Hamburg. Farid Müller kandidiert als Chef, Grüne wollen Abgeordnete ausschließen, die eigene Fraktion gegründet haben. Droßmanns Job sicher?

Man kann den Grünen insgesamt nicht vorwerfen, dass sie angesichts ihrer Riesenerfolge bei den Bezirks- und Europawahlen sowie des Dauerumfragehochs die Bodenhaftung verloren hätten. Sie treten selbstbewusst auf, aber dem Koalitionspartner SPD im Rathaus nicht gegen das Schienbein, oder jedenfalls nicht allzu heftig.

Der vom Wähler gewünschten größeren Bedeutung folgend werden die Eimsbütteler Grünen an diesem Wochenende das erste grün-schwarze Bündnis auf Bezirksebene abschließen – mit der Folge, dass die frühere Grünen-Bürgerschaftsabgeordnete Katja Husen zur neuen Bezirksamtsleiterin gewählt wird. Auch in den Bezirksversammlungen Altona und Hamburg-Nord, wo die Grünen ebenfalls stärkste Kraft geworden sind, zeichnen sich Lösungen ab. Mal geht es stärker zulasten der SPD, mal weniger. Das Bemerkenswerte ist, dass diese flexible Strategie der Grünen gegenüber dem geschwächten Koalitionspartner im Rathaus ohne sichtbare interne Auseinandersetzungen über den Kurs abläuft.

In Mitte ist die grüne Politik aus dem Ruder gelaufen

Während die Grünen früher eine zwar sehr lebendige, aber sich auch gelegentlich zerfleischende und in Flügelkämpfen aufreibende Partei waren, herrscht seit einigen Jahren gerade auch unter den Parteispitzen eine früher unbekannte Harmonie und Solidarität – offensichtlich ein Schlüssel für den Erfolg auch in Hamburg. Das Quintett aus den Senatoren Katharina Fegebank (Wissenschaft, Spitzenkandidatin für die Bürgerschaftswahl), Jens Kerstan (Umwelt), Till Steffen (Justiz), Bürgerschaftsfraktionschef Anjes Tjarks und Parteichefin Anna Gallina hält trotz unterschiedlicher Politikansätze zusammen.

Nur in Hamburg-Mitte ist die grüne Politik völlig aus dem Ruder gelaufen – und das geht auch auf das Konto der Parteispitzen, die sich lange vornehm zurückgehalten haben. Auch in Mitte lag die Ökopartei mit 29,3 Prozent, wenn auch knapp, vor der SPD, die in ihrer einstigen Hochburg nur noch auf 27 Prozent kam. Doch schon zwei Wochen nach der Wahl der große Knall: Sechs der 16 gerade gewählten Grünen-Abgeordneten gründeten eine eigene Fraktion mit dem sinnigen Namen „Grüne 2“.

Riss im grünen Kreisverband Mitte nun endgültig

Hintergrund waren Vorwürfe aus der Partei, wonach zwei der sechs späteren Abtrünnigen aufgrund von Äußerungen in den sozialen Netzwerken möglicherweise extremistische Positionen vertreten haben sollen und damit nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Der Landesverband wollte den Vorwürfen nachgehen, aber die Lage eskalierte schnell. Zu einer Aussprache mit den beiden Abgeordneten und einer Aufklärung der Vorwürfe ist es augenscheinlich nicht gekommen. Nachdem sich vier weitere Grünen-Abgeordnete mit den beiden solidarisierten und sich die sechs abspalteten, war aus einem lösbaren Konflikt eine handfeste Krise geworden.

Seit Freitag ist der Riss im grünen Kreisverband Mitte nun endgültig: Der Landesverband hat gegen alle sechs Abtrünnigen ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet. „Den Abgeordneten wird parteischädigendes Verhalten wegen der Gründung einer zweiten Grünen-Fraktion in Hamburg-Mitte vorgeworfen“, heißt es in einer dürren Mitteilung des Landesverbandes. Jetzt muss das Landesschiedsgericht entscheiden.

Fast zeitgleich erklärte Farid Müller, einer der erfahrensten Grünen-Politiker und seit 1997 Bürgerschaftsabgeordneter, seine Kandidatur für den Kreisvorsitz in Mitte. Amtsinhaberin Sonja Lattwesen will bei der turnusmäßigen Wahl am 24. September auf den Posten verzichten. Müller gehört dem Kreisverband seit Langem an, kennt diesen doch sehr speziellen politischen Biotop genau und ist zugleich als Parlamentarischer Geschäftsführer der Bürgerschaftsfraktion Teil des grünen Establishments im Rathaus. Es sieht danach aus, als ob Müller Krisenintervention im grünen Notstandsgebiet leisten soll.

Verhältnisse bei den Grünen in Mitte sind verworren

„Durch mein Bürgerschaftsmandat und meine Funktion in der Fraktion kann ich die für Mitte wichtige Zusammenarbeit von Landes- und Bezirksebene weiter verbessern“, schreibt Müller in seinem Bewerbungsschreiben. Der Satz ist nichts weiter als die freundlich-diplomatische Umschreibung von Problemlage und Lösungsansatz.

Ob Müllers Mission im Falle seiner Wahl erfolgreich sein wird, ist nicht ausgemacht. Die Verhältnisse bei den Grünen in Mitte sind schon seit Längerem verworren. Ein deutliches Zeichen für den internen Zwist war, dass der langjährige Ex-Mitte-Fraktionschef Michael Osterburg, der prägende Grünen-Politiker mit Wirkung über den Bezirk hinaus, bei der Kandidatenaufstellung für die Bezirkswahl Anfang des Jahres völlig überraschend durchfiel. Osterburg ist zwar ohne politisches Amt, aber nach wie vor präsent. Müller und Osterburg waren früher nicht gerade die engsten Parteifreunde, das hat sich aber nach Auskunft beider längst geändert.

Müllers Engagement bringt Bewegung in die festgefahrene Situation in Mitte. In seinem Bewerbungsschreiben macht der Grüne eine Offerte in Richtung SPD. Er erinnert an die 29,3 Prozent – „unser bisher bestes Wahlergebnis bei Bezirksversammlungswahlen in Mitte“ und schreibt dann: „Mir ist es sehr wichtig, dass wir Grüne dieses Vertrauen der Wählerinnen und Wähler annehmen und im Bezirk für mehr grüne Politik sorgen. Ich bin der Überzeugung, dass wir dies unter den aktuellen Umständen am besten in einem verlässlichen Kernbündnis mit der SPD erreichen können.“

Ziel ist eine stabile Koalition

Der Begriff Kernbündnis umschreibt etwas verschämt den Umstand, dass SPD (14 Mandate) und Grüne ohne die grüne Abspaltung (zehn Mandate) eben keine Mehrheit in der Bezirksversammlung mehr haben. Die fehlenden zwei Stimmen müsste sich Rot-Grün dann jeweils in der Bezirksversammlung suchen. Ob sich die eher strukturkonservative SPD-Mitte darauf einlässt, ist offen. Bislang führen der SPD-Kreischef und langjährige Bundestagsabgeordnete Johannes Kahrs und seine Mitstreiter Sondierungsgespräche mit allen in der Bezirksversammlung vertretenen Parteien außer der AfD.

Ziel der Sozialdemokraten ist eine stabile Koalition mit der Perspektive, dass sie die fünf Jahre dauernde Legislaturperiode hält. Doch wie ein solches Bündnis aussehen kann, weiß auch Kahrs offensichtlich noch nicht. Müller scheint mit wechselnden Mehrheiten, die jeweils für Entscheidungen in der Bezirksversammlung sorgen sollen, weniger Pro­bleme zu haben. „Ich werbe für ein rot-grünes Kernbündnis, denn Grüne und SPD sind aus der Wahl beide als stärkste Fraktionen hervorgegangen“, schreibt Müller in seiner Bewerbung. „Auch wenn uns zur Zeit zwei Stimmen für eine Mehrheit fehlen, so kann ein verlässliches Kernbündnis dennoch den Wählerwillen für bezahlbaren Wohnraum, mehr Grün und einer Verkehrswende in unseren Stadtteilen mit wechselnden Mehrheiten umsetzen“, glaubt der Grüne.

Der Job des Bezirksamtsleiters Droßmann (SPD) wäre sicher

Es ist kein großes Geheimnis, dass die Mitte-Sozialdemokraten das Verhalten der Grünen in deren Krise nicht nachvollziehen können. Hinter vorgehaltener Hand wird darauf hingewiesen, dass der ursprüngliche Vorwurf gegen die beiden Grünen, sie würden nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, nicht aufgeklärt wurde. Der Parteiausschluss werde jetzt nur noch mit der Gründung einer Fraktion begründet. Ein Aspekt könnte den Sozialdemokraten Müllers Offerte gleichwohl schmackhaft machen: Der Job von Bezirksamtsleiter Falko Droßmann (SPD) wäre erst einmal gesichert. Das hatte das Wahlergebnis zunächst nicht zwingend erwarten lassen.

Dass sich die Landesebene nun doch stärker in der Krisenregion Mitte engagiert, hat einen weiteren einleuchtenden Grund: Der Bezirk Mitte ist ein wichtiges Pflaster für die Bürgerschaftswahl am 23. Februar 2020. „Mit meiner Erfahrung aus den letzten Jahren und Wahlkämpfen möchte ich dafür sorgen, dass wir einen richtig guten, gemeinsamen und zukunftsorientierten Wahlkampf hinlegen“, schreibt Müller. Schließlich haben die Grünen am 23. Februar einiges vor.