Hamburg . Ivar Buterfas-Frankenthal wurde 1938 mit Schlägen von der Schule gejagt. An diesem Montag kehrt der 87-Jährige dorthin zurück.
Da standen sie in ihren Uniformen, die Pimpfe von der Hitlerjugend und die Mädchen vom BDM (Bund Deutsche Mädel). Sie waren an diesem Novembertag 1938 auf dem Hof der Schule am Rhiemsweg in Horn zum Appell angetreten und skandierten das Horst-Wessel-Lied „Die Fahne hoch“. Der sechs Jahre alte Schulanfänger Ivar Buterfas stand zwischen all den 600 Schülern, noch ein wenig verträumt an diesem Morgen. Plötzlich rief der stellvertretende Schulleiter seinen Namen. „Ivar Buterfas tritt hervor! Du bist Jude! Pack deine Sachen zusammen und verschwinde sofort. Du darfst auch nie wiederkommen!“
Der aufgestachelte Schülermob jagte den Erstklässler mit Tritten und Schlägen vom Hof. Zwei Jungs hielten ihn fest und verletzten ihn mit einer Zigarette. „Jetzt werden wir den Judenjungen rösten“, grölten sie. Erst seine resolute Schwester Ursel konnte ihn aus den Fängen der Peiniger befreien.
Die Dämonen der Nazi-Zeit quälen ihn jeden Tag
Ivar Buterfas-Frankenthal erzählt von diesen Ereignissen, als hätten sie sich erst gestern ereignet. Vor wenigen Tagen ist der Holocaust-Überlebende 87 Jahre alt geworden. Doch die Dämonen der Nazi-Zeit quälen ihn Tag und Nacht. „Ich bin traumatisiert bis in die Haarspitzen“, sagt er in seinem mit Panzerglas gesicherten Haus in der Nordheide. Seine Frau Dagmar legt ihm zärtlich die Hand auf die Schulter. Ivar Buterfas-Frankenthal hat seine Leidensgeschichte schon so oft erzählt, und er wird es an diesem Montag, dem Gedenktag an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, erneut tun. An dem Ort, an dem alles begann.
An diesem Vormittag wird er gemeinsam mit seiner Frau, deren Vater im KZ Buchenwald ermordet wurde, ins Auto steigen. Ihre Hausdame wird sie von der Nordheide bis nach Hamburg-Horn chauffieren, zu seiner früheren Schule. Ivar Buterfas-Frankenthal, der frühere Unternehmer, Boxveranstalter und Retter des Mahnmals St. Nikolai, hat diese Schule seit 1938 nie wieder betreten. Doch am Tag des Holocaustgedenkens will er sich dem, wie er sagt, schrecklichsten Erlebnis seines Lebens, noch einmal stellen. 125 Schüler der Schule am Rhiemsweg werden auf ihn warten und bei einer Veranstaltung seinen Worten lauschen. Und sie werden einen Film sehen, der im vergangenen Jahr über ihn gedreht wurde. Der Titel: „Ein Leben nach dem Holocaust“.
Die Rückkehr an die Schule wird die 1505. Veranstaltung seiner Zeitzeugen-Arbeit sein. „Und meine letzte“, sagt er.
Weniger als die Hälfte der Jugendlichen weiß, was Auschwitz war
Ivar Buterfas-Frankenthal, der Sohn eines jüdischen Step-Artisten, weiß, welche besondere Aufgabe und Rolle er als einer der letzten Holocaust-Überlebenden und Zeitzeugen hat. Es waren die Worte von Frank-Walter Steinmeier, die ihn noch einmal mobilisierten und den Film drehen ließen, mit dem er in norddeutschen Schulen auf Tour ging. Der Bundespräsident hatte gesagt, dass es inzwischen zu wenig Zeitzeugen mit Bild- und Tondokumenten für die künftigen Generationen gebe. Dazu kommt die wachsende Unkenntnis über den Holocaust. Eine Umfrage der Körber-Stiftung ergab: Weniger als die Hälfte der 14- bis 16-jährigen Jugendlichen (47 Prozent) in Deutschland weiß, was Auschwitz-Birkenau war. Auch der zunehmende Antisemitismus und die rechte Gewalt motivierten Buterfas, diesen Film zu drehen. „Die Republik ist zerbrechlicher, als wir glauben“, sagt er und verweist auf den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke und den Terroranschlag auf die Hallenser Synagoge. Aufklärung und Begegnung mit jungen Menschen seien deshalb wichtig.
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Und so wird an diesem Montag Ivar Buterfas-Frankenthal vor den Schülern sprechen und davon erzählen, wie er überlebt hat. Dass sein Vater im Konzentrationslager war und er mit seiner Mutter und den sieben Geschwistern Richtung Osten fliehen und sich verstecken konnte. Dass er während der NS-Zeit zum Staatenlosen erklärt wurde. Und dass ausgerechnet jener Beamte aus dem Dritten Reich auch nach 1945 über seine deutsche Staatsbürgerschaft entschied. Er bekam sie erst 1964 zurück. Der Schoß war fruchtbar noch, aus dem dies kroch.
Bis heute. Seit seinem Einsatz für den Aufbau einer NS-Gedenkstätte im niedersächsischen Sandbostel führt der Pensionär ein Leben unter besonderem Schutz. Er tritt ans Panorama-Fenster seines Hauses und klopft gegen die Scheibe. „Panzerglas“, sagt er. Morddrohungen habe er damals erhalten. Seinen Film verschickt er nun per USB-Stick kostenlos an Schulklassen (zu bestellen unter buterfas@verwaltung.de) Von der positiven Resonanz ist er überwältigt. „Ach wissen Sie, ich würde auch noch in einem Stadion mit 15.000 Menschen sprechen“, sagt er. „Schreiben Sie das ruhig!“ Und so dürfte die heutige Veranstaltung an der Schule womöglich doch nicht seine letzte gewesen sein.