Hamburg. Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg unterstützt den Vorstoß. Kritik kommt dagegen von den Parteien.
Gehen die Deutschen zu oft zum Arzt? Und wenn ja: Wo genau verläuft die Grenze zwischen einem verantwortungsvollen Gesundheitsbewusstsein und Panikmache, die das Gesundheitssystem nach Meinung vieler an seine Grenzen stoßen lässt. Klar ist: Die Deutschen gehen im Schnitt deutlich häufiger zum Arzt als die Menschen der meisten anderen Länder, nämlich im Schnitt 14,9-mal im Jahr, wie ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) mitteilte.
Seitdem der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Andreas Gassen, vor wenigen Tagen Sanktionen für zu häufige Arztbesuche vorschlug, ist das Thema wieder allgegenwärtig. Konkret sagte er: „Wer sich verpflichtet, sich auf einen koordinierenden Arzt zu beschränken, sollte von einem günstigeren Kassentarif profitieren.“ Wer jederzeit zu jedem Arzt gehen möchte, der müsse auch mehr bezahlen.
Deutsche Gesundheitssystem weltweit einzigartig
In Hamburg liegt die Zahl der Arztkontakte mit 14,3 leicht unter dem bundesdeutschen Durchschnitt. „Auf Landesebene sind die Zahlen sehr ähnlich“, so ein KBV-Sprecher. „In Schleswig-Holstein sind es etwa 17, in Baden-Württemberg rund 13 Besuche.“
Die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg unterstützt den Vorstoß von Andreas Gassen. Sprecher Jochen Kriens verweist darauf, dass das Deutsche Gesundheitssystem weltweit einzigartig sei, das auf Solidarität beruhe und das durch den Gesetzgeber dem Gebot der Wirtschaftlichkeit unterliege. „Dies bedeutet nicht nur, dass Ärzte wirtschaftlich handeln müssen, sondern auch der Patient hat sich so zu verhalten, dass seine Inanspruchnahme dieses solidarischen Systems nicht dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit zuwiderläuft“, so Kriens.
Zu viele Arzt-Patienten-Kontakte?
Zwar hält er eine strikte Grenzziehung nicht für möglich, den Diskurs über die Verantwortung des Einzelnen aber für geboten und notwendig. „Es zählt zu den Aufgaben der gemeinsamen Selbstverwaltung, die Frage zu stellen, ob aufseiten der Patienten jede, auch die unvernünftige, Inanspruchnahme des medizinischen Angebots und der ärztlichen Ressourcen widerspruchslos toleriert werden soll, vor allem, wenn es sich hierbei nicht mehr nur um Einzelfälle handelt.“ Eine vernünftige wirtschaftliche Inanspruchnahme sei nicht immer erkennbar, etwa wenn die Notaufnahme eines Krankenhauses mit Bagatellerkrankungen aufgesucht wird oder wenn Patienten sich unkoordiniert Termine bei mehreren fachgleichen Fachärzten geben lassen würden.
Auch der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Dr. Pedram Emami, ist der Meinung, dass es in Deutschland im Schnitt zu viele Arzt-Patienten-Kontakte gibt. „Im statistischen weltweiten Vergleich liegen wir weit an der Spitze, deswegen halte ich es für richtig, dass die Frage diskutiert wird, ob tatsächlich alle diese Arztbesuche sinnvoll sind“, so Emami, der zusätzlich zu seinem Amt auch als Oberarzt in der Neurochirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) tätig ist. „Die Diskussion sollte allerdings unideologisch geführt werden. Patientenbashing hat dabei nichts zu suchen“, betont er.
Kritik kommt auch aus der Hamburger SPD
Außerdem sei es sinnvoll, zunächst zu prüfen, was die Ursachen für die häufigen Arztbesuche sind, bevor man überlege, wie man damit umgehe. „Es gibt keine harten Daten, aus denen die Gründe zweifelsfrei hervorgehen“, so Emami. Für möglich hält er jedoch, dass ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis sowohl auf Patienten- als auch auf Arztseite eine Rolle spiele. „Viele Patienten wollen sicherheitshalber auch einfache Fragen abklären lassen, und auch viele Ärzte wollen im Zweifel noch eine Zweitmeinung einholen, um sich abzusichern.“ Weiter gebe es Versicherte, deren Anspruchshaltung ist, dass sie als zahlende Versicherte zu jedem Zeitpunkt ein Anrecht auf eine hoch qualifizierte Meinung hätten. „Auch darüber muss man diskutieren.“
Etwas anders bewertet den Vorstoß Maren Puttfarcken, Leiterin der Hamburger Landesvertretung der Techniker Krankenkasse: „Patienten haben aus guten Gründen ein Recht auf freie Arztwahl und eine zweite Meinung. Gerade ärztliche Zweitmeinungen vor Operationen verhindern oft unnötige Eingriffe. Das schützt den Patienten und entlastet das Gesundheitssystem.“ Gleichzeitig sehe man aber in internationalen Vergleichen, dass die Deutschen wesentlich häufiger zum Arzt gehen. „Das müssen wir im Blick behalten“, so Puttfarcken.
Kritik kommt auch aus der Hamburger SPD. „Herr Gassen beschreibt die Lage nicht richtig. Realität ist für viele gesetzlich Versicherte vielmehr, dass sie nach wie vor viel länger auf einen Termin beim Facharzt warten müssen als Patienten mit einer Privaten Krankenversicherung“, sagt die Gesundheitsexpertin der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Sylvia Wowretzko. Insgesamt sei es notwendig, dass Haus- und auch Fachärzte untereinander noch besser kooperieren. „Aber eine Einschränkung der freien Arztwahl für die gesetzlich Versicherten ist der falsche Weg. Ziel muss es vielmehr sein, die Organisation zu verbessern, um kranke Menschen an den richtigen Arzt zu vermitteln.“
Facharzttermine in Hamburg innerhalb von vier Wochen
Lange Wartezeiten? Laut Kassenärztlicher Vereinigung Hamburg gibt es das de facto in Hamburg nicht mehr. „Die Terminservicestelle der KVHH vermittelt Termine bei Allgemeinmedizinern und Fachärzten innerhalb eines Zeitfensters von vier Wochen. Länger muss in Hamburg also niemand auf einen Termin warten“, so Sprecher Jochen Kriens. „Die meisten Termine finden wenige Tage nach dem Anruf statt.“
Die Verbraucherzentrale sieht das anders, es gebe nach wie vor lange Wartezeiten. „Ich kann daher Patienten verstehen, die sich bei mehreren Fachärzten anmelden, und dann vielleicht vergessen, einen Termin abzusagen“, sagt Rechtsanwältin Charlotte Henkel, die auch im Auftrag der Verbraucherzentrale Patienten berät. Ursächlich sei der gravierende Ärztemangel.
Kritik kommt auch von den Grünen: „Sanktionen dieser Art lehne ich strikt ab. Sie sind nicht nur kontraproduktiv, sondern auch ungerecht, weil sie nur auf Kassenpatienten abzielen“, sagt Christiane Blömeke, Gesundheitsexpertin der Grünen Bürgerschaftsfraktion. „Statt Sanktionen sollte der Fokus auf mehr Aufklärung und Prävention gerichtet werden.“ Auch die gesundheitspolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, Birgit Stöver, meint: „Zu volle Arztpraxen sind natürlich ein Ärgernis für alle. Trotzdem sollte jeder selbst einschätzen dürfen, ob ein Arztbesuch sinnvoll ist oder nicht. Wer wirklich krank ist, sollte nicht aus Kostengründen zögern, zum Arzt zu gehen und bei Bedarf auch eine Zweitmeinung einzuholen. Sanktionen für Arztbesuche sehen wir aber kritisch.“