Hamburg. Reden statt schweigen! Wie sich Dr. Stephanie Wuensch einsetzt, die Tabus um psychische Krankheiten zu brechen.

Der Blick von ihrem Schreibtisch fällt auf einen 150 Jahre alten Biedermeierschrank aus Mahagoni. Ein kostbares Möbelstück für Dr. Stephanie Wuensch (58). Der Schrank stand einst bei ihren Urgroßeltern, dann bei den Großeltern. „Er erinnert mich an meine Großmutter“, sagt die Ärztin.

Auch ihre Großmutter, 1901 in Otterndorf/Kreis Land Hadeln geboren, wollte Ärztin werden. Sie gehörte zu den ganz wenigen Frauen, die in den 1920er-Jahren in Deutschland studierten. Nach sechs Semestern brach sie ihr Studium in Heidelberg ab, als sie ihre große Liebe kennenlernte und heiratete.

„Meine Großmutter hat immer bedauert, dass sie ihr Studium nicht beendet hat“, sagt Stephanie Wuensch. Entsprechend stolz war die alte Dame später auf ihre Enkeltochter, die ihr Medizinstudium in Hamburg abschloss. „Meine ersten Jahre auf meinem beruflichen Weg hat sich noch mitbekommen“, sagt Stephanie Wuensch. Ihr sei es immer wichtig gewesen, dass Frauen auch beruflich ihren eigenen Weg gehen.

Seit 2005 firmiert der Verein als Stiftung

Dies ist Stephanie Wuensch ohne Frage gelungen. Seit 2012 führt sie als Vorstandsvorsitzende die Stiftung Freundeskreis Ochsenzoll. Die Stiftung betreut inzwischen 1000 Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder seelischen Behinderung. Damit zählt die Stiftung mit 300 Mitarbeitenden zu den größten Einrichtungen dieser Art im Norden.

Ein erstaunlicher Weg: Als Pflegekräfte und Angehörige von Patienten des ehemaligen Allgemeinen Krankenhauses Ochsenzoll den Freundeskreis Ochsenzoll gründeten, wollten sie vor allem Spenden einwerben, um das Krankenhaus schöner zu machen – etwa mit dem Kauf von Bildern. Mitte der 1980er-Jahre entwickelte sich der Verein zu einem Dienstleister auf dem Gebiet der Psychia­trie, firmiert seit 2005 als Stiftung. Und doch ist eines geblieben: Die Stiftung arbeitet wirtschaftlich wie organisatorisch völlig unabhängig vom Krankenhaus Ochsenzoll, das inzwischen zum Asklepios-Konzern gehört.

Bekannte Veranstaltung

Die Öffentlichkeit kennt die Stiftung vor allem durch die Veranstaltung „reden! statt schweigen“. Jeden November lädt der Freundeskreis Ochsenzoll zu einer Veranstaltung in die Kulturfabrik Kampnagel ein, um über psychische Erkrankungen zu informieren.

Müsste man die Mission von Stephanie Wuensch auf drei Worte komprimieren, reden statt schweigen würde es gut treffen. Seit Jahrzehnten wirbt die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie dafür, die Tabus zu brechen. Es ist ja auch kaum zu begreifen: Die Krankheit an der Seele ist längst ein Massenphänomen – nach Studien hat bis zu einem Drittel der erwachsenen Bevölkerung im Laufe ihres Lebens psychische Probleme bis hin zu schweren Depressionen. Und doch sagen viele Betroffene im Kollegen- oder Freundeskreis lieber: „Ich habe Rücken.“ Genau deshalb ist Stephanie Wünsche die Aufklärung über psychische Erkrankungen so wichtig: „Nur genaue Information lindert Ängste und Vorbehalte.“

Für diese Rolle, das darf man sagen, ist die Hamburgerin die Idealbesetzung. Fachlich als Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. Und menschlich als jemand, der gern auf andere Leute zugeht. „Kommunikation war für mich immer wichtig“ sagt sie.

Schattenseiten der Seele

Dies war auch der entscheidende Grund, warum sie sich im Medizinstudium gegen die Orthopädie entschied. Dabei hätte diese Fachrichtung nahegelegen, um später einmal die Praxis ihres Vaters zu übernehmen. Doch dafür ist die Faszination der Psyche zu groß: „Die Seele hat mich immer interessiert.“

Die Schattenseiten der Seele lernte Stephanie Wuensch in Ochsenzoll kennen. Sie behandelte auch psychisch kranke Straftäterinnen. „Von Tötungs- bis zu Betrugsdelikten war alles dabei“, sagt Stephanie Wuensch.

Doch ihr Schwerpunkt bleibt die allgemeine Psychiatrie. Und dort sucht sie sich ein Gebiet für ihr gesamtes Berufsleben: Enthospitalisierung. Hinter diesem Wortungetüm verbirgt sich das Ziel, psychisch kranke Menschen, die mitunter über Jahrzehnte auf einer Station gelebt haben, wieder fit zu machen für ein eigenständiges Leben außerhalb der Klinik. „Ende der 1980er-Jahre entstand eine Aufbruchstimmung in der Psychiatrie“, sagt Stephanie Wuensch.

Patienten zügig in das Alltagsleben integrieren

Inzwischen hat sich in ihrer Disziplin längst der Gedanke durchgesetzt, Patienten möglichst zügig in das Alltagsleben zu integrieren. Bei 650.000 Menschen, die in Deutschland an einer chronischen seelischen Erkrankung leiden – die meisten an Schizophrenie –, ist dieser Weg schon aus Kapazitätsgründen alternativlos.

Auf dem Weg, psychisch Kranken ein eigenständiges Leben zu ermöglichen, bleibt die Wohnungssuche ein großes Hindernis. „Da gibt es viele Vorurteile. Viele denken, psychisch Kranken schreien die ganze Nacht, lassen die Wohnung verwahrlosen oder führen ständig Selbstgespräche“, sagt Stephanie Wuensch. Dabei seien diese Sorgen in den allermeisten Fällen unbegründet: „Zum Glück gibt es aber auch verständnisvolle Vermieter, die für unsere Klienten sogar ihre Wohnungen umbauen.“ Zudem unterhält die Stiftung zwei eigene Appartementhäuser und ein Wohngruppenhaus.

Und doch besteht bei schweren psychischen Erkrankungen immer das Suizid-Risiko. Wer sich auf das Feld der Psychiatrie begibt, weiß, dass sich in Deutschland fast 10.000 Menschen pro Jahr das Leben nehmen. Damit sterben in unserem Land fast dreimal mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle.

Verbindlich, zuverlässig, gut organisiert

Auch Stephanie Wuensch hat Patienten durch Suizide verloren. „Das ist jedes Mal ein unglaublich großer Schrecken“, sagt sie. Es bleibe „etwas Unfassbares“ zurück: „Und jedes Mal frage ich mich: Habe ich genug getan? Habe ich Signale übersehen?“

Abschalten vom Job kann sie am besten beim Reisen, Fahrradfahren und bei Besuchen im Theater und in der Oper. Und sie mag Gesellschaftsspiele. Ihr Favorit heißt „Thurn und Taxis“, das Spiel des Jahres 2006. Wer gewinnen will, muss mit der richtigen Taktik Postkutschen auf möglichst lange und gewinnträchtige Strecken schicken.

Ein Strategiespiel passt zu ihr. „Ich bin verbindlich, zuverlässig, gut organisiert, interessiert, aber auch manchmal etwas ungeduldig“, beschreibt sie ihren Führungsstil, Beim Abendblatt-Termin ist sie es, die am Ende des Gesprächs den Reporter an die drei Fragen erinnert, Standard bei jedem Porträt auf dieser Seite.

Pflegenotstand ist in der Psychiatrie angekommen

Angesichts der künftigen Herausforderungen braucht die Stiftung auch jemanden mit einer guten Strategie an der Spitze. Der Pflegenotstand in Deutschland ist auch in der Psychiatrie angekommen, die Stiftung sucht Pflegekräfte. Inzwischen wirkt sich auch der Ärztemangel aus.

„Es wird zunehmend schwieriger, Kolleginnen und Kollegen zu finden“, sagt Stephanie Wuensch. Zugleich wächst die Zahl der Klienten, es gibt immer mehr psychisch Kranke. Wobei es ganz korrekt heißen müsste: psychisch Kranke, die sich zu ihrer Krankheit bekennen. „In der Kriegsgeneration galt noch, dass man sich nicht so anstellen solle, wenn man mal traurig ist. Das ändert sich zum Glück.“

Politik setzt sich zu wenig mit den Ängsten auseinander

Sorgen macht der Ärztin, dass die Politik sich zu wenig mit Ängsten auseinandersetze. Etwa in der Stadtplanung. „Menschen brauchen räumlichen Abstand. Es ist wichtig, dass man sich durch Nachverdichtungen nicht immer dichter auf die Pelle rückt.“ Oder der Klimawandel: „Hier muss die Politik noch entschlossener handeln, auch Vorgaben machen. Es gehört zu den Urängsten, dass der Mensch eine Gewalt nicht mehr beherrschen kann.“

3 Fragen

  • 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre? Lebensfreude.
  • 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen? Mit verlässlichen und gut gelaunten Kostenträgern gemeinsam innovative Versorgungsangebote für Menschen mit seelischen Erkrankungen aufbauen. Dieses Ziel will ich mit vielen tollen Mitarbeitenden erreichen.
  • 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren? Noch mehr konkrete Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz. Zudem brauchen wir verstärkt Ideen, um den Auswirkungen der demografischen Entwicklung zu begegnen.

Bleibt am Ende eine Frage: Was ist eigentlich drin in dem Biedermeierschrank der Großmutter? Stephanie ­Wuensch öffnet ihn behutsam, der Inhalt ist unspektakulär. Alte Kalender, betagte Fachbücher, Mini-Hanteln. „Ich bewahre hier nur Dinge auf, die ich selten brauche“, sagt sie. Der Schrank sei viel zu alt, um ihn jeden Tag mehrfach zu öffnen und zu schließen. Stephanie ­Wuensch will noch lange Freude an dem Möbelstück haben, das sie so sehr an ihre Großmutter und unbeschwerte Ferientage in Otterndorf erinnert.