Hamburg. Kinderschutzbund weiht neue Zentrale ein. Im Gespräch mit dem Abendblatt erklärt der Chef, wie er gegen Missstände vorgehen will.
Wenn heute die neue Geschäftsstelle des Hamburger Kinderschutzbundes eröffnet wird, dann geht es um mehr als nur um einen Umzug von Eimsbüttel nach Hamm. Denn vor dem neuen Standort am Sievekingdamm bekommt Hamburg auch einen neuen Platz – und zwar ganz offiziell den „Platz der Kinderrechte“. Laut dem Geschäftsführer des Hamburger Kinderschutzbundes, Ralf Slüter, ein „kräftiger Aufschlag, der lange überfällig war.“ Warum Hamburg mehr Öffentlichkeit für Kinderschutzthemen braucht, erklärt er im Interview.
Hamburger Abendblatt: In Hamburg leben etwa 20 Prozent der Kinder unterhalb der Armutsgrenze. Wie bewerten Sie das?
Ralf Slüter: Ich neige nicht zur Skandalisierung, aber die Zahlen sind tatsächlich dramatisch. Was das im Alltag der Kinder bedeutet, kann man schnell zusammenfassen: Sie leben immer in der schlechtesten Straße, immer in einer zu kleinen Wohnung, und es gibt kaum Möglichkeiten, sich am öffentlichen Leben zu beteiligen. Und leider wissen wir aus der Erfahrung auch, dass die Kinder, die in Armut aufwachsen in der Regel auch arm bleiben.
Die Stadtteile mit besonders niedrigem Durchschnittseinkommen sind bekannt. Wie kann der Kinderschutzbund dort helfen?
Slüter: Wir haben viele kleine Einrichtungen, die mit speziellen Angeboten da sind, wo Armut verstärkt auftritt. Am Einkommen der Eltern können wir natürlich nichts ändern, aber wir können ihnen aufzeigen, wo sie kostenfrei Hilfe bekommen und wo es Angebote zur Teilhabe gibt. Beim Thema Gewalt ist das komplexer, denn Gewalt ist nicht an Orte und Stadtteile gebunden. Die Zahlen sind auch hier erschreckend. Täglich werden in Hamburg im Schnitt drei Kinder von den Behörden aus ihren Familien geholt, weil sie dort nicht mehr sicher sind.
Wieso kommt es so weit, dass sich die Lage in den Familien so zuspitzt, dass es am Ende keine andere Möglichkeit mehr gibt?
Slüter: Gewalt ist etwas sehr Privates. Nicht immer wird es so laut, dass Nachbarn die Polizei rufen. In der Regel finden alle Arten von grenzüberschreitenden Handlungen so statt, dass keiner etwas davon mitbekommt. Dabei ist gerade in solchen Fällen frühe Hilfe wichtig. Der Grund für Fehlverhalten ist ja oft Überforderung. Es ist entscheidend, dass Eltern über unsere Angebote Bescheid wissen und dass ihnen bewusst ist, dass sie ein Recht auf kostenlose Beratung haben. Damit kann man nicht alles verhindern, aber viel.
Es gibt leider viele Beispiele dafür, dass es nicht verhindert werden konnte ...
Slüter: Ja, in den vergangenen Jahren gab es in Hamburger mehrere Kinderschutzkatastrophen, wie etwa die Fälle Lara-Mia, Chantal oder Taylor. Ich bin seit mehr als 20 Jahren beim Kinderschutzbund und weiß, dass es überforderte Eltern und schlecht versorgte Kinder immer gegeben hat. Aber diese Öffentlichkeit ist neu. Und sie hat zur Enquetekommission geführt, die einen umfassenden Empfehlungskatalog für einen besseren Kinderschutz vorgelegt hat.
Wie sieht es mit der Umsetzung aus? Welche Punkte sind für den Kinderschutzbund besonders relevant?
Slüter: Das Wichtigste ist zunächst die Frage der Haltung. Der erste Impuls, auf Eltern sehr wütend zu sein, die ihre Kinder schlagen oder vernachlässigen, ist nachvollziehbar. Aber, und das ist auch ein Ergebnis der Kommission: Wenn wir bedrohlich auf die Eltern wirken und nicht auch die Überforderung nachvollziehen können, verstecken sie sich, und das ist die größte Gefahr. Wir müssen es schaffen, dass Eltern sich trauen, zu uns zu kommen. Und das geht nur ohne Zeigefinger
Wie sieht es mit den anderen Empfehlungen der Kommission aus?
Slüter: Es geht da um eine ganze Reihe von Maßnahmen, etwa Fort- und Weiterbildungen und zahlreiche Maßnahmen, die die innere Organisation der Jugendhilfe betreffen. Viele Umsetzungspunkte wurden bereits von der Behörde erarbeitet. Einer davon ist etwa die Schaffung einer Ombudsstelle, bei der Kinder und Eltern sich ohne bürokratische Hürden über Missstände in Wohngruppen, Heimen oder beim Jugendamt beschweren können.
Bundesratsinitiative für besseren Kinderschutz
Heute eröffnen Sie offiziell den „Platz der Kinderrechte“. Welche Idee steckt dahinter?
Slüter: Das Wichtigste ist, dass wir damit Öffentlichkeit schaffen und dass Menschen auch über den Platz erfahren, was wir machen. Weiter gibt es hier auch ein virtuelles Museum der Kinderrechte direkt auf dem Platz, das per App funktioniert. Der Platz ist auch ein Signal an alle Kinder, das heißt: Für uns gelten nicht nur die Menschenrechte, sondern darüber hinaus auch Kinderrechte. Ich halte das für enorm wichtig, obwohl ich ehrlicherweise früher noch anders darüber gedacht habe ...
Inwiefern?
Slüter: Früher habe ich gedacht, dass die Menschenrechte auch für Kinder gelten und wir keine speziellen Kinderrechte brauchen. Heute bin ich überzeugt: Kinder sind die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft und brauchen einen besonderen Schutz. Wenn Erwachsene oder Behörden überlastet sind, sind Kinder oft die Ersten, die darunter leiden. Deswegen braucht es mehr als eine bloße Aufforderung, sich ordentlich zu verhalten. Kinderrechte müssen im Grundrecht verankert werden, so wie es die Bundesregierung ja auch plant. Das ist ein ganz wichtiger Schritt! Und das ist gut so!