Hamburg. Shlomo Bistritzky, Landesrabbiner der jüdischen Gemeinde, sagt, was die Hamburger gegen Antisemitismus tun können.

Nach dem Terroranschlag von Halle wird es in Hamburg einen Antisemitismus-Beauftragten geben, dies fordern SPD und Grüne in einem Antrag für die Bürgerschaft (Abendblatt berichtete). Eine gute Nachricht für Shlomo Bistritzky, Landesrabbiner der jüdischen Gemeinde (3500 Mitglieder) in schwierigen Zeiten. Im Abendblatt spricht er über religiöses Leben unter Polizeischutz, Antisemitismus und macht den Vorschlag, dass die von den Nazis am Bornplatz zerstörte Synagoge wiederaufgebaut wird.

Herr Landesrabbiner, gab es in Ihrem Leben eine Zeit ohne Sicherheitsleute, Polizisten und – wie in Israel – Soldaten?

Shlomo Bistritzky Der Besuch von Synagogen ist in Israel frei zugänglich, während die Klagemauer, Parkhäuser und Einkaufszentren Sicherheitsmaßnahmen haben. Als ich vor 16 Jahren von Jerusalem nach Hamburg kam, haben meine Frau und ich uns gewundert, dass es keine Sicherheitskontrollen an Einkaufszentren gab, wie wir es bisher aus Israel kannten. Aber seit den 1990er-Jahren gibt es verstärkte Sicherheitsmaßnahmen für jüdische Einrichtungen in Deutschland.

Das ist für Sie zum Alltag geworden?

Ja, leider. 24 Stunden, jeden Tag. Jeder weiß, nach dem Anschlag an Jom Kippur in Halle, wie wichtig dieser Schutz ist. Es ist ein Wunder, dass es nicht mehr Tote gab. Ich selbst war vor 20 Jahren in dieser Synagoge tätig, als ich damals in Berlin studierte.

Wie haben Sie von dem Anschlag erfahren?

Zu Jom Kippur telefonieren wir nicht. Ich habe es deshalb von den Sicherheitsleuten und Polizisten in unserer Hamburger Synagoge erfahren. Wir waren an diesem Tag zusammen, um für Versöhnung zu beten. Ich habe immer wieder gesagt: Es ist ein Wunder.

Welche Folgen hat der Anschlag für die Sicherheit Ihrer Gemeinde?

Wir hatten noch am Abend Besuch vom Ersten Bürgermeister und am Tag danach von der Zweiten Bürgermeisterin erhalten. Wir haben sehr viel Solidarität erfahren in Briefen und Mails. Es wird für uns weitere, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen geben. Es ist aber klar, dass unsere Gemeinde in Hamburg besser geschützt ist, als es die in Halle zuvor war.

Was sind eigentlich die Ursachen für diesen Hass auf das jüdische Volk?

In der Geschichte unseres Volkes waren die Gründe dafür immer unterschiedlich. Antisemitismus gab es immer, es wird ihn immer geben. Die Frage ist: Wer ist stärker: das Gute oder das Böse? In der NS-Zeit konnte das Böse so mächtig werden, weil die Mehrheit der Menschen geschwiegen hat.

Sie haben in Hamburg nach dem Anschlag an einer Solidaritätsveranstaltung für die Juden teilgenommen.

Ich hätte mir gewünscht, dass wir zu solchen Solidaritätsveranstaltungen gar nicht kommen müssen. Bei positiven Anlässen wäre es mir lieber gewesen – aber nicht immer in der Opferrolle. Positiv ist zum Beispiel, dass wir in unserer jüdischen Schule erstmals wieder Abiturienten haben. Dabei starten wir zeitgleich ein Fundraising-Projekt. Da wäre es gut, wenn wir von vielen Seiten Solidarität erfahren würden.

Haben jüdische Gemeinden in Deutschland Kontakt zu den Familien der beiden Opfer in Halle aufgenommen?

Wer waren Jana L. und Kevin S.? Solange diese Menschen anonym bleiben, sind sie für die Menschen immer etwas Fremdes. In Israel ist das anders. Die Namen und ihre Geschichte sind bekannt, sodass die Menschen viel mehr betroffen sein und Anteil nehmen können. Diese Betroffenheit ist wichtig, ich hätte zum Beispiel der Familie gern einen Brief schreiben und mein Beileid aussprechen können.

Was kann der Einzelne gegen Antisemitismus tun?

Ich habe gelesen, ich glaube, es war im Abendblatt, dass es 2018 insgesamt 27.000 Tickets für Falschparker in Hamburg gab. Diese wurden von Menschen angezeigt, weil es sie offensichtlich gestört hat. Ich wünsche mir so etwas im Fall von Antisemitismus. Jede Kleinigkeit sollte angezeigt werden!

Hat die Zuwanderung den Antisemitismus in Deutschland verstärkt?

Ich sehe die Statistiken und die eigenen Erfahrungen: Von Kollegen aus ganz Deutschland höre ich, dass es viel mehr Antisemitismus mit muslimischem als mit rechtem Hintergrund gibt. Das heißt nicht, dass wir generell ein Problem mit Muslimen haben. Aber viele muslimische Flüchtlinge kommen aus Ländern, in denen Hass gegen Juden Alltag ist. Sie können das in Deutschland nicht differenzieren.

Sie und ein Vorstandsmitglied Ihrer Gemeinde sind selbst einmal in der Öffentlichkeit bespuckt worden. Wie haben Sie diesen Vorfall in Hamburg verarbeitet?

Ich persönlich wollte darüber kein großes Aufsehen machen, es ist dann doch durch die Medien geschehen. Diese Berichte verstärken doch nur die Angst bei Juden, dass sie sagen: Es ist Zeit, Deutschland zu verlassen.

Die Medien haben aber doch nur die schlechte Nachricht vermittelt. Ist der Täter zur Verantwortung gezogen worden?

Ich habe davon nichts weiter gehört. Ich habe allerdings auf Anraten der Polizei eine Anzeige erstattet. Was mir immer wieder auffällt: Die mutmaßlichen Täter werden alle sehr schnell wieder aus der U-Haft entlassen. Es gibt von unten viele Initiativen gegen Antisemitismus. Und von oben gibt es staatliche Beauftragte für Antisemitismus. Ich finde, wir brauchen sie nicht. Wenn die Politik wirklich etwas machen will, soll sie dafür sorgen, dass die Strafen bei Antisemitismus schneller auf die Taten folgen.

Sollen bestehende Gesetze besser angewandt werden?

Bislang ist es so: Wenn es eine Attacke mit einem Messer gab, wird der mutmaßliche Täter wieder aus der U-Haft entlassen, wenn die Daten und Adressen erfasst sind. Das muss aber nicht sein. Ich meine: Wenn es ein antisemitisches Motiv gibt, sollte der mutmaßliche Täter länger in U-Haft bleiben.

Ist das Klima in Deutschland gegenüber Juden generell schlechter geworden?

Ich denke nein. Was ich allerdings beobachte, ist ein großes Unwissen gegenüber Judentum und jüdischem Leben. Auch von gebildeten Leuten und in der Politik gibt es sehr viel Unwissenheit. Politiker waren zum Beispiel überrascht zu erfahren, dass ein Landesrabbiner nicht von oben, sondern von einem demokratisch gewählten Gemeindevorstand eingesetzt wird. Mein Vorschlag: Es sollte jedes Hamburger Kind aus einer weiterführenden Schule einmal eine Synagoge besuchen, und zwar unabhängig vom Religionsunterricht.

Sie selbst haben neun Kinder. Kennen die größeren die eigene Familiengeschichte?

Wir schweigen nicht über den Holocaust, sondern reden darüber. Meine Kinder wissen alle Bescheid darüber, auch wenn das Interesse unterschiedlich stark ist. An meinen Urgroßvater erinnert in Hamburg ein Stolperstein.

Wie wird jüdisches Leben in zehn Jahren in Hamburg aussehen, was ist Ihre Vision?

Ich habe keine Vision, sondern konkrete Pläne. Ein interessantes Projekt wäre es, die zerstörte Synagoge am Bornplatz wiederaufzubauen. Auch aus touristischen Motiven könnte das für Hamburg interessant sein.

Können Sie Juden verstehen, die Deutschland verlassen, weil sie sich in Israel besser aufgehoben fühlen?

Ich kenne niemanden, der nach dem Anschlag von Halle Deutschland verlassen will. Aber es gibt Menschen, die sagen: Wenn alles noch schlimmer und noch schlimmer wird, dann werden wir uns Gedanken machen, wohin mir mit unseren Kindern gehen müssen.

Würden Sie gern wieder in Israel leben?

Hamburg ist eine große, gute Stadt mit interessanten Menschen. Das jüdische Leben in Hamburg entwickelt sich positiv, und ich sehe hier für jüdisches Leben eine große Zukunft. Ich habe Lust, noch weiterzumachen.