Hamburg. Die Eigenanteile steigen massiv. Ist eine Vollkasko-Versicherung sinnvoll? Oder eine Deckelung? Das sind die Pläne von Spahn.
Mit eher mulmigem Gefühl werden die Bewohner von Pflegeheimen oder ihre Angehörigen in diesen Tagen Post von Heimbetreibern öffnen. Denn der Inhalt könnte unerfreulich sein. Es drohen massive Erhöhungen der Eigenanteile. Thomas Flotow, Chef von Pflegen & Wohnen Hamburg, hält eine Steigerung von 200 bis 300 Euro im Monat für möglich. Auch das Hospital zum Heiligen Geist in Poppenbüttel mit 732 Pflegeheimplätzen rechnet mit Erhöhungen zwischen 100 und 200 Euro.
Die höheren Kosten für die Bewohner werden die Diskussion um eine Reform befeuern. „Die bessere Bezahlung der Pflegekräfte geschieht zu 100 Prozent zulasten der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen. Damit steigt auch die Zahl derer, die Unterstützung vom Sozialamt brauchen. Dies führt also zu einer Verarmung der Pflegebedürftigen. Die Eigenanteile müssen in welcher Form auch immer begrenzt werden“, appelliert Flotow. Auch Frank Schubert, Vorstandschef im Hospital zum Heiligen Geist, sagt: „Es ist gut und längst überfällig, dass wir Tarifsteigerungen in den Pflegesatzverhandlungen angemessen berücksichtigen können. Aber dies darf nicht zu einer einseitigen Belastung der pflegebedürftigen Menschen führen. Deshalb muss der Eigenanteil begrenzt werden. Stattdessen sollten zukünftige Steigerungen über die Pflegeversicherung refinanziert werden.“ Das Abendblatt beantwortet die wichtigsten Fragen.
Wie setzen sich die Kosten zusammen?
In Pflegeheimen gibt es drei große Kostenblöcke: Pflege, Unterkunft und Verpflegung sowie die Investitionskosten. Die Pflegeversicherung beteiligt sich allein an den Kosten für die Pflege. Verpflegung und Unterkunft zahlen die Bewohner selbst – in Hamburg im Schnitt 768 Euro im Monat. Dies gilt auch für die Investitionskosten, also für Umbau- und Ausbaumaßnahmen sowie Modernisierungen (Hamburg: 548 Euro). Dazu kommen noch die Umlage für die Ausbildung von Pflegekräften (Hamburg: 88,22 Euro). Der Eigenanteil an den Pflegekosten liegt derzeit in Hamburger Heimen im Schnitt bei 658 Euro im Monat.
Wie hoch ist der Gesamt-Eigenanteil der Heimbewohner im Vergleich? Und warum steigt er?
Der Eigenanteil differiert von Bundesland zu Bundesland enorm. An der Spitze liegt derzeit Nordrhein-Westfalen mit 2337 Euro im Schnitt, Schlusslicht ist Sachsen-Anhalt (1218 Euro, alle Angaben ohne Ausbildungsabgabe). Hamburg (1974 Euro) liegt etwas über dem deutschen Durchschnittswert (1891 Euro), Schleswig-Holstein (1679 Euro) und Niedersachsen (1562 Euro) liegen darunter.
Dieser Eigenanteil wird in den kommenden Jahren stark steigen, wenn sich nichts am System ändern sollte. Experten wie der Bremer Pflegewissenschaftler Prof. Heinz Rothgang rechnen mit einem Anstieg von 500 Euro im Monat binnen fünf Jahren. Dies liegt vor allem an der deutlich besseren Bezahlung der Pflegekräfte. Pflegen & Wohnen Hamburg etwa erhöht die Gehälter von Januar 2020 an um 4,9 Prozent und im folgenden Jahr um weitere 4,7 Prozent. Mit Schichtzulagen verdient eine erfahrene Pflegekraft künftig rund 3800 Euro im Monat. „Diese Ausgaben müssen refinanziert werden“, sagt Thomas Flotow, Chef von Pflegen & Wohnen Hamburg.
Wer zahlt, wenn die Rente nicht reicht für den Eigenanteil?
Grundsätzlich gilt: Jeder Bewohner muss bis auf ein Schonvermögen von 5000 Euro sein Vermögen aufbrauchen, dazu gehört auch der Erlös aus dem Verkauf einer Immobilie. Allerdings muss der Ehe- oder Lebenspartner, der daheim wohnen bleibt, das gemeinsame Haus nicht verkaufen, um den Pflegeheimplatz zu finanzieren. Ist das Vermögen aufgebraucht, sind im nächsten Schritt die Angehörigen gefordert. Kinder von pflegebedürftigen Eltern werden entlastet, sie müssen sich nun erst bei einem Jahreseinkommen ab 100.000 Euro beteiligen. Daher werden künftig die Sozialämter noch mehr zahlen müssen. Schon jetzt beziehen 43 Prozent der Hamburger Pflegeheimbewohner „Hilfe zur Pflege“. Kosten für die Sozialbehörde 2018: 89,3 Millionen Euro. Wer „Hilfe zur Pflege“ bezieht, erhält im Monat rund 114 Euro Taschengeld, etwa für Friseurbesuche oder kleine Geschenke für Enkel.
Können die Heime die Kostenschraube beliebig drehen?
Nein. Jede Erhöhung muss mit den Kostenträgern ausverhandelt werden. Experten der Pflegekassen und der Behörde schauen sich die vorgelegten Zahlen genau an, insbesondere die Personalschlüssel. In der Regel werden nicht alle Forderungen anerkannt.
Sollte die Pflegeversicherung nach dem Muster der Gesetzlichen Krankenversicherung alle Pflegekosten übernehmen?
Diese Forderung erhebt die Gewerkschaft Ver.di. „Pflegebedürftigkeit darf nicht arm machen, deshalb braucht es dringend die Pflegebürgervollversicherung“, sagt Sylvia Bühler, Mitglied im Bundesvorstand. „Durch diesen Systemwechsel wird auch das Dilemma beseitigt, dass bei jeder Tariferhöhung der Beschäftigten der Eigenanteil der Bewohnerinnen und Bewohner der Pflegeeinrichtungen steigt.“ Einzahlen sollen alle Berufsgruppen, also auch Selbstständige.
Wirtschaftswissenschaftler Prof. Bernd Raffelhüschen hält dies für einen Irrweg: „Die durch die Vollkaskopflege notwendigen Beitragserhöhungen hätten eine erhebliche Mehrbelastung, vor allem der kommenden Erwerbsgenerationen, zur Folge.“ Die höheren Lohnnebenkosten würden Arbeitsplätze gefährden. Zudem berge der Vorschlag soziale Sprengkraft: „Die Vollkaskopflege ist nichts anderes als ein Erbschaftsbewahrungsprogramm für die Wohlhabenden.“
Was schlägt Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks vor?
Die SPD-Politikerin plädiert für einen Sockel-Spitze-Tausch. Derzeit bilden die Leistungen der Pflegeversicherung den Sockel, den durch die Reformen immer höheren Eigenanteil, also die Spitze, zahlen die Bewohner. Cornelia Prüfer-Storcks fordert, dass dies umgedreht werden muss: Der Eigenanteil soll eingefroren werden, die Pflegeversicherung müsse mit einem Steuerzuschuss die Mehrausgaben übernehmen, nur dann könne wieder von einer Teilkasko-Versicherung in der Pflege die Rede sein: „Wer gepflegt wird, darf nicht arm werden. Dies kann nicht der Sinn und Zweck einer Sozialversicherung sein, die zum Schutz vor dem Abgleiten in Sozialbedürftigkeit gegründet wurde.“
Vergebens kämpfte die Senatorin bei einem Treffen der Länder-Gesundheitsminister mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) für einen sofortigen Zuschuss aus Steuermitteln, um den Anstieg des Eigenanteils abzufedern, sowie für die Einrichtung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die Lösungen erarbeiten sollte. Spahn lehnte dies ab.
Was will Jens Spahn?
Bei einer Diskussen von Pflegen & Wohnen in Farmsen warb Spahn jetzt für „einen breiten Dialog“. Er strebt mehr Berechenbarkeit bei Eigenanteilen für Pflegebedürftige an: „Es muss planbarer und verlässlicher werden, wie viel eine Familie an Eigenanteilen einbringen muss.“ Spahn will zunächst abwarten, wie sich die Tarifsteigerungen im Pflegebereich auswirken, und Mitte des Jahres einen eigenen Entwurf vorlegen. Eine Pflegevollkasko-Versicherung lehnt Spahn ab, man dürfe die Familie nicht komplett aus der Verantwortung lassen.
Welche Wege gäbe es noch?
Der Vdek (Verband der Ersatzkassen) fordert, dass die Bundesländer die Investitionskosten in Heimen übernehmen sollen. „Dann könnten Pflegebedürftige im stationären Bereich sofort um durchschnittlich 450 Euro im Monat entlastet werden“, heißt es in Positionspapier des Verbands. Diskutiert wird auch, ob es gerecht ist, dass sich Bewohner an Ausbildungskosten für angehende Pflegekräfte beteiligen müssen. Dies könnte auch aus Steuermitteln finanziert werden.