Hamburg. Im Mai 2018 hatte der 49-Jährige die junge Mutter mit seinem Lkw an der Osterstraße erfasst. Er muss auch eine Geldbuße zahlen.

Viele der am Donnerstag ins Amtsgericht geladenen Zeugen erinnern sich noch gut an diesen Schrei. Etwas wie „Halt!“ oder „Stopp“, sie erinnern sich an ein Quietschen oder auch an ein Geräusch, das klang wie das Schaben von Metall über Asphalt.

Einige haben noch den darauffolgenden Knall im Ohr. Ein paar Zeugen sehen am 7. Mai 2018, gegen 8.10 Uhr, sogar bruchstückhaft, was nach dem Aufprall passiert. Wie eine Radfahrerin erst „vier oder fünf Sekunden“ von der Front eines vom Eppendorfer Weg rechts in die Osterstraße abbiegenden Lkw vor sich hergeschoben wird, dann kippt und schließlich unter die Räder des 16-Tonners gerät. Einer Zeugin schießen die Tränen in die Augen, als sie von dieser Szene berichtet.

Unfallopfer Saskia Sch. wollte in zwei Monaten heiraten

Ein Ersthelfer, der Gemüsehändler Musa C., eilt zu der überrollten Frau, die unter dem Laster liegt, kurz vor der Hinterachse, mit multiplen Brüchen im Oberkörper und inneren Blutungen. Sie lebt noch, aber ihre Atmung wird flacher und flacher. Drei Minuten später verliert sie das Bewusstsein, wenig später ist Saskia Sch., Mutter von zwei Kindern (8 und 10), tot. Im Juli 2018 wollte die 33-Jährige ihren Verlobten heiraten und danach den Honeymoon auf Mallorca genießen.

Anderthalb Jahre nach der Tragödie geht es am Donnerstag vor Amtsrichter Johann Krieten um die Frage, ob und wie viel Schuld der Lasterfahrer Jens J. an der Tragödie trägt, die im Mai 2018 erneut die Diskussion über den gesetzlich verpflichtenden Einbau von Abbiege­assistenten in Lkws befeuert hat. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 49-Jährigen vor, den Tod der Frau fahrlässig verschuldet zu haben: Er habe sie „aufgrund von Unachtsamkeit übersehen“, hätte sie aber mit der erforderlichen Sorgfalt „wahrnehmen können und müssen“.

Kinder der Toten schwer traumatisiert

Im Zuschauerraum sitzt Steffi G. (42). Sie war mit Saskia Sch. gut befreundet, ist die Patentante ihrer Kinder. Gemeinsam mit dem leiblichen Vater kümmert sie sich jetzt um die Grundschüler. Beide seien „schwer traumatisiert und todunglücklich“. Der Junge, zehn Jahre alt, leide unter Wutausbrüchen, das Mädchen, acht Jahre, sei in sich gekehrt und über alle Maßen verschlossen. Die Familie, noch immer voller Trauer, habe nicht die Kraft gefunden, den Prozess gegen den Lkw-Fahrer zu besuchen. „Aber ich will ihm in die Augen sehen“, sagt Steffi G. unter Tränen.

Auf der Anklagebank sitzt Jens J., bullig, Haarkranz, rundes, freundliches Gesicht, Hände groß wie Schaufeln. Ein einfacher Arbeiter, seit mehr als 20 Jahren im Brummi hinterm Steuer, geschieden, zwei Kinder, ohne Vorstrafen, frei von Sünden im Verkehrsregister. Er werde, wenn es so komme, auch strafrechtlich die Verantwortung für den Unfall übernehmen, sagt Jens J. Später sagt er, dass ihm alles leidtue. Er habe an jenem Tag zunächst auf dem Eppendorfer Weg vor der roten Ampel gehalten, sei dann „langsam“ nach rechts auf die Osterstraße gefahren, wo er bei Budni abladen wollte.

LKW-Fahrer hat nichts bemerkt

Zur Kontrolle habe er mehrmals in die Spiegel geschaut und für die querenden Fußgänger gestoppt. „Im Rückspiegel sah ich hinter dem Lkw eine Tasche liegen, ich stieg aus und sah die Frau unter dem Lkw“, sagt er. „Ich weiß nicht, wo sie herkam.“ Und er wisse nach wie vor nicht, was er in der Situation anders, was er hätte besser machen können. Sein Verteidiger spricht von einem Augenblicksversagen: Sein Mandant habe ja beim Abbiegen in die Spiegel geguckt – nur nicht in diesem einen Moment, als Saskia Sch. den Lkw passierte.

Um den Fall aufzuklären, hört das Gericht am Dienstag 21 Zeugen, von denen aber niemand die Kollision und deren Entstehung beobachtet hat und deren Aussagen sich teils widersprechen. Eine Zeugin, die es vielleicht gewusst hätte, jene, die „Stopp“ rief, war nach dem Unfall nicht mehr auffindbar. Eine andere Zeugin will neben dem Opfer vor der Kollision gar an einer Ampel auf der entgegengesetzten Straßenseite gewartet haben.

Ein weiterer Zeuge behauptet, dass der Lkw mit der linken Frontseite die Radfahrerin traf, was schon technisch nicht möglich sei, wie der Unfallsachverständige ausführt. Auch die These, Saskia Sch. sei im Eppendorfer Weg links am Lkw vorbeigezogen und dann rechts vor ihm wieder eingeschert, sei haltlos – dagegen spreche die Verformung des Fahrrades. Das Fahrverhalten von Jens J. sei zwar nicht ungewöhnlich gewesen, doch sei er mit 20 km/h im Moment der Kollision schon „sehr zügig“ unterwegs gewesen. „Ich würde mit einem Lkw in der Stadt nicht so schnell fahren“, sagt er.

Unfall war durch Hilfsmittel kaum zu verhindern

„Hätten technische Hilfsmittel den Unfall denn verhindern können?“, will Richter Krieten wissen. Der Experte: „Nur wenn die Radfahrerin direkt neben dem Lkw gestanden hätte.“ Vermutlich sei Saskia Sch., im Glauben der Fahrer sehe sie schon, aber rechts neben den Laster zunächst auf die von der Straße wegführende Radfurt und geradeaus in Richtung Eppendorf gefahren, wo sie an diesem Tag ihren ersten Einsatz als Altenpflegerin hatte.

Das Verfahren eigne sich nicht zum Missbrauch für eine ideologische Debatte, sagt Krieten. Bei dem Fall handele es sich um eine Tragödie, ausgelöst durch einen ebenso tödlichen wie vermeidbaren Fehler. Jens J. hätte die Frau sehen müssen. Gerade am Steuer eines „gefährlichen Gegenstandes“ wie einem Lkw, gerade im dichten Stadtverkehr sei höchste Aufmerksamkeit geboten.

Krieten verurteilt Jens H., wie von der Staatsanwaltschaft beantragt, zu acht Monaten Haft auf Bewährung, außerdem muss er 4800 Euro an eine soziale Einrichtung zahlen. „So etwas wird man nicht mehr los, und so wird es auch Ihnen ergehen“, sagt Krieten zum Angeklagten. Er kenne ähnliche Fälle: andere vermeidbare Tode im Hamburger Straßenverkehr.

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