Hamburg. Mit einer Ausstellung bringt die Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule Kindheit und Schulalltag bis 1942 näher .

18. Februar: Liebes, süßes Fräulein Traumann! Montag waren wir zum Hafen. Da sind wir auf die Wackelbrücke gegangen und haben auch gesehen, wie ein Mann die Möwen gefüttert hat. Wir haben auch große Schiffe, Barkassen, Schlepper und Schuten gesehen. Auf dem Rückweg sind wir zum Bismarckdenkmal geklettert.“

Die 9-jährige Ruth Moses hatte offensichtlich viel Freude an diesem Schulausflug mit ihrer Klasse in den Hamburger Hafen und ein herzliches Verhältnis zu ihrer ehemaligen Lehrerin Lilli Traumann, die ins damalige Palästina ausgewandert war. Als Ruth diese Zeilen 1934 schreibt, ist sie noch unbesorgt. Sie wohnt an der Grindelallee 116 gleich um die Ecke ihrer Schule an der Karolinenstraße, sie hat Freundinnen, freut sich über Schulausflüge und dass sie Möwen füttern kann. Sie ist einfach nur Kind. Und ihre Kindheit, so scheint es in dem Brief, unterscheidet sich gar nicht so sehr von der heutiger Grundschüler.

Doch Ruths Schicksal nimmt unter der Naziherrschaft eine schreckliche Wendung, weil sie Jüdin ist. Unmittelbar nach der Reichspogromnacht am 15. November 1938 durften Menschen, die jüdischen Glaubens waren – ob sie diesen nun praktizierten oder nicht – staatliche Schulen nicht mehr besuchen. So wurde die private Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße zum letzten Ort, an dem jüdisches Leben außerhalb der vier Wände überhaupt stattfinden konnte, wo die Schüler zusammenkommen durften, ein letzter Hort der Geborgenheit. Ab 1942 dann dürfen Mädchen und Jungen jüdischen Glaubens gar keine Schulen mehr besuchen, und sie dürfen auch zu Hause – ob bezahlt oder ehrenamtlich – nicht mehr unterrichtet werden. Das war das Aus für alle jüdischen Schulen im damaligen Deutschen Reich.

Digitale Schau in sechs Kapiteln

Das Aus ihrer Schule erlebt das Mädchen nicht mehr: Ruth Moses wurde 1925 in Altona geboren und am 8. November 1941 nach Minsk deportiert, dort ist sie umgekommen. Das Schicksal von Ruth Moses und ihren Mitschülerinnen und Lehrerinnen ist Teil der digitalen Ausstellung „Kinderwelten. Neue Perspektiven auf die Geschichte des jüdischen Schullebens in Hamburg vom Kaiserreich bis 1942.“ Es ist eine digitale Schau, aufgeteilt in sechs Kapitel, die auch zeigt, dass jüdisches Leben, jüdische Geschichte in Hamburg nicht nur aus Verfolgung bestand. Die Hamburger Volkshochschule feiert mit dieser besonderen Würdigung das 30-jährige Bestehen der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule an der Karolinenstraße.

Blick in einen ehemaligen Klassenraum der Israelitischen Töchterschule Hamburg an der Karolinenstraße.
Blick in einen ehemaligen Klassenraum der Israelitischen Töchterschule Hamburg an der Karolinenstraße. © VHS | Gesche Jäger

Dieses Backsteingebäude gegenüber den Messehallen kennen die meisten Hamburger lediglich vom Vorbeifahren. Was sich aber hinter diesen Mauern abgespielt hat, weiß wohl kaum jemand: Es war die letzte jüdische Schule Hamburgs, in der später dann auch Jungs erlaubt waren. Im Juli 1942 kam es zu den ersten Deportationen. In der Turnhalle, die heute noch existiert und saniert wurde, wurden die Gepäckstücke gesammelt. Im gleichen Jahr wurde die 1884 gegründete Schule geschlossen. Seit 1989 befindet sich in den Räumen die Gedenk- und Bildungsstätte in Trägerschaft der VHS. Auch eine Kita ist im Haus.

Heute wissen wir, was diesen Kindern später noch geschah

Die digitale Ausstellung, die seit gestern online ist, bietet die Gelegenheit, Geschichte und das Schicksal vor allem der Kinder hautnah mitzuerleben. „Wir wollen Erinnern und Gedenken in den Alltag integrieren“, sagt die Historikerin Anna von Villiez, die die Gedenk- und Bildungsstätte der Volkshochschule leitet. Mit der Online-Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden werde ein Publikum außerhalb des wissenschaftlichen Kreises erreicht, und es ist eine Form des Erinnerns, die weltweit und jederzeit abrufbar ist, auch auf Englisch. Das erhoffen sich die Macher der Online-Schau – einer modernen und zeitlosen Form des Erinnerns. Und in Zeiten von antisemitischen Übergriffen wie der Spuckattacke auf Hamburgs Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, dem Anschlag auf die Synagoge in Halle und dem Wiedererstarken von rechtsextremen Kräften wichtiger denn je.

Die digitale Form, das wünschen sich die Ausstellungsmacher, wird auch an Schulen Anklang finden. Denn: Überlebende des Holocaust zu treffen, wird nicht mehr lange möglich sein. „Diejenigen, die sich noch erinnern, werden weniger“, sagt Anna von Villiez. Bald wird es niemanden mehr von ihnen geben. „Es findet ein Generationenwechsel statt. Eine Ära der Überlebenden geht zu Ende. Wir müssen nun den Weg vom Erinnern zum Gedenken schaffen“, so von Villiez. Und das soll mit neuen Formaten, wie digitalen Ausstellungen, gemeistert werden. Sie selbst hat als Expertin mit vielen Überlebenden gesprochen, auch während einer privaten Reise nach New York mit der 96 Jahre alten Erika Estis. Auch sie ging zur Israelitischen Töchterschule. „Sie hatte immer noch ihren Schulranzen und das Federmäppchen“, sagt Anna von Villiez. Sie ist jedes Mal tief beeindruckt von diesen Begegnungen und davon, wie einschneidend die Schulzeit für die Menschen ist.

Wichtiger Bezugspunkt

„Die Ausstellung zeigt, wie wichtig die Schule als Bezugspunkt für die Schüler zur Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung war. Die Fotos, Briefe und Zeichnungen zeigen zum einen die jüdischen Wurzeln der Kinder, zum anderen die Identität als Hamburger Jungs und Deerns, die sie waren“, sagt Anna von Villiez. Und Schule ist ein Ort, der einen besonderen Zugang zu diesem Thema ermöglicht. Denn: Die jüdischen Kinder waren Mädchen und Jungen dieser Stadt, die ihre Heimat genauso erlebt haben wie die Kinder heutzutage. „Schule ist doch immer eine der zentralen Erinnerungen. Hier hat man Freundschaften geschlossen, vielleicht Lehrer gehabt, die einen für das Leben geprägt haben“, so von Villiez. Jeder Lehrer, jede Schulklasse weltweit kann sich in diese Ausstellung klicken.

Briefe, Schulhefte und Zeichnungen von ehemaligen Schülern der Israelitischen Töchterschule sind in der Ausstellung zu sehen.
Briefe, Schulhefte und Zeichnungen von ehemaligen Schülern der Israelitischen Töchterschule sind in der Ausstellung zu sehen. © Roland Magunia

„Liebes Fräulein Traumann! Wir waren Sonntag im Stadtpark, da haben wir Ilse Löwenstein getroffen, und wir haben zusammen gespielt das war fein. Viele Grüße von Edith Tannenbaum“

In den Briefen schreiben die Mädchen von ihren Erlebnissen im Hafen, im Jenisch Park, bei Hagenbeck, oder sie berichten, wie Edith, von Ausflügen in den Stadtpark. Es sind Briefe, Schulaufsätze, Zeichnungen und Poesiealben der Schüler und Fotos aus dem Archiv der Bildungsstätte und des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ), die auch deshalb so berühren und nahegehen, weil der Leser heute weiß, was diesen Kindern noch geschehen wird. Hunderte Dokumente haben Anna von Villiez und Sonja Dickow vom IGdJ für die digitale Präsentation gescannt.

Viele Stücke lagern unentdeckt in Kartons

Viele ähnliche Stücke lagern weitgehend unentdeckt noch immer in zahlreichen Kartons. Es steckt viel Arbeit dahinter, sie zu sichten und zu digitalisieren. Die Online-Ausstellung nimmt die kindliche Per­spektive ein in der Zeit zwischen den Jahren vor 1933 und 1942. „In dieser Fülle, Qualität und dieser Zusammenstellung werden die Schätze erstmalig der Öffentlichkeit gezeigt“, so Anna von Villiez, die von diesen Schriftstücken offensichtlich sehr beeindruckt ist. Sie ist eben eine Historikerin mit ganzer Seele. Vor allem die alten Klassenfotos begeistern sie, das ist der Historikerin mit Schwerpunkt Judentum, Nationalsozialismus und Medizingeschichte anzumerken. Das sei ein besonderes Genre. „Die Jungs tragen teilweise Anzüge, dann die Frisuren der Mädchen. Man kann sich in diesen Fotos verlieren“, sagt sie. Oder die Fotos der Einschulungen, wie die kleinen Mädchen da mit ihren Schultüten stehen. „Schultüten sind eine deutsche Tradition, das gibt es sonst nirgends“, sagt Anna von Villiez.

„Den 27. Januar. Mein Opa hat bei uns gegessen. Da habe ich mich sehr gefreut“,

schreibt Ruth Bartfeld.

„Den 28. Januar. Ich habe gestern mit meiner Puppe gespielt. Die ist so schön. Sie kann sogar schlafen“,

schreibt Hilde Schiff.

Überraschend aus heutiger Sicht ist nicht nur die saubere Handschrift der Grundschüler, sondern auch die fehlerfreie Rechtschreibung. Zu Herzen gehend ist aber vielmehr die Unschuld und Leichtigkeit der Kleinen. Bis 1933 waren es ja auch sorglose Zeiten für die Kinder. Am 23. Juli 1930 schreibt eine Schülerin:

„Sonntag war ich mit meinem Vati in Rissen. Wir sind ¾ Stunde zum Strand gelaufen. Dort habe ich Kakao und Kuchen bekommen.“

Als es jüdischen Kindern verboten wurde, staatliche Schulen zu besuchen, stiegen die Schülerzahlen an den jüdischen Schulen wie der Israelitischen Töchterschule und der Talmud-Tora-Schule, der jüdischen Jungenschule am Grindel, stark an. „Es kamen zunehmend Kinder, die gar nicht jüdisch sozialisiert waren“, sagt Anna von Villiez.

Besuchern steht die Bildungs- und Gedenkstätte offen

Nicht nur die Online-Ausstellung zeigt, wie sich der Schulalltag im Zeichen von Flucht und Vertreibung wandelte – sondern auch die Dauerausstellung. Anna von Villiez hat die Leitung im April 2018 übernommen. „Viele Familien von Überlebenden kommen hierher. Gerade erst hatte ich sechs Geschwister aus Israel zu Gast. Sie wollten mehr über ihre Großmutter erfahren, die sie nie kennengelernt haben.“ Der Naturkunderaum, 1930 neu eingerichtet, ist bis heute erhalten und zu besichtigen genau wie die alte Aula mit der original Bühne.

Dass es diese Gedenk- und Bildungsstätte und die Fotosammlung heute gibt, ist auch ein Verdienst von Ursula Randt, die 1929 in Hamburg geboren wurde und als Sonderschullehrerin für Hör- und Sprachbehinderte an der Sprachheilschule in der Karolinenstraße 35 arbeitete, der ehemaligen Israelitischen Mädchenschule. 30 Jahre lang forschte sie zum Thema jüdisches Schulwesen in Hamburg. Sie hatte auch die Fotos, Briefe und Dokumente der Ausstellung zusammengetragen. Miriam Rürup, Leiterin des IGdJ: „Diese Sammlung ist von unschätzbarem Wert. Die Fotos dokumentieren gerade durch ihren Charakter als private Fotografien auf sehr eindrückliche und berührende Weise das jüdische Schulleben und damit das Alltagsleben von Juden in Hamburg vor der Shoah.“ Die Online-Ausstellung läuft auf www.vhs-hamburg.de und www.juedische-geschichte-online.net/ausstellung/kinderwelten.

Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule, Karolinenstraße 35. Öffnungszeiten der Ausstellung dienstags 10 bis 14 Uhr und nach Vereinbarung. Unter www.vhs-hamburg.de gibt es ein ausführliches Programm zum Thema Juden in Hamburg.