Hamburg. Im Prozess gegen einen früheren KZ-Wachmann wurde die Erklärung eines Überlebenden verlesen. Er kam 1944 ins Lager bei Danzig.

Jahrzehntelang hat er geschwiegen. Zu entsetzlich, zu traumatisch waren die Erinnerungen, die Johan Solberg aus seiner Zeit als Gefangener im Konzentrationslager Stutthof wie einen Mühlstein mit sich herumtrug. Dann schließlich, als der Norweger mit seinem Sohn zusammen die Serie „Holocaust“ im Fernsehen sah und der Sohn den Vater fragte, ob es „wirklich so schlimm war“, da antwortete der Vater: „Nein. Es war viel schlimmer.“

Johan Solberg ist heute 97 Jahre alt und zu krank zum Reisen. Doch seit er sich damals überwunden hat, seinen Kindern von dem Martyrium der Gefangenenschaft in Stutthof zu erzählen, hat der Norweger es sich zur Aufgabe gemacht, möglichst vielen über seine Erlebnisse zu berichten. So auch jetzt im Prozess gegen Bruno D., den früheren Wachmann des Konzentrationslagers, dem im Prozess vor dem Landgericht Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen wird — und von dem es in der Anklage heißt, er sei durch seinen Dienst auf dem Wachturm „ein Rädchen in der Mordmaschinerie“ der Nationalsozialisten gewesen. Johan Stolberg hat, weil er nicht persönlich in dem Verfahren aussagen kann, eine Erklärung verfasst, die jetzt verlesen wird.

Überlebender: Ankuft in Stutthof ein Schockerlebnis

Schon die Ankunft in Stutthof, wo er als Mitglied der norwegischen Widerstandsbewegung gegen die Nazis schließlich inhaftiert wurde, sei ein „Schockerlebnis“ gewesen, schildert der 97-Jährige. „Magere Männer zogen einen Wagen, aus dem Arme und Beine herausragten.“ Er und seine Mithäftlinge aus dem Widerstand hätten schnell „verstanden, dass wir auf uns selbst angewiesen waren, wenn wir überleben wollten.“

Prägend sei vor allem ein Satz gewesen, der ihnen schon zu Beginn gesagt worden sei: „Dass man das KZ nur durch den Schornstein verlässt.“ Gemeint war der Schornstein des Krematoriums. Solberg war 22, als er am 13. August 1944 in Stutthof ankam, nur wenige Tage, nachdem Bruno D. dort seinen Dienst als Wachmann aufnahm. Zwei Männer, die auf gegengesetzten Seiten waren, die sich vielleicht nie persönlich begegnet sind.

In Stutthof hing ein „süßlicher Geruch in der Luft“

Vor einer Baracke hätten zehn bis 15 Leichen gelegen, so schildert es der Überlebende weiter. „Ein Mann zog ihnen mit einer Zange Goldzähne heraus.“ Juden seien im Lager besonders schlecht behandelt worden, und alle hätten schwer arbeiten müssen. Als Norweger hätten sie allerdings das Privileg gehabt, nicht kahl geschoren zu werden. Das habe bedeutet, dass sie nicht geschlagen wurden und die Möglichkeit hatten, kleine Pakete mit Nahrungsmitteln zu empfangen. „Das half mir zu überleben.“

In jeder Baracke seien 1000 bis 1500 Menschen zusammengepfercht gewesen. Teilweise hätten die Gefangenen nicht einmal Platz zum Liegen gehabt. „Jeden Tag wurden 100 von ihnen in die Gaskammer geschickt. Manche hatten einen starren Blick, viele weinten. Alle wussten, wohin es ging. Auch einige Kinder waren dabei. Ich sah nicht direkt, dass sie in die Gaskammer gingen, aber es kam niemand zurück“, so erzählt es Johan Solberg. Die ganze Zeit über habe in Stutthof ein „süßlicher Geruch in der Luft“ gehangen.

Junge Männer wurden erhängt – „neben dem Weihnachtsbaum“

Die Bestrafungen für die Gefangenen seien vielfältig gewesen, von Peitschenhieben bis Ermordung. Das Schlimmste unter all dem Grauenhaften, das der damals 22-Jährige erlebte, sei die Ermordung zweier junger Männer gewesen. Sie seien im Lager erhängt worden, „neben dem Weihnachtsbaum“. Es ist ein Erlebnis, von dem auch schon der Stutthof-Überlebende Marek Dunin-Wasowicz (93) als Zeuge im Prozess erzählt hatte.

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Beim Todesmarsch schließlich hätten von den rund 1300 Gefangenen aus dem Block von Johan Stolberg etwa die Hälfte die Strapazen in eisiger Kälte und mit kaum Nahrung nicht überlebt. „Wer nicht weitergehen konnte, wurde erschossen und blieb am Rand liegen.“ Er wünsche aber trotz aller seiner Erlebnisse „keine Rache“, betont Johan Solberg in seiner Erklärung. „Viele Deutsche wussten nicht, was sie erwartete, als sie sich engagierten. Und wer nicht mitmachte, wurde erschossen. Ich hasse das Nazi-Regime, aber keine einzelnen Menschen“, schreibt der 97-Jährige. „Rache löst keine Probleme. Wir können das, was geschehen ist, nicht ändern. Lasst uns gemeinsam verhindern“, appelliert der Norweger, „dass es sich nicht wiederholt.“

Sohn des Stutthof-Überlebenden drückt die Hand von Bruno D.

Gunnar Solberg, Sohn des Stutthof-Überlebenden Johan Solberg, war in Vertretung zum Prozess nach Hamburg angereist.
Gunnar Solberg, Sohn des Stutthof-Überlebenden Johan Solberg, war in Vertretung zum Prozess nach Hamburg angereist. © AFP

Weil der alte Mann nicht mehr selber kommen kann, ist in Vertretung sein Sohn zum Prozess angereist. Sein Vater wolle, wenn möglich, vermeiden helfen, „dass so etwas wieder geschehen kann“, erzählt Gunnar Solberg. Sein Vater habe lange nicht über das Erlebte sprechen können. 1995 schließlich habe er erstmals ein Interview geben und danach aufgeschrieben, was er durchlebt und durchlitten hat. Es wurden 90 Seiten.

„Mein Vater hatte Glück. Er kam nach Hause zu einer starken Familie“, erzählt der 66-Jährige. Nachdem Johan Solberg nach seiner Gefangenenschaft im Konzentrationslager nach Hause kam, sei er ein Jahr lang sehr krank gewesen. „Er glaubte, er müsse sterben.“ Aber dann habe sein Vater es durch seinen Beschluss, „nicht zu hassen, geschafft, ein gutes Leben mit unserer Mutter zusammen zu führen“.

Beim Verlassen des Gerichtssaals drückt der Sohn des Stutthof-Überlebenden die Hand des früheren Wachmanns Bruno D. Ist es eine Geste und das zuvor Gehörte, das den Angeklagten sehr mitnimmt? Nach einer kurzen Verhandlungspause teilt ein Arzt mit, dass der 93-jährige Bruno D. sich zu schwach fühle, um weiter zuzuhören. Am kommenden Dienstag soll es weitergehen. Dann wird eine Überlebende gehört, die mittlerweile in Australien lebt. Ihre Aussage soll live über Video von dem fernen Kontinent in den Verhandlungssaal übertragen werden.