vergessen. Diesen Job wollte sie haben, unbedingt. Aber was tun? „Das war doch fast eine Nummer zu groß für mich.“ Zuerst habe ihr schlicht der Mut gefehlt, sich zu bewerben. Doch Carolin Stüdemann ist niemand, dem man Mangel an Risikobereitschaft vorhalten könnte. Ganz im Gegenteil. Also stellte sie sich für ihren Traumjob an die Alster – und nahm einen Film auf, in dem sie ihre Vision des gemeinnützigen Vereins, der die Trinkwasserversorgung der Menschen im globalen Süden verbessern will, skizzierte. Den Film schickte sie als Bewerbung nach St. Pauli.
Seit nunmehr eineinhalb Jahren ist die junge Frau Geschäftsführerin von Viva con Agua. Und könnte nicht glücklicher sein. Da Carolin Stüdemann weiß, was sie kann und will. Und sie hat keine Probleme, von sich zu erzählen. In schnellen Sätzen berichtet die 29-Jährige von ihrem noch verhältnismäßig kurzen Leben. Wild gestikuliert sie dabei. Ihre Hände und Arme sind ständig in Bewegung. Mal zeichnet sie mit dem Finger etwas auf den leeren Tisch, mal in die Luft – voller Energie und Tatendrang.
Ländliche Umgebung hat sie sehr geprägt
In Elmshorn, besser gesagt in einem der Nachbardörfer, ist sie aufgewachsen und zur Schule gegangen. „Die ländliche Umgebung hat mich sehr geprägt. Der direkte Bezug zur Natur ist mir unheimlich wichtig.“ Auch deshalb fährt sie jeden Tag mit dem Rennrad aus Eilbek, wo sie jetzt wohnt, an der Alster entlang zur Arbeit, egal ob es regnet, stürmt oder schneit. „Das brauche ich.“
Die Eltern von Carolin Stüdemann sind Sozialpädagogen. „Bei uns zu Hause wurde viel diskutiert.“ Schon als kleines Mädchen habe sie alles hinterfragt, erinnert sie sich. „Und meine Mutter und mein Vater haben versucht, uns von klein auf bei den Antworten zu helfen.“ Da gab es zum Beispiel die Familienkonferenz. „Immer wenn ein wichtiges Thema zu besprechen war, haben wir uns an den Esstisch gesetzt und diskutiert.“ Jeder durfte seine Meinung und seine Sicht auf die Dinge ansprechen. „Das hat uns zu selbstbewussten und auch selbstbestimmten Frauen werden lassen.“
Soziale Gerechtigkeit war ein großes Familienthema
Nie habe sie das Gefühl gehabt, nicht gehört zu werden. Immer sei ihr vermittelt worden: Deine Stimme ist wichtig. Ein unschätzbarer Wert für Carolin Stüdemann. Dadurch sei ein sehr fester Zusammenhalt in der Familie entstanden. „Wir waren wirklich ein ausgesprochen gutes Team.“ Das Verhältnis zu ihrer Schwester ist bis heute innig. „Wir waren wie Zwillinge. Und sind es noch jetzt.“
Soziale Gerechtigkeit sei das zweite große Familienthema gewesen. „Uns wurde immer deutlich gemacht, was für ein Glück wir im Leben haben.“ Schon früh habe sie das selbst auch empfunden und begonnen, sich für andere einzusetzen. Seit der 7. Klasse arbeitete Carolin Stüdemann in der Schülervertretung mit. Erst als Klassensprecherin, später als Stufen- und Schülersprecherin. „Soziales Engagement ist ein entscheidender Pfeiler unserer Gesellschaft. Das erlebe ich jetzt in meinem Job jeden Tag.“
Erdbeeren pflücken für den guten Zweck
Auf dem Gymnasium, in der Bismarckschule in Elmshorn, begegnete ihr zum ersten Mal der Verein Viva con Agua. „In unserem Abi-Jahrgang hatten wir als Bildungsprojekt das Thema sauberes Wasser.“ Benjamin Adrion, der ehemalige Fußballspieler und Vereinsgründer, stellte im Unterricht seine Idee vor. „Ich war fasziniert und inspiriert“, erinnert sich Carolin Stüdemann. Was es für einen Unterschied mache, ob man Zugang zu sauberem Trinkwasser habe oder nicht, sei ihr da erst so richtig klar geworden. Das Besondere an dem Vortrag aber sei gewesen: „Er hat uns Schülern das Gefühl gegeben, dass jeder seinen Beitrag leisten kann.“
Am Ende des Kurses hätten die Mädchen und Jungen deshalb auch eine Spendenaktion gestartet. „Wir haben Erdbeeren gepflückt und verkauft.“ 3000 Euro kamen damals für Viva con Agua zusammen. „Hier ist mir zum ersten Mal die eigene Selbstwirksamkeit bewusst geworden. Die Überzeugung, dass jeder etwas unternehmen kann.“
Mit 24 Jahren übernahm sie die Leitung einer Jugendhilfeeinrichtung in Heide
Etwas bewirken, das wollte Carolin Stüdemann auch nach der Schule, natürlich in einem sozialen Bereich, so wie die Eltern. Sie entschied sich, Sozial- und Organisationspädagogik in Hildesheim zu studieren. „Den betriebswirtschaftlichen Ansatz in die soziale Arbeit hineinzubringen, das fasziniert mich. Und hier konnte ich die beiden Bereiche verbinden.“ Auch den Blick auf andere Länder lernte Carolin Stüdemann an der Uni bereits kennen. Ihre Bachelorarbeit beispielsweise schrieb sie nach einem Praktikum bei einer Jugendhilfeeinrichtung in Ghana. Später machte sie in Toronto in einer Jugendhilfeeinrichtung ein Praktikum.
Mit gerade einmal 24 Jahren übernahm Carolin Stüdemann die Leitung einer Jugendhilfeeinrichtung in Heide. Sie war verantwortlich für 22 Mitarbeiter und eine große Zahl von Jugendlichen. „Das waren ereignisreiche und spannende Jahre“, sagt sie. Viele Dinge habe sie dort gelernt, die ihr heute bei ihrer Führungsaufgabe weiterhelfen. Und die zuversichtliche, fröhlich optimistische Einstellung: „Mit genug Engagement kann alles klappen.“
Mit ihrem Mann teilt sie das Hobby Kitesurfen
So geht sie auch jeden Tag ihre Aufgabe bei Viva con Agua an. Einem Verein, der stetig wächst. 22 feste Mitarbeiter kümmern sich in der Zentrale um die weltweiten Projekte. Knapp fünf Millionen Euro werden hier verwaltet. Gemeinsam mit den Partnerorganisationen konnten drei Millionen Menschen bereits mit den Wasserprojekten erreicht werden. Das Besondere an Viva con Agua ist aber vor allem die Lebensfreude, die der Verein bei all seinen Projekten verbreitet. „Wasser ist unsere Lebensquelle. Wir wollen eine emotionale Verbundenheit zu diesem Thema schaffen“, sagt die Geschäftsführerin, die sich ihre Aufgabe mit Gründungsmitglied Tobias Rau teilt.
Nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern auf freudvolle Weise werden in Projektländern wie Uganda, Äthiopien oder Nepal Einheimische in Sachen Hygiene geschult. „Über die weltweit verständlichen Sprachen mit viel Kunst, Musik und Sport schafft es die Organisation, kommunikative Grenzen aufzubrechen, Menschen zu aktivieren, Brücken zwischen den Kulturen und Gesellschaften zu bauen und zu zeigen, dass soziales Engagement Spaß machen kann.“
Sie achtet auf die fachliche Entwicklung der Kollegen
Sie selbst kümmert sich vor allem um die Organisationsentwicklung, überdenkt die Strukturen und behält die Finanzen im Blick. Besonders wichtig ist ihr die persönliche und fachliche Entwicklung der Kollegen. „Ich möchte immer wieder schauen, was jeder einzelne braucht, um sich hier entfalten zu können.“, sagt sie.
Mit einem gemeinsamen Verständnis für die Ziele und Weiterentwicklung des Vereins will Carolin Stüdemann ein hohes Maß an Selbstorganisation fördern. „Ich glaube daran, dass sich Viva con Agua weiterentwickelt, wenn Menschen bei uns selbstbestimmt arbeiten und das tun, was sie wirklich wollen. So entstehen spannende neue Projekte.“ Carolin Stüdemann bezeichnet den Verein als einen Organismus, „der Impulse braucht“. Das Engagement, das in diesem Verein stecke, sei einfach unglaublich. Sowohl bei den Mitarbeitern, als auch bei den über 10.000 Ehrenamtlichen auf der ganzen Welt.
Konzepte für Agilität
Zudem will sich Viva con Agua zunehmend internationaler aufstellen und vor allem in den afrikanischen Projektländern eigene Organisationen aufbauen. „So entsteht neben einer eingetragenen Organisation in Uganda derzeit auch ein Standort in Südafrika. In Mosambik ist das ebenfalls geplant.“
Um all das zu begleiten und zu steuern, müsse der Verein schnell und anpassungsfähig bleiben. „Und durch Konzepte für Agilität und eine gute IT-Infrastruktur die Arbeitsabläufe, aber auch die globale Kommunikation verbessern.“ Es gibt so unheimlich viel zu tun. „Ich freue mich auf die hoffentlich vielen Jahre, die ich diesen wunderbaren Verein begleiten und unterstützen kann.“ Die gemeinsame Reise habe schließlich gerade erst begonnen. „Wir alle gemeinsam, wir können es schaffen, dass weltweit jeder Zugang zu sauberem Wasser hat. Und jeder kann mitmachen.“
Ihr Mann ist ein wichtiger Berater für sie
Stüdemann heißt sie übrigens erst seit Kurzem. Vertrauter mag vielen, die sie kennen, noch ihr Mädchenname Jänisch sein. Denn erst vor wenigen Monaten hat sie geheiratet. Christopher, die Liebe ihres Lebens. „Ich hätte vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten, dass es das wirklich gibt, die Liebe meines Lebens.“
Aber jetzt ist sie überzeugt. Sie teilen die Leidenschaft fürs Kitesurfen. Und irgendwie auch ein bisschen die für Viva con Agua. „Schließlich strahlt der Job auch in mein Privatleben aus.“ Ihr Mann sei ein wichtiger Berater für sie. Und in den vergangenen Jahren ganz automatisch ein Unterstützer des Vereins geworden. „Der Rückhalt und die Unterstützung ist mir sehr wichtig.“
Nächste Woche: Sieghard Wilm, Pastor der St.-Pauli-Kirchengemeinde