Halstenbek. Hildegard Lunau dokumentiert, wie junge Menschen aus Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs in Halstenbek ausgebeutet wurden.

Die Puppe Gisela trägt sie noch immer: die vergilbte, weiße Jacke, die ihr vor vielen Jahrzehnten das junge Mädchen Anna aus der Ukraine gestrickt hat. Die damalige kleine Puppenmutter ist inzwischen längst selbst Großmutter, aber Gisela hat ihren angestammten Platz auf einem Tischchen behalten und trägt noch immer diese Jacke. Die Zwangsarbeiterin Anna hat sie im Zweiten Weltkrieg aus den Fäden eines Zuckersacks gestrickt. Hildegard Lunau, die damals ein kleines Mädchen war und Anna mochte, hat sich immer gern daran erinnert: „Wir haben oft bei den Mädels in der Küche gesessen“, erzählt die Halstenbekerin, die viele Jahre das Deutsche Baumschulmuseum geleitet hat und aus einer Baumschulfamilie stammt.

Kürzlich hat sie in der Geschichtswerkstatt Halstenbek ein heikles Thema in Schriftform gebracht: „Zwangsarbeit in Halstenbek 1940–1945“ lautet der Titel ihrer Publikation, den sie „Versuch einer Dokumentation“ nennt. Anna, zu der nach 1945 der Kontakt vollständig abriss, war zu Kriegszeiten Zwangsarbeiterin im Baumschulbetrieb ihres Großvaters Ferdinand Helms gewesen.

Den großväterlichen Betrieb gibt es nicht mehr, die rund 1000 Zwangsarbeiter und die Kriegsgefangenen, die in den Kriegsjahren den Betrieb der damals noch vielen wirtschaftlich bedeutenden Halstenbeker Baumschulen am Leben hielten, waren nach Kriegsende auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Dass die Deutschen sie aus polnischen und ukrainischen Städten von der Straße weg unter unmenschlichen Bedingungen verschleppt hatten, dass keine Entschädigung gezahlt wurde – darüber wurde jahrzehntelang kein Wort verloren.

Das aber ließ Hildegard Lunau keine Ruhe: „Wir müssen geradestehen für das, was passiert ist“, meint sie. Im Jahr 2000 nahm sie Kontakt zu einer Frau aus Polen auf, weil die im Halstenbeker Rathaus nach einer Bestätigung dafür angefragt hatte, dass ihre Mutter während des Krieges im Betrieb von Hildegard Lunaus Großvater gearbeitet hatte. „Für mich ist das noch immer ein Thema, das ist einfach nicht vorbei. Die Geschichte ist immer noch da“, sagt Lunau.

Die Anfrage im Halstenbeker Rathaus brachte den Stein ins Rollen: Hildegard Lunau machte sich auf den Weg nach Polen, „mit Bibbern und Herzklopfen“. Die Mutter der Frau, die die Anfrage gestellt hatte, war inzwischen gestorben, „aber sie hatte ihr Leben lang Fotos aus ihrer Halstenbeker Zeit aufgehoben. Ich hatte dann das Gefühl, da ist kein Hass mehr drin.“ Sehr schön und freundlich sei es in Polen gewesen. „Leider ist daraus keine Freundschaft entstanden, weil das an der Sprachbarriere scheiterte“, sagt sie.

Immer wieder begegnete Hildegard Lunau dem Thema Zwangsarbeit, immer wieder ließ sie es ruhen, weil anderes getan werden musste.

Die meisten Zwangsarbeiter waren 14 bis 20 Jahre alt

„Man hat nach dem Krieg nicht darüber geredet.“ Während des Krieges habe es dagegen wohl „kein Unrechtsbewusstsein“ gegeben. Die vielen amtlichen Verordnungen verleihen ihrer beachtlichen, 66 Seiten umfassenden Dokumentation den rechtlichen Rahmen, der die Vorgehensweise und die Art des Umgangs mit Zwangsarbeitern zu regeln versuchte und deutlich erkennen lässt. Diesen Dokumenten ist auch zu entnehmen, dass Zwangsarbeiter massiv ausgebeutet und wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden. Die meisten waren zwischen 14 und 20 Jahre alt.

Mindestens genauso wichtig war Hildegard Lunau aber, die alten Halstenbeker zum Reden zu bewegen. Eine Vorarbeiterin erinnert sich daran, dass die völlig entkräfteten russischen Kriegsgefangenen am Ende der Hierarchie standen, ihnen habe niemand beigestanden. Wer starb, wurde in einen Sack gestopft. Andere erzählten, dass die russischen Kriegsgefangenen Katzenfutter und Verschimmeltes gegessen hätten, um zu überleben. Zu Herzen geht die Auflistung von Toten, die oft gerade erst geboren waren. Als Ursache wird „Lebensschwäche“ genannt. Geboren hatten sie die unterernährten Mütter, die auf den Halstenbeker Feldern arbeiteten.

Hildegard Lunau erinnert sich noch, dass damals „immer viele fremde Menschen im Dorf waren. Die gehörten nie richtig dazu. Aber wir waren es gewöhnt.“ Als der Krieg zu Ende gewesen sei, habe man „einfach weitergelebt“. Der Alltag sei damals viel beschwerlicher gewesen als heute, allein die Essensbeschaffung. „Die Polen waren weg, und dann kamen die Flüchtlinge“, erinnert sich Hildegard Lunau. „Das war eine Herausforderung, Raum für all diese Menschen zu finden. Plötzlich lebten bei uns im Haus 17 Menschen.“

So war es relativ leicht, weiterzumachen, als sei nichts Unrechtes geschehen. Erst mal ging es ums Überleben und darum, den eigenen Betrieb über Wasser zu halten. Erst vor Kurzem ist Hildegard Lunau zu den Halstenbekern aus früheren Baumschultagen gegangen: „Ich habe angefangen zu plaudern, und dann hab’ ich nachgefragt.“ Anfangs hätten die Menschen sich kaum erinnert, und ihr fiel auf: „Es kamen Geschichten. Aber nur die netten.“ Also fragte und suchte sie weiter. Und fand auch die anderen.

Der Band „Zwangsarbeit in Halstenbek 1940– 1945“ von Hildegard Lunau ist erhältlich in der Buchhandlung Cremer in Halstenbek, Hauptstraße 51. Er kostet zehn Euro.