Hamburg. Sie wacht als Verfassungsrichterin in Karlsruhe über die Einhaltung der Grundrechte. Privat bleibt sie dem Norden eng verbunden.
Auf den Meter genau hat sie es in Erinnerung. Eben weil ein großartiger Augenblick einen tiefen Eindruck hinterlässt. Lebenslang. Als die Hamburger Professorin Doris König in 5895 Metern Höhe auf dem Gipfel des Kilimandscharo stand und ihren Blick von oben über die von Sonne beschienene Wolkendecke schweifen ließ, gab es für ihr Seelenleben nur ein passendes Wort: erhaben. Sehr kalt war es, intensiv beglückend. Wegen des Gefühls, die Strapaze auf den gewaltigen Berg im Nordosten Tansanias absolviert zu haben. Und wegen des Erfolgserlebnisses: Was du dir vornimmst, kannst du schaffen.
Dass es zudem beruflich bergauf ging, ist gleichfalls Produkt des persönlichen Leistungswillens, des Talents sowie des Fingerspitzengefühls. Zehn Jahre nach der Gipfelbesteigung von 2004 wurde Doris König im Juni 2014 vom Bundestag als Verfassungsrichterin gewählt und vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck auf Schloss Bellevue vereidigt. Mehr geht nicht in diesem Job. Ihre Amtszeit im Zweiten Senat des höchsten deutschen Gerichts dauert bis 2025. Solange pendelt die Juristin zwischen ihrer kleinen Wohnung in Karlsruhe und dem Hauptwohnsitz in Hamburg-Rotherbaum.
Eine fröhliche Frau mit gewinnendem Naturell
Von zu Hause ins Hotel Grand Elysée sind es nur ein paar Fußminuten. Zum Abendblatt-Gespräch an einem ruhigen Ecktisch im Foyer erscheint eine aufgeschlossene und fröhliche Frau mit gewinnendem Naturell. Sollte es jemals Vorurteile gegen hochdekorierte Juristen gegeben haben, sind diese von Anfang an im Keim erstickt. Eine für Außenstehende hin und wieder gewiss dröge Materie, so der Lehrsatz Nummer eins, hat auf die Persönlichkeit nicht abgefärbt. Im Gegenteil. Es wird viel gelacht an diesem ansonsten winterlich-grauen Vormittag.
Es spricht eine Menge für die norddeutsche Zurückhaltung einer der höchsten Richterinnen hierzulande, dass in der Öffentlichkeit kaum Aufhebens über diese Personalie gemacht wird – von Professorin Doris König am allerwenigsten. Darauf angesprochen, reagiert die gebürtige Kielerin mit einem Lächeln. Dass die Völkerrechtlerin an diesem Freitag in Hamburg weilt, entspringt einem Glücksfall: Am Vorabend hielt sie in den Räumen der Berenberg-Bank einen Vortrag. Gastgeber war die Daniela und Jürgen Westphal-Stiftung. Diese gemeinnützige Institution fördert private Universitäten und legt besonderes Augenmerk auf die soziale Bedürftigkeit. Unterstützt werden Auslandsaufenthalte von Studenten, die sich diese sonst nicht leisten könnten.
Mehr als drei Jahrzehnte in Hamburg
„Mit einem Vortrag gebe ich ein kleines bisschen zurück“, sagt Doris König, die seit mehr als drei Jahrzehnten in Hamburg lebt und auf ihre berufliche Vergangenheit in der Hansestadt anspricht. Diese bescherte ihr, besonders in Fach- und Kollegenkreisen, einen ausgezeichneten Ruf. Von 1989 bis 2000 war sie als Richterin und Hochschulassistentin im Einsatz. Anschließend folgten 14 Jahre im Dienst der Bucerius Law School, der renommierten Privatuniversität in der Nähe des Fernsehturms. Erst war sie dort Juraprofessorin, später Präsidentin. Damals stand die Stiftung ihren Studenten zur Seite. Daher das aktuelle Engagement.
Sie selbst entstammt einem bürgerlichen Elternhaus – und ist die erste Akademikerin der Familie. Diese Tatsache ist ein Kompliment für die Möglichkeiten unseres Bildungssystems. Väterlicherseits stammen ihre Vorfahren aus Nordfriesland und Holstein, mütterlicherseits aus Mecklenburg. Die Mutter war Hausfrau. Ihr Vater, Heinz Ketelsen, leitete in den 1950er-Jahren als Kommunalbeamter das Kieler-Woche-Büro, bevor er zu den Stadtwerken wechselte.
Glück mit ihrem Mann hält bis heute
Doris König nutzte die Studien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel nicht nur für Rechtswissenschaften. Im Fachbereich lernte sie den Kommilitonen Joachim kennen. 1981, nach dem Ersten Staatsexamen, heirateten beide. 1986 zog er nach Hamburg, zwei Jahre darauf sie. Das Glück, sagt sie, hält bis heute. Und fraglos trägt ein stabiles Fundament dazu bei, das auch permanentes Pendeln die Partnerschaft nicht ins Wanken geraten lässt. „Es ist anfangs nicht leicht“, sagt die 62-Jährige dazu, „lässt sich jedoch organisieren.“
Von Montag bis Freitag arbeitet die Richterin in Karlsruhe. In ihrer Wohnung dort freut sie sich über maritime Erinnerungsstücke aus dem Norden: ein Tablett mit Sand und Muscheln, einen Kalender mit Motiven von Nord- und Ostsee, ein Plakat des Kieler Schifffahrtsmuseums. Zwei- bis dreimal im Monat fährt sie mit dem Zug übers Wochenende gen Heimathafen Hamburg. Neuerdings führt der Weg noch ein Stück weiter Richtung Norden: In Eckernförde hat sich das Ehepaar König eine kleine Ferienwohnung gekauft – direkt am Strand. „Da habe ich das, was ich kenne und brauche“, sagt die Verfassungsrichterin, „Wasser, Wellen, Aussicht, Horizont.“
Enorme Verantwortung
Denn Muße, das gibt sie zu, ist ein rares Gut. Juristische Schwerpunkte an der Uni waren früher Europa- und (See-)Völkerrecht. Gemeinsam mit den sieben Kollegen des Zweiten Senats des Verfassungsgerichts, der zur Hälfte mit Frauen und Männern besetzt ist, kümmert sich Professorin König – vereinfacht auf den Punkt gebracht – um Grundrechte sowie Staats- und Organisationsrecht. Ihre Aufgabe empfindet sie als „abwechslungsreich und interessant“. Ohne Verantwortungsbewusstsein geht gar nichts.
Und wie ist es, wenn man grundsätzlich das letzte Wort hat, Frau Richterin? „Bei großen Senatssachen kann es eine Belastung sein“, sagt sie nach einem Biss ins Buttercroissant. Dann spüre sie diese enorme Verantwortung. So wie beim laufenden Verfahren über Sterbehilfe, dessen Urteil im kommenden Jahr verkündet werden soll.
Dann wird Doris König in ihrer Dienstkleidung am Richtertisch sitzen: kaminrote Robe aus Satin, Barett sowie eine weiße Halsbinde, „Jabot“ oder „Beffchen“ genannt. Die Robe erben die höchsten Richter von ihren Vorgängern. Es ist eine Frage der Tradition – und ein bisschen vielleicht auch der Sparsamkeit. Heutzutage sind die beiden Senate mit jeweils acht Juristen besetzt. Erste Frau im Verfassungsgericht war von 1951 bis 1963 Erna Scheffler, 1893 in Breslau geboren. Intern wurden die Gremien in Karlsruhe damals als „Schneewittchen-Senate“ bezeichnet. „Sieben Männer und eine Alibifrau“, weiß Doris König. In den 1990er-Jahren stieg die Frauenquote.
Mitglied des Deutschen Juristinnen-Bundes
Die Hamburgerin hat Fakten wie diese im Nu parat. Sie redet nicht über Gleichberechtigung; sie praktiziert diese. „Selbstverständlich“ ist sie Mitglied des Deutschen Juristinnen-Bundes. Frauen, ergänzt sie, sollten sich in Netzwerken organisieren. Es ist kein Zufall, dass die engagierte Professorin am 8. März des Vorjahres, dem Internationalen Frauentag, auf Einladung des Hamburger Senats einen Vortrag zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht“ hielt.
Und weil wir gerade bei Grundsatzfragen sind: Wie betrachtet sie die politische Diskussion in Deutschland? „Ich denke mehr nach, wie der Rechtsstaat zu sichern ist“, entgegnet sie, „mehr noch als vor ein paar Jahren. Weil die Gefährdung größer geworden ist.“ Derzeit sei es besonders wichtig, „Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu schützen und voranzutreiben“. Es gelte, die EU zu stärken, weil Deutschlands Zukunft auch in Europa liege. Mit ihrem Ehemann nahm Doris König 2018 an einer Demonstration der Initiative „Pulse of Europe“ teil. Verfassungsrichter dürfen ihre Meinung kundtun.
3 Fragen
- 1. Was ist Ihr wichtigstes persönliches Ziel für die nächsten drei Jahre?
Mehr Zeit für meinen Mann und für gelegentliche Aufenthalte in unserer kleinen Ferienwohnung in Eckernförde zu haben. - 2. Was wollen Sie in den nächsten drei Jahren beruflich erreichen?
Weiterhin gute und ausgewogene Entscheidungen zu treffen, die von den Menschen verstanden werden. - 3. Was wünschen Sie sich für Hamburg in den nächsten drei Jahren?
Einen klugen Senat, der Umweltschutz und Wachstum in Einklang bringt.
Wie findet man Zerstreuung bei einem Beruf mit hohen fachlichen und moralischen Ansprüchen? Beispielsweise mit Kriminalromanen aus Skandinavien oder geschrieben von Petra Oelker: skurrile Fälle im Hamburg des 18. Jahrhunderts. Mit Spaziergängen an Alster oder Elbe, mit Wandern im Schwarzwald oder mit den regelmäßigen Urlauben an Dänemarks Nordseeküste. Früher standen drei Monate Bangkok und Camper-Touren durch Kalifornien oder Kanada auf dem Reiseplan.
Bis Dias über den höchsten Berg Afrikas ihre Seele elektrisierten. Die Idee einer Besteigung des Kilimandscharo war geboren. Ohne präzise, professionelle Vorbereitung klappt so etwas nie. In Reihen des Eimsbütteler TV machte sich Doris König fit für den Aufstieg. Keinesfalls im Alleingang, sondern mit einer eigenen Crew, bestehend aus einem Guide und zwei Trägern, wagte sie das Abenteuer. Nach knapp einer Woche waren 5895 Meter geschafft. Ein „Wahnsinnsgefühl“ habe sich eingestellt. Unvergessen.
So etwas kann man nicht wiederholen – andere Ziele anpeilen schon. Intensive Touren durch Neuseeland, Australien oder Südafrika, hofft Professorin Doris König, ja, das ist ein Traum.
Dann aber bitte in Begleitung ihres Ehemannes.