Hamburg/Frankfurt/Main. Er kam als 14-Jähriger nach Deutschland, ohne Deutsch zu sprechen. Was der Buchpreis für Saša Stanišić bedeutet.

Er war der große Favorit, und nun hat er auch gewonnen: Saša Stanišić erhielt am Montagabend im Frankfurter Römer den Deutschen Buchpreis des Jahres 2019. Der Hamburger Schriftsteller wurde für sein Buch „Herkunft“ ausgezeichnet. In diesem erzählt der 41-Jährige sein Leben. Es ist exemplarisch für unsere Gegenwart: Stanišić lebt in einem Land, in dem er nicht geboren wurde. Mit dieser Tatsache sind Verlusterfahrungen und Gewinnrechnungen verbunden.

Und so wird aus „Herkunft“, jenem glänzenden Memoire, ein Beitrag zur großen Heimat-Debatte, die in Deutschland seit einiger Zeit unter zuweilen unguten Vorzeichen geführt wird, bei dem Schriftsteller aber zu einem authentischen Zeugnis der Identitätssuche wird.

25.000 Euro Preisgeld für den ersten Platz

Im Finale setzte sich Stanišić gegen fünf weitere Titel durch, die die siebenköpfige Jury auf die Shortlist gesetzt hatte: gegen Raphaela Edelbauers „Das flüssige Land“, Miku Sophie Kühmels „Kintsugi“, Tonio Schachingers „Nicht wie ihr“, Norbert Scheuers „Winterbienen“ und Jackie Thomaes „Brüder“. Stanišić erhält als Sieger 25.000 Euro Preisgeld, die fünf übrigen Finalisten bekommen jeweils 2.500 Euro.

Stanišić, das erklärte „Kind des Vielvölkerstaats“, verschlug es während der Jugoslawienkriege nach Deutschland. Hier kam er 1992 als 14-Jähriger an, ohne Deutsch zu sprechen. Heute ist er in dieser Sprache längst zu Hause. Mehr als das, sie ist zum Werkzeug einer beeindruckenden Autorenkarriere geworden, die nun durch den Buchpreis gekrönt wird. Sein literarisches Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006) wurde gleich ein Hit, 2014 gewann er dann mit dem Roman „Vor dem Fest“ den Preis der Leipziger Buchmesse. Er ist ein Kritikerliebling, hat aber auch die Gunst des Publikums: Das jetzt gekürte Siegerbuch steht bereits seit einem halben Jahr fast ununterbrochen auf der „Spiegel“-Bestsellerliste.

Jury kürt "Roman des Jahres"

Saša Stanišić sei, heißt es in der Begründung der Jury, „ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut“. Unter jedem Satz des Romans warte „die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens“ sei. Interessant sind auch andere Sätze aus der Begründung, in denen zum Beispiel von einer „Ich-Figur“ die Rede ist, als wäre es nicht der Autor Stanišić selbst, der dort spreche, sondern allein eine literarische Person.

Stanišićs Buch "Herkunft" im Literatur-Podcast

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Zu Recht also hat die Jury, die ja den „Roman des Jahres“ küren soll, auf das Romanhafte von Stanišićs autobiografischem Text verwiesen. Ist die Erzählung des eigenen Lebens nicht immer auch eine Erfindung?

Stanišić äußerte sich kritisch über Peter Handke

„Mit viel Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer seine eigenen Geschichten entgegen“, heißt es außerdem; ein Urteil, das im Lichte des unlängst an Peter Handke vergebenen Literaturnobelpreises eine spezielle Bedeutung haben könnte. Seit der Bekanntgabe in der vergangenen Woche hatte Stanišić sich wiederholt auf Twitter kritisch über Peter Handke und die Stockholmer Entscheidung geäußert. Der aus Bosnien stammende Autor erneuerte in seiner Dankesrede nun seine Kritik an der Preisvergabe an den seit Mitte der 1990er-Jahre als Serbien-Sympathisant in Erscheinung tretenden Handke.

Die Freude über den Deutschen Buchpreis sei ihm „vermiest“, sagte der 41-Jährige. Er habe das Glück gehabt, „dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt“, sagte Stanišić weiter, „dass ich hier heute vor Ihnen stehen darf, habe ich einer Wirklichkeit zu verdanken, die sich dieser Mensch nicht angeeignet hat“. Er könne nicht nachvollziehen, „dass man sich die Wirklichkeit, mit der man behauptet, Gerechtigkeit für jemanden zu suchen, so zurechtlegt, dass dort nur Lüge besteht“.

Er schrieb inkognito beim Hamburger Abi mit

Wie sollte man da nicht wieder an Herkunft denken, an Saša Stanišićs Thema also, an die Prägung durch Erfahrungen, die die meisten von uns nie machen mussten? Vom Krieg und wie es war, davonzukommen, davon erzählt Saša Stanišić in seinem gleichwohl meist undramatischen, weltläufigen Buch. Es scheut den Kitsch, kennt aber den bittersüßen Geschmack der Zugehörigkeit, und sei es, dass diese die Aral-Tankstelle in Heidelberg-Emmertsgrund betrifft, wo sich die Jugend trifft und unter ihr viele mit Migrationshintergrund wie Stanišić selbst auch.

Herkunft ist Zufall; sie ist vielleicht, wenn es nicht gerade um Kriege und falsche Deutungen geht, gar nicht so wichtig, wie sie immer gemacht wird – das ist die Essenz dieses schönen und klugen Buchs, in dem der Schriftsteller seine Geschichte und die seiner Familie erzählt, in einem Bogen, der von Visegrad bis nach Hamburg reicht.

In Hamburg, wo er seit einigen Jahren mit seiner Familie lebt, sorgte Stanišić unlängst für Aufsehen, als er sich inkognito bei den Deutsch-Abiprüfungen einschleuste – und über seinen eigenen Roman „Vor dem Fest“ schrieb, der im vergangenen Schuljahr Prüfungsthema in Hamburg war.

Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 vergeben. Er gilt als eine der wichtigsten deutschsprachigen Literaturauszeichnungen. Im vergangenen Jahr wurde er an Inger-Maria Mahlke („Archipel“) verliehen.