Hamburg. Eltern protestierten damals gegen die Prostitution und ihre Begleitumstände, mit denen die Schüler konfrontiert wurden.
Auf St. Pauli steht ein Schulkind morgens im dritten Stock auf, geht die erste Treppe hinunter und findet auf dem Absatz einen Betrunkenen mit offenem Hosenlatz liegen“, klagt der Hamburger Hotelbesitzer Klaus G. Weden einem Lokalreporter der „Zeit“. „Ein Stockwerk drunter machen zwei gerade eine Nummer, und wenn das Kind auf die Straße tritt, ist alles dreckig, voller Liebesmüll. Kleinkinder blasen Präservative auf. Alle zehn Meter trifft man auf eine Prostituierte …“
Vor 50 Jahren, am 24. September 1969, entladen sich Sorge und Wut vieler Eltern aus dem Rotlichtviertel am Hafen in einer einzigartigen Aktion: Vier Tage lang halten sie fast 1500 Schulkinder von den Unterrichtsgebäuden fern. Sie wollen eine Sperrzeit für den Straßenstrich auf den Schulwegen von 6 bis 21 Uhr durchsetzen. Und sie protestieren gegen die Innenbehörde, die, so die „Zeit“, die Forderung nach einem „moralisch sauberen Schulweg nicht enthusiastisch genug aufgenommen hat“.
Mit dem spöttischen Grundton bezeugt die Wochenzeitung ihre neue linksliberale Ausrichtung: Am Ende der 1960er-Jahre gilt es als progressiv, Sorgen um die sexuelle Entwicklung von Kindern herunterzuspielen und entsprechende Beobachtungen als Schnüffelei selbst ernannter Sittenwächter zu verhöhnen. Die Betroffenen sind allerdings keine typischen „Zeit“-Leser aus dem akademischen Milieu, sondern, wie der „Spiegel“ feststellt, „solide Bürger, die in Handwerksbetrieben oder Lagerhäusern, auf Werften oder Schiffen arbeiten“. Sie wollen sich nicht damit abfinden, dass vor den Spielplätzen „Dirnen patrouillieren“, wie etwa an der Silbersackstraße, oder dass neben Schulen wie der an der Friedrichstraße „Kneipen liegen, in und vor denen Liebesdienerinnen ihre Kontakte knüpfen“.
Überreste der Nacht
„Etwa 2000 Dirnen stehen – schichtweise – in den Straßen zwischen der Reeperbahn und dem St.-Pauli-Fischmarkt“, meldet die Pressestelle des Senats. Anfang 1969 beginnen Eltern, ihren Unmut zu organisieren. Sie treffen sich zu Informationsabenden, schicken Briefe an Senat oder Bürgerschaft und laden die Medien zu einer Pressekonferenz ein. „Die Nutten führen da Reden, dass sogar ein alter Seemann wie ich rot wird“, beschwert sich ein Vater. Ein anderer klagt: „Auf dem Kinderspielplatz am Pepermölenbek liegen die Überreste der Nacht herum, und die Kinder spielen darin!“ Eine Mutter moniert: „Die Kinder spielen bei den Mädels, während die ihre Geschäfte abwickeln!“
„Ich habe zwei Jungens, einen in der ersten, einen in der vierten Klasse“, berichtet eine andere Anwohnerin. „Auf der Straße liegen weggeworfene Kondome. Mein Ältester fragt: Mami, was ist das? Wie soll ich das einem Achtjährigen erklären? Der Junge sieht natürlich, dass die Mädchen in ihren Minis mit Männern sprechen. Warum und weshalb, das haben wir ihm noch nicht gesagt.“ Den Schulstreik erklärte sie ihren Söhnen so: „Wir wollen die Mädchen mit den kurzen Röcken von der Straße haben!“
Erfolg der Elternproteste bleibt mager
Ihre Namen möchten die Eltern nicht in der Zeitung lesen, denn, so sagt Paul-Günther Weden, den sie zu ihrem Sprecher wählten: „Unsere Leute wollen nicht im Hafenkrankenhaus aufwachen.“ Selbsthilfe verbietet sich erst recht, seit sich eine Mutter bei einem Zuhälter beschwerte und prompt Prügel bezog. Der „Spiegel“ zitiert sie im O-Ton von St. Pauli: „Mir hat dieser Kerl was in die Fresse gehauen, dass ich vierzehn Tage nicht arbeiten konnte!“
Der Erfolg der Elternproteste bleibt mager. SPD-Innensenator Heinz Ruhnau reagiert zunächst überhaupt nicht. Erst im Sommer schickt die Polizei eine Zeit lang Doppelstreifen zu den vier Volksschulen des Stadtteils. Doch, so Weden: „Die Polizisten haben sich mit den Prostituierten unterhalten. Bei den Kindern musste der Eindruck entstehen, dass sie gemeinsame Sache machen!“
Erst der bundesweit beachtete Schulstreik setzt das anrüchige Thema auf die politische Agenda. In einer Urabstimmung sind 90 Prozent der Eltern bereit, ihre Kinder vorübergehend nicht in die Schulen gehen zu lassen. Bereits am ersten Tag der Aktion versichert SPD-Bundesjustizminister Horst Ehmke den Betroffenen, sie verträten „ein berechtigtes und schutzwürdiges Interesse“. Das Timing stimmt, vier Tage später ist Bundestagswahl. Hamburgs Landesschulrat Wolfgang Meckel stellt fest: „Die Kinder auf St. Pauli wissen mehr, und sie wissen es früher.“ Schulleiter Hamann von der Friedrichstraße kündigt an: „Wir wollen ab der siebten Klasse mit den Kindern über die Prostitution sprechen, über die Triebhaftigkeit des Menschen.“
Kinder werden manchmal weggescheucht
In der achten Klasse soll dann ein „Sexatlas“ eingeführt werden. „Das Vergnügungswesen liegt in St. Pauli wie ein Film über sehr bürgerlichen Menschen“, sagt der Pädagoge. „Die Eltern von Mädchen sind mehr besorgt als die Eltern von Jungen. Belästigungen von Kindern kommen insofern vor, als manche bei den Verhandlungen zwischen Prostituierten und Freiern zuhören und manchmal weggescheucht werden. Lernstörungen, die aus der Straßenprostitution herrühren, habe ich nicht bemerkt.“
Auch auf der Straße sind die Meinungen über den Schulstreik kritisch. „Die Eltern haben ja einen Knall“, schimpft eine Prostituierte. „Wir tun den Kindern nischt!“ Und ein Obdachloser, in der „Zeit“ umstandslos als „Penner“ bezeichnet, wirft sich milieugerecht in die Brust: „Wenn wir einen Fremden sehen, der Kindern etwas tut, dann braucht die Polizei gar nicht mehr zu kommen, den hängen wir selber auf!“
Kühne Behauptung eines Polizisten
Ein Polizist von der Davidwache behauptet kühn, man könne zwar seit 1965 eine „gleitende Zunahme“ der Straßenprostitution registrieren, aber: „Durch die verstärkten Polizeistreifen hat man dem schamlosen Treiben bereits Einhalt geboten.“ Mehr ist auch nach dem Schulstreik nicht drin, denn die Behörden verweisen schlicht auf ihre Machtlosigkeit: Paragraf 361,6 ermögliche ihnen lediglich, Sperrbezirke einzurichten, in denen Prostitution generell verboten ist.
Davor aber schreckt die Politik zurück: Experten fürchten, das Abdrängen in die Illegalität könnte das Problem eher noch verschärfen. Eine zeitliche Einschränkung aber sei ohne Abschaffung des gesamten Paragrafen nicht möglich, heißt es. Weden schlägt trotzdem wenigstens eine „vorläufige Verfügung“ in diesem Sinne vor, doch der SPD-Staatsrat Jürgen Frenzel von der Justizbehörde will da nicht mitmachen: Das Risiko, dass eine Hure Hamburg verklagt und auch noch gewinnt, ist ihm zu groß. Also leben Eltern weiter mit dem Problem. Vom Bundesjustizminister hören sie nie wieder.