Hamburg. Anonyme Hinweise auf Überbelegung und Vernachlässigung. Behörde beschlagnahmte zuvor 236 Tierleichen.
Razzia an der Süderstraße: Mitarbeiter des Bezirksamts Mitte rückten am Mittwochmorgen zum Tierheim aus. Anlass für die Durchsuchung: Das Amt hatte zuvor Hinweise erhalten, wonach eine „fachgerechte Betreuung“ der Tiere durch den Hamburger Tierschutzverein (HTV) nicht gewährleistet sei. „Wir gehen im Rahmen unserer Aufsichtspflicht Hinweisen nach, dass das Tierheim überbelegt ist und dass es in diesem Zusammenhang zur Vernachlässigung von Tieren gekommen ist“, sagte die Sprecherin des Bezirksamts, Sorina Weiland. Der HTV habe auf Nachfragen des Bezirksamtes keine Auskunft über den Bestand und Betreuungsschlüssel (Tier/Mensch) erteilen wollen. Weiland: „Da der HTV seiner Auskunftspflicht uns gegenüber nicht nachgekommen ist, wurde eine Kontrolle durchgeführt.“
Dass besonders viele Tiere im Tierheim untergebracht sind, hängt auch mit der Vereinspolitik zusammen. In den vergangenen Jahren hat der Verein Hunderte Hunde aus Rumänien importiert. Auch am jüngsten Wochenende sind wieder zwölf Hunde aus Rumänien in das Tierheim gebracht worden. Die Einfuhr der Hunde ist ein Herzensprojekt der Vereinsvorsitzenden Sandra Gulla – ein Projekt, das bei Fachleuten indes hoch umstritten ist.
Auskunftspflicht nicht nachgekommen
Offenbar gab es vor der Durchsuchung Unstimmigkeiten zwischen städtischen Mitarbeitern und Beschäftigten des Tierheims. Ein Polizeisprecher sagte: Die Beamten seien nicht von Beginn der Aktion an vor Ort gewesen, sie seien von Mitarbeitern des Tierheims gerufen worden. Diese, so der Sprecher weiter, hielten die Kontrolle offenbar für unzulässig und hätten sie daher verhindern wollen. Die Polizei selbst zweifelte indes nicht an der Rechtmäßigkeit der Kontrolle. Ein Ergebnis der Razzia steht noch aus.
Die Auseinandersetzung zwischen dem Tierschutzverein und dem Bezirksamt hat eine Vorgeschichte. Wie berichtet, ermittelt das Bezirksamt schon seit Monaten, weil es die Aufsichtspflicht für das Tierheim innehat. Der Verein soll gegen zahlreiche Vorschriften und Gesetze verstoßen haben. Der Vorstand dementiert, spricht von Schikane der Behörde, ist gerichtlich gegen die Ermittlungen vorgegangen, scheiterte damit aber vor dem Verwaltungsgericht. Seitdem laufen die Ermittlungen wieder auf Hochtouren. In den vergangenen Wochen haben Amtsveterinäre der Behörde 236 Tierkadaver im Tierheim beschlagnahmt – kurz bevor der Verein diese, entgegen einer ausdrücklichen Vereinbarung mit der Behörde, durch ein privates Unternehmen entsorgen lassen wollte.
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Die Vereinbarung sei nötig geworden, weil die Behörde regelmäßig Meldungen über konkrete Fälle von vernachlässigten Tieren im Tierheim erhalte und in diesem Zusammenhang die Todesursache der verstorbenen Tiere ermittelt werden sollte. „Anfang November 2019 wurde der HTV noch einmal schriftlich an die getroffene Absprache erinnert, wonach jedes im Tierheim verstorbene Tier für eine Sektion in das Hygieneinstitut zu geben ist“, sagt Amtssprecherin Weiland.
Der HTV hatte aber auch in diesem Fall offenbar kein Interesse, mit der Behörde zu kooperieren. „Eine irgendwie geartete rechtliche Verpflichtung, alle verstorbenen Tiere zur Sektion zu geben, besteht nicht“, sagte die Vereinsvorsitzende Sandra Gulla dem Abendblatt und fügte hinzu: „Wir arbeiten auf der Basis von Recht und Gesetz und nicht auf der Basis irgendwelcher Bitten oder Wünsche der Amtstierärztinnen des Bezirks Mitte.“ Die Behörde widerspricht: „Selbstverständlich hat das Bezirksamt die Möglichkeit, im Rahmen seiner Aufsichtspflicht, solche Sektionen vornehmen zu lassen“, sagt Weiland.
Ende Dezember stellt Behörde 126 Tierleichen sicher
Trotz der Absprache hat ein Privatunternehmen im HTV-Auftrag allein im November an zwei Terminen sogenannte Kadavertonnen entleert, in denen die toten Tiere gelagert werden. Ende Dezember beauftragte der Verein das Unternehmen erneut, die im Tierheim verstorbenen Tiere zu entsorgen – doch diesmal war die Behörde schneller und stellte 126 Tierleichen sicher, darunter 97 Wildtiere, wie Vögel und Kaninchen, aber auch 29 Heimtiere, wie Hunde und Katzen. An einem weiteren Termin im Januar wurden 90 Wild- und 20 Heimtiere sichergestellt. Wie es von Vereinsseite heißt, sei das keine außergewöhnlich hohe Zahl. „Es liegt in der Natur eines Tierheimes, dass sehr oft Tiere in schlechtem Zustand zu uns gelangen“, sagt die Vereinsvorsitzende Sandra Gulla. Oft gebe es keine andere Möglichkeit, als sie zu „euthanasieren“. Außerdem seien teilweise auch Tiere tot eingeliefert worden.
Aus Sicht vieler Mitarbeiter ist die Lage aber keineswegs unproblematisch. Bereits im Oktober 2018 schrieben alle Tierhausleitungen des Tierheims einen Brief an Vorstand und Tierheimleitung mit dem Titel „Notstand in der Tierversorgung“. Schon damals schrieben die fünf Unterzeichner: „Die Tiere aller Tierhäuser können nicht mehr nach den erforderlichen tierpflegerischen Anforderungen ausreichend versorgt werden.“ Die Tierpfleger seien nicht nur physisch, sondern „durch diese Situation bedingt auch psychisch über die Maßen belastet“. Zudem könne die durch Tierärzte angeordnete Medikation erkrankter Tiere teilweise „aufgrund des Personalnotstandes nicht ordnungsgemäß in der vorgegebenen Zeit vollzogen werden“.
Mitarbeiter bemängeln schlechte Situation im Tierheim
Laut HTV habe es das Schreiben gegeben – nur treffe der Inhalt nicht zu. „Die Versorgung der uns anvertrauten Tiere war zu keiner Zeit gefährdet“, sagt Gulla. Es habe damals einen hohen Krankenstand gegeben, und der Verein habe die Mitarbeiteranzahl in der Tierpflege von 56 auf 65 Personen erhöht.
Das Abendblatt hat in den vergangenen Tagen mit mehreren Mitarbeitern gesprochen, die dieser Darstellung widersprechen und stattdessen eine unverändert schlechte Situation bemängeln. Ein aktueller Einsatzplan aus einem Tag im Dezember 2019, der dem Abendblatt vorliegt, bestätigt diese Einschätzung. Von den nur 52 dort aufgeführten Mitarbeitern fehlte an diesem Tag mehr als ein Drittel. Hauptursache: Krankheit.