Hamburg. Ex-Boxweltmeister erhält Ehrenpreis der Hamburger Sportgala. Interview über sein Leben nach dem Rücktritt vom Leistungssport.

Die Hamburger Sportgala ist bekanntes Terrain für Wladimir Klitschko. 2015 warb er auf der Veranstaltung, auf der die Stadt, die Firma ECE, der Hamburger Sportbund, der NDR und das Abendblatt in Kooperation jährlich die besten Athletinnen und Athleten Hamburgs ehren, leidenschaftlich für Olympische Spiele 2024 auf dem Kleinen Grasbrook.

Am Mittwoch (11. Dezember, Volksbank Arena) steht der am längsten amtierende Boxweltmeister im Schwergewicht als Hauptdarsteller im Mittelpunkt der Sportgala. Der 43 Jahre alte Ukrainer, der Hamburg als seine Wahlheimat angibt und an der Großen Elbstraße mit seinem Unternehmen Klitschko Ventures ansässig ist, erhält den Ehrenpreis für sein Lebenswerk.

Ausgezeichnet wird damit nicht nur sein sportliches Vermächtnis, sondern auch sein beispielhafter Übergang aus dem Leistungssport in die zweite berufliche Karriere. Über diesen spricht der Zweimeterhüne, der auch zweieinhalb Jahre nach seinem Rücktritt noch aussieht, als könnte er sofort in den Ring zurückkehren, im Abendblatt leidenschaftlich.

Herr Klitschko, Anfang August 2017 haben Sie Ihren Rücktritt bekannt gegeben. Gibt es heute in Ihrem zweiten Berufsleben Menschen, die Sie nicht als Boxer kennen oder wahrnehmen?

Wladimir Klitschko: Nicht, dass ich wüsste. Und das finde ich auch überhaupt nicht schlimm. Mein Bruder Vitali ist seit mehr als fünf Jahren Bürgermeister in Kiew, und trotzdem sehen die meisten Menschen in ihm den Boxer, der er war. Wladimir Selenskij, der aktuelle Präsident meiner Heimat Ukraine, wird immer der Komiker bleiben, der er lange war. Oder nehmen Sie Arnold Schwarzenegger. Was hat er nicht alles geschafft in seinem Leben, er war Schauspieler, Politiker, Unternehmer. Aber alle verbinden ihn immer noch mit dem Bodybuilding. Jeder Mensch hat im Leben etwas, das ihn ganz besonders geprägt hat. Das Boxen ist ein wichtiger Teil meines Lebens, und es stört mich nicht, dass ich immer damit verbunden sein werde.

Dennoch war es Ihnen wichtig, einen Schlussstrich zu ziehen. Wie lange hat es gedauert, bis Sie den Leistungssportler in sich zur Ruhe gebracht hatten und sich Ihren neuen Aufgaben widmen konnten?

Ich will den Leistungssportler in mir gar nicht zur Ruhe bringen, denn ich bin der Überzeugung, dass Leistungssportler die besten Selbst-Manager sind, die es gibt. An der Universität in St. Gallen habe ich den Studiengang ,Change und Challenge Management‘ ins Leben gerufen, der bald ins fünfte Jahr geht. Darin geht es darum, wie sich Manager auf Herausforderungen einstellen und Veränderungen meistern können. Wenn ich Leistungssportler und Manager vergleiche, fällt mir auf, dass sich die mentalen und physischen Herausforderungen oftmals ähneln. Sportler wissen sehr genau, wie man Herausforderungen sucht und mit ihnen umgeht. Sie bringen Ausdauer und Resilienz mit. Manager dagegen haben ein enormes Wissen in ihren Fachgebieten, sind aber häufig zögerlich, wenn es darum geht, Herausforderungen mutig und aktiv anzugehen. Wenn man beides miteinander kombiniert, ergibt diese Synergie Qualitäten, die eine Superfrau oder einen Supermann ausmachen. Die Kombination ist ideal, deshalb bleibe ich im Herzen Sportler, auch wenn ich mich inzwischen anderweitig orientiert habe.

Früher war Ihr Beruf Profiboxer. Was sind Sie heute?

Diese Frage, wer ich bin, habe ich mir tatsächlich auch gestellt. Meine Antwort ist: Ich bin Challenge Master, denn ich liebe Herausforderungen – und Wege zu finden, sie zu meistern. Ich bin weder Unternehmer noch Politiker, noch bin ich Sportler oder Lehrer. Von allem bin ich ein bisschen, aber Challenge Master trifft es am besten.

Ihre Herausforderung als Profiboxer war klar umrissen, es war immer der nächste Gegner. Was ist in Ihrer neuen Karriere die größte Herausforderung?

Die Zeit. Die Welt ist viel größer und bunter, als ich dachte, das habe ich tatsächlich unterschätzt. Als Sportler steckt dein Kopf wie in einem Kasten. Es gibt einen eng gesteckten Rahmen, du hast nur einen Fokus – den auf deinen nächsten Kampf. Das vermisse ich am meisten, dass ich nur mein Team um mich herum habe und auf ein klares Ziel hinarbeite. Nun ist mein Fokus viel breiter gestreut, ich muss verschiedene Felder managen, sehr agil sein. Das heißt nicht, dass ich nicht wüsste, was ich tue. Es ist aber schwieriger, Menschen und Unternehmen zu koordinieren.

Können Sie sagen, welches Ihr aktuell wichtigstes Projekt ist?

Nein, dazu gibt es zu vieles, was mir wichtig ist. Ich habe meinen Studiengang. Mit Klitschko Ventures habe ich die Methode „F.A.C.E. the Challenge“ entwickelt. Auf dieser bauen all unsere Angebote auf, die sich in die Säulen Inspiration, Aus- und Weiterbildung, Beratung und Lösungen gliedert. Sie ist bei Partnern wie SAP oder der Deutschen Telekom bereits im Einsatz, und mein Anreiz ist es, dieses Programm auch auf Regierungsebene zu implementieren. Denn welche Regierung arbeitet so methodisch wie ein erfolgreiches Unternehmen? Ich bin für unsere Stiftung, die Klitschko Foundation, unterwegs, die inzwischen im 17. Jahr existiert und seitdem bereits zwei Millionen Kinder erreicht hat. Ich arbeite in der Ukraine an der Plattform mixsport.pro, die Sportangebote transparenter gestalten und zen­tralisieren möchte. Und, nicht zu vergessen: Ich bin auch Vater einer Tochter, das ist auch ein ganz wichtiger Job.

Viele Leistungssportler, die auf Ihrem Niveau erfolgreich waren, sorgen sich beim Karriereende darum, ob sie jemals etwas finden, in dem sie noch einmal so erfolgreich sein können. Hatten Sie diese Angst auch?

Natürlich hatte ich auch Ängste, als ich aufhörte. Aber ich habe zwei Dinge anders gemacht. Erstens sehe ich Angst von jeher als etwas Positives, weil sie dafür sorgt, dass man wachsam und in Bewegung bleibt. Angst hat mich im Sport besser gemacht, und das gilt jetzt in der zweiten Karriere genauso. Angst ist positiv, solange sie nicht die Grenze zur Feigheit überschreitet. Sie ist der Ansporn dazu, etwas zu wagen, auch eine zweite Karriere. Ich hatte Angst vor diesem Moment, aber ich wusste, dass er kommen würde – zu meinen Bedingungen. Angst war meine Triebfeder, um den nächsten Schritt bewusst und bestmöglich vorbereitet zu gehen.

Glauben Sie denn, dass es jemals etwas geben wird, das Sie besser können als Boxen? Haben Sie es womöglich schon gefunden? Oder ist das gar nicht so wichtig, wenn man das, was man tut, trotzdem gut macht?

Ich glaube tatsächlich, dass ich im jetzigen Leben agiler bin, als ich es im Boxen war. Als Profiboxer hatte ich einige Limits, die ich nicht überschreiten konnte. Durch meine Agilität kann ich Herausforderungen besser bewältigen, neue Lösungen kreieren, und ich finde mich in der komplexen Welt jenseits des geregelten Leistungssports gut zurecht. Deshalb habe ich das Gefühl, dass ich auf dem richtigen Weg bin und mich immer weiter vorwärts bewege. Ich bleibe nicht stehen, denn wer stehen bleibt, wird ausgeknockt, auch außerhalb des Boxrings.

Haben Sie einen Rat für Sportler, der für den Schritt ins neue Leben unerlässlich ist?

Man muss sich schon während der aktiven Karriere auf diesen Schritt vorbereiten. Das habe ich rechtzeitig getan, das hat mir sehr geholfen. Wenn du nicht weißt, wer du bist, worin deine wirklichen, tiefen Bedürfnisse und Werte liegen und du deshalb dein Ziel nicht genau definieren kannst, wirst du schon beim ersten Schritt scheitern. Also sollte am Anfang jeder Karriere die Frage nach dem ,Wer bin ich wirklich‘ stehen. Dennoch habe auch ich manch eine Herausforderung unterschätzt. Und ich weiß auch, dass ich ohne das richtige Team um mich herum nichts von dem geschafft hätte, was ich erreicht habe. Erfolgreich zu sein geht nur mit den richtigen Weggefährten, mit denen man gemeinsam wachsen kann. Niemand schafft etwas ganz allein. Wer das behauptet, ist ein Scharlatan.

Allein in diesem Jahr sind fünf Profiboxer an Verletzungen gestorben, die sie im Ring erlitten. Fragen Sie sich manchmal, warum Sie sich so viele Jahre einen so lebensgefährlichen Sport angetan haben, obwohl Sie doch einige andere Talente haben?

Gegenfrage: Wie viele Journalisten sterben jedes Jahr bei der Ausübung ihres Berufs? Fragen Sie sich deshalb, warum Sie diesen Beruf so viele Jahre ausüben? Das Leben ist gefährlich, man kann sterben. Es geht darum, Risiken einzuschätzen und zu minimieren. Das habe ich versucht, indem ich mich professionell vorbereitet habe. Was mich am Boxen stört: Es ist eine der fünf beliebtesten Sportarten der Welt, die finanzielle Kraft ist unglaublich hoch. Dennoch ist es eine der unstrukturiertesten, intransparen­testen Sportarten. Viele Boxer haben keine Kranken- oder Lebensversicherung. Wenn ihnen etwas passiert, bleiben sie oder ihre Hinterbliebenen auf hohen Kosten sitzen. Das darf nicht sein. Mein Traum ist, dass der Sport zentralisiert ist, dass Amateure und Profis unter Führung eines gemeinsamen Verbandes in einem System arbeiten, das zwar Unterschiede zulässt, aber eine verlässliche Struktur für alle Sportler bietet. Ich weiß aber auch, dass das Boxen mir eine Bühne geboten hat, auf der ich mich optimal entfalten konnte. Deshalb habe ich nie bereut, diesen Weg gewählt zu haben, auf dessen Erkenntnissen mein heutiges Ziel des Expertisetransfers aufbaut.

In Ihrem letzten Kampf Ende April 2017, den Sie gegen den Briten Anthony Joshua verloren, schauten 90.000 Fans im Wembleystadion zu. Fehlt Ihnen diese Bühne, oder gibt es etwas im neuen Leben, das sie ersetzt?

Im Juni 2009 boxte ich gegen Ruslan Chagaev in Gelsenkirchen vor 61.000 Fans. Es war mein erster Stadionkampf, ein absolutes Wow-Erlebnis. Aber nachdem ich sechs, sieben Stadionkämpfe gemacht hatte, habe ich gespürt, dass ich mich fragte: Was kommt als Nächstes? Boxen war mein Leben, aber ich weiß, dass das Leben mehr ist als Boxen. Wenige Wochen nach dem Joshua-Kampf stand ich in Orlando bei der Sapphire-Konferenz von SAP auf einer Bühne, 18.000 Zuhörer vor mir und eine riesige Leinwand hinter mir, und habe über meine neuen Projekte referiert. Ich war sehr nervös, aber ich hatte den gleichen Adrenalinschub, den ich vom Boxen kannte. Da wusste ich: Das Rampenlicht auf der Boxbühne fehlt mir nicht, weil ich die Anerkennung auf andere Weise bekomme. Dieses Gefühl hat sich seitdem mehrmals wiederholt, und ich empfinde das als spannender als das Boxen. Die Bühne hat sich verändert, es gibt sie aber noch, und heute gebe ich von dort meine Erfahrungen weiter, die ich in diesen intensiven 27 Jahren im Boxbusiness gesammelt habe.

Noch immer gibt es regelmäßig Meldungen, dass Sie zurückkommen könnten. Ist das tatsächlich eine Option?

Es wird kein Comeback geben zurück in das Leben eines Leistungssportlers, mit Trainingslagern und mehreren Kämpfen. Darauf habe ich keine Lust, ich bin vom Leben eines Leistungssportlers mental mittlerweile zu weit entfernt, ich hätte auch die Zeit dafür nicht. Vor allem hat sich mein Fokus verändert. Ich trainiere jeden Tag, mache Sparring, und dann fragen Menschen, ob ich wieder in den Ring zurückkehre. Ich fühle mich zwar so, dass ich es noch in mir hätte. Aber letztlich belüge ich mich jeden Morgen selbst damit, dass ich mir sage, ich könnte es noch einmal schaffen. Das hilft mir, in Form zu bleiben. So führe ich ein gesundes Leben, nehme keine Drogen, ernähre mich bewusst und schlafe nachts, anstatt auf Partys zu gehen.

Wäre ein Comeback nicht auch ein Scheitern? Wenn sogar Sie, der einen Studiengang zum Weg in die nächste Karriere anbietet, rückfällig würden, wer soll dann noch als Vorbild taugen?

Als Scheitern würde ich es nicht bezeichnen. Wenn ich zurückkehren würde, dann nur für etwas ganz Extravagantes. Zum Beispiel, um den Altersrekord von George Foreman zu brechen, der mit 45 ältester Schwergewichtschampion der Geschichte wurde. Das wäre tatsächlich eine Herausforderung, die mich reizen könnte und die sicherlich auch vielen Menschen als Inspiration dienen würde. Scheitern gehört im Übrigen dazu, wenn man Dinge wagt, denn wer gescheitert ist, wird auch gescheiter. Bis ich 45 bin und Foremans Rekord angreifen könnte, sind es noch zwei Jahre hin. Keine Ahnung, was ich dann tue. Aber ein Vorbild oder vielmehr Inspiration für all diejenigen zu sein, die etwas wagen, die Risiken eingehen, sich von Zweiflern oder Rückschritten nicht von ihrem Ziel abbringen lassen, die durchhalten und ihre Willenskraft nutzen: Das wird für mich immer ein wichtiger Antrieb bleiben.