Hamburg. Experten-Gespräch mit Hamburger Professoren. Warum Erziehung so wichtig ist und wie wir mit Populisten umgehen sollen.
In den USA twittert Präsident Donald Trump jeden nieder, der sich ihm in den Weg stellt. In Brasilien regiert mit Jair Bolsonaro ein Präsident, der die Zeit der Militärjunta verklärt. In England bootet Premier Boris Johnson das Parlament aus, um den Brexit zu erreichen. Und in Thüringen könnte AfD-Rechtsaußen Björn Höcke am 27. Oktober laut Umfragen 25 Prozent erreichen. Zeit für ein Experten-Gespräch über die Demokratie mit den Professoren Kai-Uwe Schnapp und Tilman Grammes von der Universität Hamburg.
Laut einer Umfrage des Forschungsinstituts YouGov sehen 53 Prozent der Bundesbürger die Demokratie in Gefahr. Wie groß ist Ihre Sorge?
Prof. Kai-Uwe Schnapp Die Demokratie ist herausgefordert, aber nicht in Gefahr. Wir sind von den Institutionen her sehr gut aufgestellt. Wir haben noch immer relativ starke, große Parteien. Natürlich gibt es die Herausforderung durch eine Partei wie die AfD und durch den Populismus. Aber die Unterstützung für die Demokratie ist extrem groß, je nach Umfrage zwischen 85 bis 95 Prozent. Die Zufriedenheit mit der Demokratie, wie sie im Moment im Lande praktiziert wird, geht allerdings ein Stück weit zurück. Da kennt die Politikwissenschaft den Begriff des unzufriedenen Demokraten. Das sind Leute mit demokratischen Grundhaltungen, die aber sagen, so wie es im Moment läuft, gefällt es mir nicht. Darunter sind viele Wähler der AfD, dennoch bekennen sich auch von ihnen viele zur Demokratie.
Prof. Tilman Grammes Als Bürger schätze ich das ganz ähnlich ein. Als Erziehungswissenschaftler und Didaktiker ergibt sich jedoch eine andere Perspektive auf einen solchen demoskopischen Befund. Aus Sicht der Didaktik ist Demokratie immer in Gefahr. Sie ist nicht in der DNA unserer Babys angelegt. Kinder werden nicht als Demokraten geboren. Die Schule muss daran arbeiten, demokratische Kompetenzen zu vermitteln. Dabei geht es keineswegs nur um den Politik- oder Geschichtsunterricht. Auch in Fächern wie Deutsch, wie Geografie, wie Ethik oder Religion muss Demokratie Teil der Bildung sein.
Schnapp: Und es geht auch darum, wie Schüler die Schule erleben. Wird in den Schulen diskutiert? Werden Dinge gemeinsam erarbeitet? Ich würde zwar nicht von einer unmittelbaren Gefahr für die Demokratie sprechen. Aber sie ist nicht selbstverständlich, sie muss immer wieder neu erstritten werden, um sie von Generation zu Generation weiterzugeben. Übrigens zeigt eine Studie aus Leipzig, dass die Erziehung eine wichtige Rolle spielt. Strafarmut und emotionale
Nähe in der Erziehung tragen dazu bei, dass sich demokratische Haltungen entwickeln. Kinder, die in einem autoritären Elternhaus aufwachsen, wo Vater und Mutter alles bestimmen, entwickeln oft auch selbst autoritäre Haltungen.
Sollten Schulen für Demokratie begeistern?
Grammes Begeistern ist ein schönes und richtiges Wort an dieser Stelle. Ja, Schule muss auf möglichst attraktive Weise zeigen, dass unsere Verfassung gut ist und zur engagierten Teilhabe einlädt. Mit spannenden Projekten wie der Juniorwahl. Hier haben Schüler die Möglichkeit, unmittelbar vor der regulären Wahl realitätsnahe Stimmzettel auszufüllen. Bei der Europawahl 2019 haben etwa 2760 Schulen in Deutschland mitgemacht. Dazu gehört an vielen Schulen auch, dass Politiker eingeladen werden.
Viele Hamburger Schüler dürfen ja inzwischen auch regulär wählen. 2013 wurde das Wahlalter für Bezirks- und Bürgerschaftswahlen auf 16 abgesenkt.
Schnapp Eine gute Entscheidung. Wir wissen aus Studien, dass die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre dazu beiträgt, dass die Wahlbeteiligung steigt. Fast alle 16-Jährigen sind über Schulen noch erreichbar für die politische Bildung, und können so auch für die Wahl begeistert werden. Und die meisten Jugendlichen gehen sehr verantwortungsvoll mit ihrem Wahlrecht um, schätzen ihre eigenen politischen Fähigkeiten sehr kritisch ein. Zudem gilt: Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der schon einmal gewählt hat, wieder zur Wahl geht, ist sehr hoch. Früh fürs Wählen begeistert zu werden, fördert dauerhaft die Wahlbeteiligung.
Sollte der Unterricht auch vor Ort in Bezirksversammlungen oder in der Bürgerschaft stattfinden?
Schnapp: Unbedingt, es ist wichtig, dass Schüler begreifen, wie hart in der Politik um Positionen gerungen wird, wie kleinteilig diese Arbeit ist. Die Schüler lernen dann eher, dass man in einer Demokratie mit 80 Millionen Menschen, die alle unterschiedliche Interessen haben, Kompromisse finden muss. Demokratie heißt eben nicht, ich kriege was ich will. Demokratie heißt, ich werde gefragt, und dann gibt’s eine Lösung, die möglichst viele Positionen berücksichtigt.
Muss die Demokratie es auch aushalten, wenn Lehrer, die sich klar zur AfD bekennen, Politik oder Geschichte unterrichten?
Grammes: Ich wünsche es mir nicht. Aber die AfD ist eine zugelassene Partei, daher wird man dort juristisch wenig ausrichten können. Aber die Grenze ist dort gesetzt, wo sich Lehrer zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bekennen, ob in der Programmatik oder in der Darstellung einer Partei. Da muss der Dienstherr sofort einschreiten.
Schnapp Ich bin immer ein Gegner von Berufsverboten gewesen. Auch DKP-Mitglieder nicht unterrichten zu lassen, fand ich schwierig. Es entspricht zwar nicht meinem Idealbild, wenn ein AfD-Mitglied ein Fach wie Politik unterrichtet. Aber wenn Verfassungsparagrafen im Unterricht nicht angegriffen werden, dann wird man das in einer Demokratie ertragen müssen. Genau wie wir es ertragen müssen, dass AfD-Politiker wichtige Ämter in Parlamenten wahrnehmen.
Viele Bundestagsmitglieder sehen das anders. Die AfD scheitert bei den Wahlen immer wieder mit Kandidaten für das Amt des Bundestagsvizepräsidenten.
Schnapp Ich halte das für einen Fehler. Die AfD ist von einem großen Teil der Bevölkerung gewählt worden, sie muss diesen Sitz kriegen, das muss eine Demokratie gebacken kriegen.
Viele Abgeordnete halten dagegen, sie möchten sich nicht bei einer Rede im Bundestag von einem AfD-Politiker zur Ordnung rufen lassen.
Schnapp Ich kann das als Einzelmeinung respektieren, aber nicht für die Gesamtheit des Bundestages. Man kann die Wähler der AfD nicht die ganze Zeit vor den Kopf stoßen und hoffen, dass sie auf diese Weise wieder in die politische Mitte zurückkehren.
Nicht nur in Hamburg gibt es große Diskussionen um das von der AfD eingerichtete Portal, in dem Eltern oder Schüler Lehrer melden können, falls sie im Unterricht gegen das Neutralitätsgebot verstoßen sollten.
Grammes Der Bildungsauftrag im Hamburger Schulgesetz ist nicht neutral, sondern fordert aktiv an der Gestaltung einer der Humanität verpflichteten demokratischen Gesellschaft mitzuwirken. Die Zeiten des Mittelalters, wo jemand an den Pranger gestellt wurde, sollten doch vorbei sein. Es kann nicht sein, dass jemand anonym beschuldigt wird, ohne sich dazu äußern zu können.
Andererseits gilt das Neutralitätsgebot an der Schule.
Grammes Dienstrechtlich meint Neutralität etwas anderes. Um strittige Fälle zu klären, gibt es die vorgeschriebenen Wege durch schulische Gremien und im Verwaltungsrecht. Und eben nicht einen Pranger. In Mecklenburg-Vorpommern hat der Datenschutzbeauftragte nun gehandelt. Dort muss die AfD dieses Portal von ihrer Homepage entfernen. Es ist gut, dass unser Schulsenator Ties Rabe den Hamburger Datenschutzbeauftragten Johannes Caspar gebeten hat, auch diesen Schritt zu vollziehen.
Schnapp In einem Rechtsstaat kann diese Form der Verdachtskultur nicht hingenommen werden.
Grammes Unabhängig von der AfD heizen wir eine solche Entwicklung aber auch an. In der Schule liegt die Rückmeldekultur im Trend. Ich sehe keine Unterrichtsstunde mehr, wo nicht am Ende Schüler die Stunde beurteilen. Dieses Liken oder Disliken, dieses Daumen runter oder Daumen hoch, mag vielleicht dem Zeitgeist der sozialen Medien entsprechen. Aber wenn ich einen Tag Schulsenator wäre, wäre die erste Regel, die ich einführen würde: Es muss mindestens einen Tag Pause sein, damit ein Nachdenken überhaupt erst möglich wird.
Schnapp Wir sollten uns alle vornehmen zu lernen, wie wir uns besser mit Leuten auseinandersetzen, deren Argumente uns nicht gefallen. Da geht es nicht nur um die Auseinandersetzung der demokratischen Mitte mit den demokratischen Rändern. Diese Entwicklung ist etwa auch bei der Diskussion um die SUVs im Straßenverkehr zu beobachten. Wir gehen mit gesenkten Hörnern aufeinander los, und dann lassen wir es krachen, anstatt zu versuchen auch zu verstehen, warum der andere diese Position hat.
Gefährdet auch dies die Demokratie?
Schnapp Absolut. Wenn wir über Gefahren für die Demokratie reden, dann am ehesten dort, wo man die Keule schwingt und sagt: Ich weiß, wie es richtig geht. In einer Demokratie muss man aber zusehen, innerhalb des Rahmens, den die Verfassung setzt, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen.
Grammes Mit sozialen Medien ist auch der Aufmerksamkeitsdruck gestiegen. Wer sich besonders scharf positioniert, hat die größte Chance, dass er gehört wird. Damit steigt wie bei der SUV-Debatte die Gefahr, dass moralisiert wird.
Was kann Bildung dagegen tun?
Grammes Wir müssen lehren, dass wir möglichst keine simplen Pro- und Kontra-Debatten führen. Wir müssen das Schwarz-Weiß-Denken aufbrechen. Es gibt zu jeder Frage mindestens drei, besser fünf Positionen. Wie den Kompromiss, wie den Dritten Weg, bis hin zu der Position, dass die Frage überhaupt falsch gestellt ist.
Warum ist eine Partei wie die AfD in den neuen Bundesländern so stark?
Schnapp Da gibt es viele Aspekte. Selbst unter den Menschen, die das Regime der DDR abgelehnt haben, gibt es zum Beispiel viele, die denken, dass es zu DDR-Zeiten nicht so viel Kriminalität gab, weil Leute, die sich nicht an die Regeln gehalten haben, schneller bestraft worden sind. Dies spielt einer Partei, die sich für autoritäre Härte gegen Kriminelle ausspricht, in die Karten. Die Grundakzeptanz für autoritäres staatliches Handeln ist „aus Gewohnheit“ höher. Zum anderen haben viele Menschen im Osten das Gefühl, dass ihre persönliche Lebensleistung aus „dem Westen“ nicht anerkannt wird. Da geht es um Zurücksetzungsgefühle, die sich leider auch auf die nächste Generation übertragen.
Sie kommen aus dem Osten, haben 1985 in Greifswald Abitur gemacht, dann zunächst an der Berliner Hochschule für Ökonomie studiert.
Schnapp Ja, und ich glaube ganz gut zu verstehen, warum der Osten noch größere Probleme mit der Globalisierung hat als der Westen. Zum zweiten Mal binnen einer Generation haben die Leute Angst, vieles zu verlieren. Ihren Job, ihre soziale Stellung in der Gesellschaft. Das führt leider dazu, dass eine Partei wie die AfD, die verspricht, „wir stoppen das alles, ihr könnt an dem festhalten, was ihr habt“, großen Zulauf erfährt. Dabei hat sie in Wahrheit ja keine Lösung.
Das erklärt aber nicht die grassierende Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern, obwohl dort der Ausländeranteil viel niedriger ist.
Grammes Die Forschung zeigt, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sinkt, je mehr interkulturelle Kontakte vorhanden sind. Im Westen gab es durch die Gastarbeiter schon vor 50 Jahren türkische Gemüsehändler oder griechische Restaurants. In der DDR lebten Bürger aus Angola, aus Vietnam oder Mosambik weitgehend abgeschottet.
Schnapp Und dann entstehen in den Köpfen regelrechte Monster aus Angst vor Fremden.
Was kann Schule gegen diese Fremdenfeindlichkeit tun?
Grammes Am besten wären Schulen mit Kindern aus vielen ethnischen Gruppen, Schule ist ein kostbarer Erfahrungsraum. Aber das kann man ja nicht erzwingen, wir können ja nicht Kinder aus Köln oder Hamburg mit Bussen in den Osten fahren. Daher wird das ein langer Prozess. Aber auch im Westen sollten wir uns fragen, wie viel DDR-Gedankengut in uns steckt.
Wie meinen Sie das?
Grammes Die Gefahr besteht in jeder Gruppe, dass sie sich gegenüber einer fremden Gruppe abschottet. Deshalb sollten wir uns auch im Unterricht viel stärker mit der DDR auseinandersetzen. Und zwar nicht mit der Wertungskeule, in dem wir uns allein mit der Diktatur in der DDR beschäftigen. Da lebten ja nicht Verrückte, sondern es ging zunächst auch um eine große Hoffnung. Etwa um eine Planbarkeit der Wirtschaft, was man ja nicht per se als negativ empfinden muss. Im Unterricht sollte man sich mit diesen Utopien beschäftigen, um dann zu erarbeiten, warum sie nicht funktioniert haben und in eine Diktatur mündeten. Demokratie braucht ein Gegenbild, um zu verstehen, warum sie bei allen Mängeln die beste aller Staatsformen ist. Diese Kontrastfolie haben wir nach der Wiedervereinigung real nicht mehr. Also brauchen wir im Bildungsplan diese Zeitreise in die DDR.
Erwarten Sie, dass die AfD immer stärker wird, am Ende auch in den neuen Bundesländern den Ministerpräsidenten stellt?
Schnapp Das hängt davon ab, wie wir mit dieser Entwicklung umgehen. Wenn wir es schaffen, die AfD-Wähler nicht auszugrenzen, sondern mit ihnen in der Diskussion zu bleiben, dann kann der Anteil der AfD-Wähler auch wieder zurückgehen.
Grammes Allerdings müssen wir zugleich auch klare Kante gegenüber denen zeigen, die den Boden des Grundgesetzes verlassen.
Schnapp Absolut. Dennoch mache ich mir viel mehr Sorgen um die Demokratie in Ländern wie den USA oder Brasilien. Da regieren Staatschefs ohne Rücksicht auf Institutionen und die Verfassung.