Hamburg. Kristina Erichsen-Kruse vom Weißen Ring über anhaltendes Leiden, harte Urteile und die Chancen, schwere Gewalttaten zu verarbeiten.

Sie war Kriminalistin und arbeitete selbst jahrzehntelang in leitender Funktion im Maßregelvollzug – inzwischen kümmert sich Kristina Erichsen-Kruse als stellvertretende Landesvorsitzende des Weißen Rings um die Hinterbliebenen und Opfer von schwersten Verbrechen. Für ihr Engagement wurde Erichsen-Kruse mehrfach ausgezeichnet. Im Interview spricht sie darüber, welche Folgen die Gewalttaten für die Betroffenen haben, was sich die Opfer wünschen – und übt Kritik an mangelnder Unterstützung durch den Staat.

Frau Erichsen-Kruse, was bedeutet es für die Opfer und Hinterbliebenen nach schweren Gewalttaten, wenn der Täter in psychischem Wahn gehandelt hat?

Kristina Erichsen-Kruse: Meist zieht es eine Reihe von Fragen nach sich, was nach dem Gerichtsurteil genau passiert. Oft lautet die dringlichste: Wann kommt der Täter heraus? Wir sagen dann, dass es unter diesem Paragrafen keine zeitliche Begrenzung gibt. Der Täter kann mit 100 Jahren noch dort sitzen, wenn er denn so alt wird.

Bei gutem Verhalten kann er aber nach wenigen Jahren wieder in Freiheit sein.

Ja, viel früher, als es bei einer Gefängnisstrafe für dasselbe Verbrechen der Fall wäre. Und es ist auch die Pflicht und Aufgabe des Maßregelvollzugs, eine Per­spektive für diese Menschen zu geben. Aber es ist fast unmöglich, das den Opfern zu erklären. Trotz aller psychiatrischer Erfahrung, die ich habe, stehe ich manchmal dort und denke: Was soll man in dieser Situation noch Tröstliches sagen?

Wollen die Opfer bloß, dass die Täter nie wieder in Freiheit kommen?

Wenn sie noch Angst vor dem Täter haben, ja. Ich kann das durchaus nach­vollziehen, weil ein psychisch kranker Mensch, der plötzlich mordet oder vergewaltigt, sehr furchteinflößend ist. Und ich würde auch sagen, dass die Perspektive für die Patienten im Maßregel­vollzug nicht immer die Freiheit sein muss. Ich kenne aus meiner Zeit dort auch noch mehrere Patienten, die das Haus 18 nie verlassen dürfen sollten – außer in einem Sarg. Bei ihnen ist der Mordgedanke noch so präsent wie am ersten Tag.

Bleibt auch die Wut der Opfer auf die Täter?

Es gibt nur ganz wenige, die Rachegedanken haben. Sie sind einfach zu mitgenommen dafür. Was alle Opfer möchten, ist, gehört, ernst genommen zu werden. Dass sie nicht nur als nützliche Zeugen gesehen werden. Sie wollen, dass ihre Würde wiederhergestellt wird.

Schafft ein hartes Urteil das?

Es ist für den Moment eine Art Befreiung, aber letztlich ist es nicht wesentlich. Die Opfer erhalten ihr altes Leben nicht zurück. Sie sind die Einzigen, die wirklich lebenslänglich bekommen. Wer etwa sein Kind verliert, wird bis zu seinem letzten Tag mit dem Gedanken daran einschlafen und am nächsten Morgen wieder aufwachen.

Wie gehen die Opfer und Hinterbliebenen damit im Alltag um?

Nur wenige Menschen schaffen es ohne professionelle Hilfe, die Tat irgendwie in das eigene Leben einzubauen. Dass sie arbeitsunfähig werden und ihren Alltag nicht mehr bewältigen können, ist oft noch ein vergleichsweise glimpflicher Verlauf. Ich habe ausgesprochen tragische Fälle erlebt, in denen die Trauer über einen Verlust selbst in Gewalt gegen andere geendet ist. Wenn sich eine posttraumatische Belastungsstörung herausbildet, sprechen wir über eine Belastung, die sich nur sehr schwer behandeln lässt.

Charakteristisch für viele Traumata sind „Flashbacks“, also ebenfalls Wahnsymptome ähnlich wie bei den Tätern.

Wir erleben insbesondere bei Frauen immer wieder mal, dass sie in eine Border­line-Störung abgleiten. Wer sein Leben als Opfer nicht erträgt, muss sich teilen. Dann beginnen Opfer zu dissoziieren, die Realität zu verleugnen, damit sie sich selbst aushalten. Wir können ihnen das Leben nur erträglicher machen. Wir versuchen ihnen durch speziell geschulte Psychologen zu helfen.

Für die Täter gibt es im Maßregelvollzug eine systematische staatliche Therapie, für die Opfer nur ehrenamtliche Angebote.

Sie sind froh, dass es Opferhilfevereine gibt. Wenn die vielen Tausend Arbeitsstunden nicht ehrenamtlich geleistet würden, wären sie für den Staat wohl auch nicht bezahlbar. Die Umstände machen es den Opfern und Hinterbliebenen aber zusätzlich schwer.

Inwiefern?

Anders als etwa in Niedersachsen gibt es in Hamburg keinen Opferfonds, damit sie etwa Schmerzensgeld von Tätern erhalten. Und sie müssen in der Regel selbst aktiv werden und einen Anwalt einschalten, wenn sie wissen wollen, wann ein Täter in Haus 18 Freigänge erhält. Die Last der Tat liegt immer auf dem Opfer. Gleichzeitig spielt ihr Leid im alltäglichen Leben im Maßregelvollzug eher eine Nebenrolle.

Der Lebensstandard für die Patienten in Haus 18 ist vergleichsweise hoch, es gibt vielfältige Angebote. Ist das den Opfern vermittelbar?

Ja, auch wenn es viel Erklärungsarbeit braucht. Ich verstehe, wenn sich jemand darüber aufregt, dass die Patienten noch große Gemälde in einer schönen Kunstwerkstatt malen dürfen, während die Opfer draußen weiter leiden. Ich sage ihnen dann, dass diese Therapie einen Sinn hat, dass sie da ist, Menschen eine Stimme zu geben, die sich über Jahre nicht ausdrücken konnten und keine Stimme hatten. Das können Opfer verstehen, weil sie selbst sprachlos sind.

Gibt es Fälle, in denen Opfer und Täter in Kontakt kommen?

Nur äußerst selten. Die Opfer und ihre Angehörigen haben in der Regel nicht das mindeste Interesse daran.

Selbst wenn der Täter selbst zur Familie gehört?

In diesen Fällen haben wir häufig ein ganz anderes Phänomen – dass die Familie treu und loyal zu dem Kranken hält. Vor einigen Jahren hat etwa ein Mann seinen Bruder ganz bestialisch mit einem Messer getötet, seine Mutter kam in ein Krankenhaus. Ihre erste Frage dort war: Wie geht es meinem übrig gebliebenen Sohn? Die Familie ist sofort nach Ochsenzoll gefahren und hat sich erkundigt. Da hat der Verstorbene dann überhaupt keine Lobby. Auch damit müssen wir umgehen.

Wie groß sind die Chancen, dass die Betreuung der Opfer erfolgreich ist?

Die große Voraussetzung ist, dass sich die Menschen helfen lassen wollen. Dann können wir den Beweis erbringen, dass es ein Leben nach der Tat gibt. Nicht das alte Leben, aber ein anderes. Am Ende hängt es sehr von der Widerstandskraft und den Umständen der Betroffenen ab, inwieweit Verarbeitung gelingt. In einigen Fällen ist die Wucht der Tat nicht aufzuhalten, bis Ehen und ganze Familien daran zerbrechen. Wir haben jedoch auch Klienten, die selbst davon überrascht sind, wieder Freude im Leben empfinden zu können. Da entstehen neue Bindungen, neue Kräfte.

Was bedeutet die Arbeit im Maßregelvollzug aus Ihrer Erfahrung für die Pfleger und Ärzte?

Sie müssen schon sehr stabil sein, um dort zu arbeiten. Und sich selbst sehr gut kennen. Wenn sie das nicht tun, werden sie dort dazu gezwungen, weil sie manchmal einer extremen Belastung ausgesetzt sind. Dabei gelten teilweise dieselben Regeln wie bei der Betreuung von Opfern. Sie brauchen Mitgefühl, dürfen aber niemals Mitleid haben. Sonst ist niemandem geholfen.