Hamburg. Vor 80 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Ein Hamburger Historiker hat den Sommer vor dem Krieg in einem Buch aufgearbeitet.
Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Es ist wohl einer der bekanntesten Sätze der deutschen Geschichte. Und eine dreiste Lüge. Gesprochen wurde er von Adolf Hitler im Berliner Reichstag am Vormittag des 1. September 1939. Der Tag, an dem Deutschland mit dem Überfall der Wehrmacht auf Polen den Zweiten Weltkrieg begann.
Der Angriff erfolgte ohne Kriegserklärung. Dabei hatte der Völkerbund, dem Deutschland 1926 beigetreten war, den Angriffskrieg zu einem internationalen Verbrechen und die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung zum Grundsatz erklärt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 dauerte es allerdings nicht einmal zehn Monate, bis das NS-Regime im Oktober aus dem Völkerbund wieder austrat. Hitler, dessen Außenpolitik auf militärische Expansion ausgerichtet war, hatte nie vorgehabt, Rüstungsbeschränkungen oder eine Kontrolle durch den Völkerbund zu akzeptieren. Der Austritt bereitete das Land auf den Krieg vor. Die Rüstungspolitik und die einseitige Ausrichtung der Wirtschaft machten den Krieg zur ökonomischen Notwendigkeit. Der Konflikt war nur eine Frage der Zeit. Zeit, die Hitler brauchte, um aufzurüsten.
Und in der er die Welt immer wieder über seine wahren Absichten täuschte. So, als er am 24. August 1939 einen Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion schloss. Zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, begann der Russlandfeldzug. Oder als er 1934 mit Polen ebenfalls einen Nichtangriffspakt schloss. Fünf Jahre später täuschte das NS-Regime einen polnischen Angriff auf den Sender Gleiwitz vor, um einen Kriegsgrund zu haben. „Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht“, hatte Hitler in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939 gesagt. Zehn Tage später verübten sieben SS-Leute, in Zivil und mit Maschinenpistolen bewaffnet, den Anschlag auf die Radiostation. Über den Sender riefen sie in polnischer und deutscher Sprache zum angeblichen Aufstand der polnischen Minderheit auf: „Achtung! Achtung! Hier ist Gleiwitz. Der Sender befindet sich in polnischer Hand. Die Stunde der Freiheit ist gekommen.“ Die Katastrophe aber begann schon vor 5.45 Uhr.
Hinterzimmer der Macht
„Um 4.20 Uhr bricht über Wielun ein Inferno herein. Deutsche Bomber vom Sturzkampfgeschwader 76 greifen ohne Vorwarnung die Stadt in Zentralpolen an.“ So beschreibt der Hamburger Historiker Hauke Friederichs in seinem gerade erschienenen Buch „Funkenflug“ den Beginn des größten militärischen Konflikts der Menschheit. „Die Deutschen haben den Ort, der keinerlei militärische Bedeutung hat, nur aus einem Grund ausgewählt. Sie wollten sehen, was ihre moderne Luftwaffe zu leisten vermag. Kirche, Synagoge und Krankenhaus bekommen Treffer und gehen in Flammen auf.“ Eine Welle von Bomben folgt auf die vorherige. Mehr als 20 Tonnen Sprengstoff wirft die Luftwaffe ab. „1200 Menschen sterben, darunter viele Frauen und Kinder.“
Hauke Friederichs hat den Sommer, bevor der Krieg begann, noch einmal sehr detailliert aufgeschrieben. Vier Wochen im August 1939, Tag für Tag, beinahe Stunde für Stunde schildert er Ereignisse und Hintergrundgespräche, Gedanken und Bestrebungen, Ziele und Ängste der unterschiedlichsten Menschen aus Deutschland und England, Italien und Schweden, den USA oder der Sowjetunion.
Er nimmt uns mit in die Hinterzimmer der Macht. Nach Danzig, wo der Schweizer Carl Jacob Burckhardt als Hoher Kommissar des Völkerbundes versucht, die Unabhängigkeit der Stadt und die deutsch-polnische Zusammenarbeit zu überwachen. In die Tanzbar des Hotels Haus Oberschlesien in Gleiwitz, in der Obergruppenführer Reinhard Heydrich den aus Berlin angereisten SS-Offizieren erklärt: „Der Führer braucht einen Kriegsgrund, um die Ostgrenze zu beseitigen.“ In die Osteria Bavaria, Hitlers Lieblingsrestaurant in München, in dem er sich mit der englischen Aristokratin Unity Mitford trifft, die ihn verehrt. In das große Wohnzimmer auf dem Hof Elisabethbay in der Nähe der nordfriesischen Kleinstadt Bredstedt, in dem am 7. August 1939 ein geheimes Treffen zwischen sieben Engländern und Hermann Göring stattfindet. Der Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe „versucht auch heute wieder, England von einer militärischen Hilfe für Polen abzuhalten und seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass Deutschlands Drang nach Osten keine britischen Interessen verletzt“, schreibt Friederichs.
Ungemein spannendes Buch
Und ins Globe Theatre in London, in dem sich Iwan Maiski und seine Frau Agnia am Abend des 31. August 1939 die Komödie „The Importance of Being Earnest“ von Oscar Wilde ansehen. Eine Rückblende in die gute alte Zeit, findet der sowjetische Botschafter, „ohne Automobile, Radio, Flugzeuge, Luftangriffe, Hitler und Mussolinis.“
Herausgekommen ist ein ungemein spannendes Buch über vier Wochen im Sommer 1939, nach denen nichts mehr so war wie vorher. „Dieser Krieg war ein historisch beispielloser Angriff auf die Menschlichkeit, eine Zerstörung aller kulturellen Ideale, die die Aufklärung hervorgebracht hatte, ein Absturz, wie es ihn bis dahin nicht gegeben hatte. Er war Europas Armageddon“, schreibt der britische Historiker und Bundesverdienstkreuzträger Ian Kershaw in seinem Buch „Höllensturz“.
Mehr als 60 Staaten waren direkt oder indirekt an diesem Krieg beteiligt. 60 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Was 1939 mit dem Überfall auf Polen begann, entfachte einen weltweiten Flächenbrand. Und endete erst sechs Jahre später mit dem ersten Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 und der anschließenden Kapitulation Japans am 2. September. Deutschland hatte bereits am 8. Mai bedingungslos kapituliert.
„Die Entwicklung im Sommer 1939 interessiert mich vor allem deshalb schon seit Jahren, weil in wenigen Tagen so viel passierte“, sagt Hauke Friederichs. „Das Scheitern der Verhandlungen zwischen England, Frankreich und der Sowjetunion, dann der Hitler-Stalin-Pakt, geheime diplomatische Missionen, die von den Deutschen betriebene Eskalation im Grenzgebiet. Und gleichzeitig ging das normale Leben in Deutschland, Polen, England und Frankreich weiter, die Menschen machten Urlaub, die Strände waren gut besucht – auch in Danzig, das zum Krisenpunkt des Weltgeschehens erklärt worden war.“
Friederichs, der für das Buch Akten im Militärarchiv in Freiburg eingesehen, in den Staatsbibliotheken in Hamburg und Berlin Zeitungen gesichtet und Tagebücher, Biografien, Briefwechsel und Erinnerungen gelesen hat, lässt zahlreiche Menschen wieder lebendig werden.
Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt
Menschen wie Birger Dahlerus, schwedischer Diplomat und gut bekannt mit Hermann Göring. Dahlerus hat bis zuletzt versucht, zwischen den Engländern und dem Nazi-Regime zu vermitteln, und ist in den letzten Augustwochen ständig zwischen London und Berlin hin- und hergeflogen. Am Abend des 26. August wird er erstmals in der Berliner Reichskanzlei in das Arbeitszimmer Adolf Hitlers vorgelassen. Hitler spricht über Deutschlands Wunsch, sich mit England, Polens Verbündetem, zu verständigen. 20 Minuten, erregt, empört. Dahlerus berichtet von seinen Eindrücken aus England, von der Mentalität der Menschen, von ihrer Zähigkeit und Beharrlichkeit. Hitler springt auf, hebt hervor, wie stark Deutschland aufgerüstet hat, wie gut die Armee sei.
„Er redet sich in Rage“, schreibt Friederichs. „Mit starrem Blick marschiert er durch das Zimmer, zählt so rasch Fakten und Zahlen zur Wehrmacht auf, dass ihn die Anwesenden kaum verstehen. Dann brüllt er los und droht allen Feinden mit Vernichtung.“ Dahlerus schaut dem Spektakel staunend zu. „Dies ist der Mann, der nicht nur die Schicksale seines Volkes in der Hand hat, dessen Maßnahmen vielmehr einen Erdteil, ja die Lage der ganzen Welt und das Wohl und Wehe von Millionen Menschen beeinflussen können, der über die Frage zu entscheiden mächtig ist, ob die Menschheit einer friedlichen Entwicklung mit all ihren Segnungen entgegengehen kann oder ob ein Krieg mit all seinen Schrecken ausbrechen wird.“
Oder Italiens Außenminister Graf Galeazzo Ciano, der nach zahlreichen Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen Joachim von Ribbentrop schreibt: „Ich spüre, dass das Bündnis mit uns für die Deutschen nur so viel wert ist, wie viele feindliche Kräfte wir von ihren Fronten fernhalten können. Nichts weiter. Unser Schicksal ist ihnen egal. Sie gehen davon aus, dass der Krieg von ihnen und nicht von uns entschieden werden wird. Letztendlich versprechen sie uns nur Almosen.“ Am 13. August kehrt er aus Deutschland nach Rom zurück und berichtet dem „Duce“ Benito Mussolini über seine unerfreuliche Reise. „Beide sind betroffen über Hitlers Kurswechsel“, schreibt Friederichs. „Diese Abkehr von der antikommunistischen Politik lehnen sie grundsätzlich ab.“ Zehn Tage später sollten Hitler und Stalin einen deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt schließen. „Ein Pakt mit den Bolschewiken – wie konnte das alles nur geschehen“, fragen sich die Italiener. „Vor allem sind beide empört über die Demütigung, die Italien durch die arroganten Deutschen erlitten hat“, schreibt Friederichs.
Neuer Kurs gegenüber Deutschland
Graf Ciano spricht sich für einen neuen Kurs gegenüber Deutschland aus. „Ich mache mir über die Deutschen keine Illusionen mehr. Morgen wird Ungarn an der Reihe sein, dann wir. Wir müssen sofort handeln, solange es noch geht.“ Mussolini aber bleibt zögerlich, will die Beziehungen nicht schroff abbrechen.
Welche Person hat Hauke Friederichs besonders beeindruckt? „Ich fand Wilhelm Canaris interessant. Er stand als junger Mann politisch stramm rechts. Nach dem Ersten Weltkrieg bekämpfte er als Marineoffizier gemeinsam mit rechtsradikalen Freikorps die von ihm verhassten Sozialisten. Auch gegen die Revisionspolitik der Nationalsozialisten hatte er nichts einzuwenden. Er wollte ein großes Deutsches Reich als starke militärische Macht in Europa. Den Zweiten Weltkrieg versuchte er aber dann zu verhindern – ohne ein allzu großes persönliches Risiko einzugehen.“ Dennoch hätte Hitler ihn sicherlich bereits 1939 hart bestraft, so Friederichs, vielleicht sogar als Landesverräter verurteilen lassen, wenn Canaris’ Ränkespiele aufgedeckt worden wären. „In diesen Tagen im August schwankt Canaris zwischen Mut und Verzagtheit, zwischen Widerstand und Weggucken. Aber immerhin war er einer der wenigen Admirale oder Generäle, die nicht nur entsetzt von Hitlers Kriegstreiberei waren – sondern dagegen auch etwas unternahmen.“
Bei Untersuchungen der Geheimen Staatspolizei wurde später das Tagebuch von Canaris gefunden. Als so seine Kontakte zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus bekannt wurden, wurde er verhaftet und Anfang April 1945 von einem SS-Standgericht im Konzentrationslager Flossenbürg zum Tode verurteilt und gehängt.
Was hätte passieren müssen, um den Zweiten Weltkrieg zu verhindern? „Kontrafaktische Geschichtsschreibung fällt mir immer schwer“, sagt Friederichs. Also die Beantwortung der Frage nach dem „was wäre wenn“. Sicherlich, so glaubt er, wäre der Weltkrieg später von Hitler entfesselt worden, wenn Frankreich, England und die Sowjetunion im August 1939 einen Verteidigungspakt geschlossen und gemeinsam für die Sicherheit Polens garantiert hätten. „Die Offiziere der Wehrmacht waren 1939 strikt gegen einen Zwei-Fronten-Krieg. Vermutlich hätte Hitler dann noch einige Zeit gewartet.“ Aber bereits in „Mein Kampf“ habe er den Vorstoß nach Osten angekündigt. „Das Erobern von ,Lebensraum‘ für das deutsche Volk war sein Ziel. Davon hätte ihn wohl niemand abbringen können.“
Niemand hielt Adolf Hitler auf
Zwei Gedankenspiele gestattet sich Friederichs aber doch noch. Was wäre wohl passiert, wenn das Attentat von Georg Elser im November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller erfolgreich gewesen und der Diktator gestorben wäre? „Vielleicht wäre dann Ende 1939 bereits Frieden in Europa gewesen.“
Und er beschreibt ein Treffen zwischen Adolf Hitler und Ernst von Weizsäcker am 30. August. Der Staatssekretär fleht den „Führer“ an, den Frieden zu bewahren, bettelt geµradezu. Vergeblich. „Schweißgebadet verlässt er den Machthaber.“ Später bedauert Weizsäcker, Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, dass es nicht in seiner Erziehung gelegen sei, eine Menschen zu töten. „Mit nur einem Schuss hätte er vielleicht den Weltfrieden retten können“, schreibt Friederichs.
Und was sind die Lehren aus den Geschehnissen im August 1939? „Lernen können wir Nachgeborenen etwas über den Umgang mit autokratischen Machthabern“, sagt Friederichs. „Hitler wurde so stark, weil ihm lange Zeit von der internationalen Gemeinschaft keine Grenzen gesetzt wurden.“
So habe er die Wehrmacht aufgerüstet und dabei den Versailler Vertrag verletzt. Habe Soldaten in das entmilitarisierte Rheinland einmarschieren lassen, Österreich und das Sudetenland besetzt und dann die Tschechoslowakei zerschlagen. „Niemand hielt ihn auf, bis es zu spät war.“