Spiele dürfen keinen Zweck haben, Video-Games können schlau machen, und Karneval ist nichts anderes als ein großes Spiel.
Die Klassiker haben es Kathrin Fahlenbrach angetan: Sie hat als Kind am liebsten „Mau-Mau“ und „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt, Ingrid Bähr hingegen zockte Tage und Nächte lang „Monopoly“. Die Professorinnen erklären, warum sie jedem Erwachsenen empfehlen, weiterhin viel zu spielen, welche positiven Effekte Computerspiele mit sich bringen und wann Managerschulungen auch nur Spiele sind.
Was unterscheidet das Spielen von anderen Handlungen?
Prof. Dr. Ingrid Bähr: Die Zweckfreiheit. Spielen hat keinen Zweck außerhalb der Tätigkeit an sich oder zumindest eine unvollständige Funktionalität. Es muss irgendwas enthalten sein, das keinen Sinn im Sinne von Existenzsicherung macht. Wenn Leute umherrennen und versuchen, Bälle in Körbe zu werfen, die unten offen sind, dann ist das ein Basketballspiel. Es macht ja keinen Sinn, einen Ball in einen offenen Korb zu werfen. Oder nehmen wir den Hindernislauf. Ich bin gerade zum Bus gerannt und dabei über eine Absperrung gesprungen, das war kein Spiel, sondern Ernst. Es stellen sich aber Leute Hindernisse absichtlich in den Weg, nur um drüber zu springen – dann handelt es sich um eine spielerische Tätigkeit. Diese Tätigkeit erzeugt Freude und Spannung, ein Spiel bindet die Menschen emotional.
Prof. Dr. Kathrin Fahlenbrach: Im Spiel werden oft fiktionale Rahmenbedingungen hergestellt. Kinder machen das in Rollenspielen schnell, da ist der eine die Mutter, der andere das Kind, oder der eine Superheld, der andere Feind. Man einigt sich gemeinsam auf Regeln neuer Realitätsbedingungen – dieses Spielerische ist das Grundprinzip von Filmen oder anderen erzählerischen Medien, eine fiktive Welt herzustellen, einen Modus des „als ob“.
Spiele gibt es seit der Frühzeit menschlicher Kultur – welche Funktionen nehmen Spiele für Menschen ein?
Bähr: Eine anthropologische Konstante ist, dass Spielen und Erkunden sehr eng zusammenhängen. Es hat bislang auch noch niemand diese Begriffe genau voneinander trennen können. Erkunden hat mit einem Informationsgewinn zu tun, da taucht also ein Zweck auf, beim Spielen verhält es sich anders, da lernt man nebenbei. Wenn junge Füchse beispielsweise Tannenzapfen hinterherjagen, üben sie so, Beute zu jagen. Der Mensch denkt sich die Regel dazu aus, die Beute nur mit den Füßen bewegen zu dürfen, auf die Idee kämen Füchse nie. Fußball ist also ein Spiel im kulturellen Sinne, und die Erkundungsfunktion ist etwas, das wir sowohl bei Kindern als auch bei Tieren finden.
Fahlenbrach: Es geht beim Spiel auch um Testhandeln. Das hat eine lange Geschichte. Schon in der Antike haben die Menschen Theater geliebt. Dabei testeten sie imaginativ, welche Konsequenzen bestimmte Handlungen haben könnten. Katharsis spielt hier eine Rolle. Ich erlebe anhand des Schauspiels, welche Folgen sein moralisch schlechtes Handeln hat und erfahre so eine moralische Lektion. In der Fiktion kann ich spielerisch die Folgen einer Handlung ausprobieren.
Bähr: Deshalb darf ich bei Monopoly so schön gierig sein. Ich darf negativ Belegtes ausleben und dadurch auch noch gewinnen. Bei Raufspielen auf dem Schulhof ist es ähnlich, jedoch unter besonderen Bedingungen: Es geht darum, Regeln auszuhandeln, Regeln zu verstehen, zu verändern. Raufen ist wichtig, gerade für Jungs, die ihre Körperlichkeit erkunden müssen. Wenn sie dabei Regeln einhalten wie, wenn einer „Stopp“ sagt oder auf dem Boden liegt, hört man auf, und dass man dem anderen nicht wehtun darf, dann handelt es sich dabei um eine konstruktive Form von Kommunikation. Dann ist es gewissermaßen eine aufmerksame Art und Weise, einander genau wahrzunehmen und sein Handeln auf den anderen abzustimmen.
Keine Spezies spielt so intensiv wie der Mensch, richtig?
Bähr: Ja. Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich seine Bewegungsfähigkeit künstlich erschwert. Schiller hat mal gesagt: „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Wir machen etwas äußerlich Zweckfreies, zum Beispiel ganz schnell im Kreis zu laufen, nur um da wieder anzukommen, wo wir gestartet sind. Oder wir steigen unter Lebensgefahr auf Berge, nur um wieder runterzulaufen, das ist ja ein Luxusgut. Diese Selbsterschwernis finden wir im Tierreich nicht, und in ihr muss ein Gewinn für uns Menschen liegen. Das Freudvolle steht auf jeden Fall beim Spiel im Vordergrund. Sobald ein Kind gelernt hat, dass eine Tür schön laut knallt, wenn man sie zuschlägt, dann kann es das ja schon. Es knallt die Tür aber noch tausendmal zu. Die Freude am Tun ist extrem menschlich.
Fahlenbrach: Es gibt sie auch in anderen Spezies, aber nur wir Menschen stellen uns Regeln auf. Die Tiere nicht.
Bähr: Und der Gewinn ist bei uns rein symbolisch. Wenn ich mehr Tore habe als mein Gegner, dann habe ich dadurch nicht mehr zu essen. Ausnahme wäre hier der Profisport, aber der wäre aus genau diesem Grund dann kein Spiel mehr.
Forscher empfehlen, dass Kinder bis zum Alter von sechs Jahren jeden Tag sieben bis acht Stunden lang spielen sollten, das wäre ja ein Fulltime-Job.
Bähr: Für die Freinet-Pädagogen ist Spielen ja auch Arbeit. Von der Natur aus tun Kinder nichts anderes, als sich in der Welt zurechtzufinden, und das machen sie spielerisch. Die Frage ist nur, wie spielen sie. Das unorganisierte Sporttreiben und Spielen auf der Straße findet deutlich weniger statt als früher. Die Bewegungszeit im Alltag hat deutlich abgenommen. Heute sind Kinder und Jugendliche im Schnitt nur noch eine halbe Stunde täglich in Bewegung, vor zehn Jahren war das etwa doppelt so viel. Interessant ist dabei, dass körperliche Aktivität und Mediennutzung aber nicht direkt zusammenhängen. Gleichzeitig haben wir mit etwa 60 Prozent im Sportverein angemeldete Kinder und Jugendliche – noch nie waren es so viele. Wir beobachten dabei aber eine gesellschaftliche Aufsplittung je nach Elternhaus, sozialem Umfeld und Bildungsnähe.
Es gibt einige Spiele, die auf der ganzen Welt zu finden sind, wie Seilhüpfen und Verstecken, welche sind die beliebtesten?
Fahlenbrach: Momentan vor allem Action-Adventure-Games wie „God of War“ oder „Red Dead Redemption“. Es handelt dabei um ein kulturübergreifendes Phänomen. Das Netz hat zu einer Globalisierung der Medienkultur geführt, grenzüberschreitend haben sich bestimmte Vorlieben ausgeprägt.
Bähr: Die Vorlieben sind kulturübergreifend auch altersabhängig. Zuerst kommt das Spielen mit etwas, zum Beispiel mit Bauklötzen. Es folgt das Spielen als etwas. Sobald soziale Beziehungen eine Rolle spielen, möchten Kinder etwas darstellen, eine Mutter, einen Helden, eine Fee usw. Die dritte Form ist das Spielen um etwas, also Wettkämpfe, dafür interessieren sich die meisten erst ab 6 oder 7 Jahren. Aber auch Erwachsene spielen gerne als etwas. Nehmen Sie nur den Karneval. Da spielt ganz Köln!
Was ist der Mehrwert von Computerspielen?
Fahlenbrach: Die Herausforderung, die mit dem Erlernen der Spielregeln und der Bewältigung von Aufgaben verbunden ist, anzunehmen und zu meistern. Außerdem die Mimikry: Man kann mit den Avataren in eine andere Rolle schlüpfen. Und Computerspiele ermöglichen ein extrem komplexes Spielen. Die Herausforderungen werden im Spiel oft gesteigert bzw. an den Spieler angepasst. Das ist sehr dynamisch. Die Batman-Serie beispielsweise kann ich nur empfehlen, auch die virtuellen Welten dort sind grafisch anspruchsvoll gestaltet. Da handelt es sich nicht nur um seelenlose KI-Figuren.
Es gibt Studien, die behaupten, man würde schlauer durch Computerspiele, stimmt das?
Fahlenbrach: Verschiedene Forscher legen dies nahe. Bestimmte motorische und kognitive Fähigkeiten können beim Computerspielen trainiert werden. Das Übersetzen von Informationen in Handlungen, in dieser Schnelligkeit, das Verstehen von Handlungsalternativen in Verbindung mit Motorik, das stellt einfach ein gutes mentales Training dar. Videospiele bringen einen Mehrwert, die Verteufelung in breiten Teilen der Öffentlichkeit ist eigentlich ungerecht. Auch historisches Wissen kann vermittelt oder Wertefragen aufgebracht werden – etwa durch moralische Zwickmühlen: Rette ich eine Figur, die mich von Anfang an begleitet hat, oder komme ich einen Level weiter? Computerspiele sind also keineswegs trivial.
Bähr: Im Hinblick auf Spielen allgemein werden Hoffnungen auf Lerneffekte häufig auch auf Aspekte wie kreatives Gestalten oder Zusammenarbeit in einer Gruppe gerichtet, im Sinne sozialen Lernens. Die letztgenannte Erwartung wird auch an den Sport herangetragen, doch es hat sich herausgestellt, dass Spielen im Sport alleine nicht dazu führt, dass da bessere Menschen heranwachsen. Es muss erzieherisch und pädagogisch begleitet bzw. reflektiert werden. Was ist fair? Warum schimpfen wir jemanden nicht als „Loser?“ Hatten alle Mitspieler/innen Freude am Spiel? Fehlt diese Einordnung, lässt sich keinerlei positive Wirkung nachweisen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir Sportpädagog/innen sorgfältig dazu ausbilden. Es reicht eben nicht, einen Ball in die Halle zu rollen und zu sagen „Nun spielt mal schön!“.
Warum haben Video-Games einen so schlechten Ruf?
Fahlenbrach: Ich sehe das ganz klar in der langen Tradition der Medienkritik, die man schon seit dem Aufkommen des Romans beobachten kann. Unterhaltungsmedien, die mit fiktionalen Welten spielen, werden dem Verdacht ausgesetzt, manipulativ zu wirken und den Charakter zu verderben. Besonders bei Computerspielen kommt häufig der Vorwurf, dass sie Gewalttaten auch mit zu verantworten haben. Das würde ich so nicht bestätigen. Bei Spielerinnen und Spielern, die, abhängig vom sozialen Kontext und der psychischen Disposition, sehr bedürftig nach sozialer Anerkennung sind, kann dies fehlgeleitet zum Ausdruck kommen. Natürlich gibt es Fälle, in denen Computerspiele Gewalt triggern können, aber in der Regel ist es eher so, dass das spielerische Handeln und auch das Umgehen mit Gewalt in Computerspielen eher im Sinne von Testhandeln empfunden werden. Im Spiel kann ich testweise Gewalt erfahren und Gewalt ausüben, aber immer in dem Wissen, dass es in einem virtuellem Raum stattfindet, dass es folgenlos ist. Im Prinzip kann man sagen, es ist gesellschaftlich günstig, dass die Gewalterfahrung in virtuellen Räumen stattfindet.
Ab der Pubertät lässt der Spieltrieb nach, ist Spielen auch für Erwachsene von Bedeutung?
Bähr: Unbedingt. Dieses „sich in eine andere Welt begeben“ und dort anders handeln zu können, sich anders – vielleicht auch körperlich – erleben zu können, das ist für Erwachsene genauso wichtig wie für Kinder. Wenn Erwachsene nicht mehr spielen, verlieren sie eine wichtige Ressource. Sie verpassen eine Chance, Abstand von den Fragen zu gewinnen, die das Leben stellt. Man muss manchmal in einer anderen Welt sein, um beim Zurückkommen neu auf den eigenen Alltag zu schauen. Der Perspektivwechsel hilft.
Fahlenbrach: Die Vorteile der PC-Spiele kann man auch in der realen Welt nutzbar machen, wie wir an digitalen Lauf-Apps wie „Zombies, Run!“ sehen.
Bähr: Genau, bei Managerschulungen beispielsweise handelt es sich um erlebnispädagogische Spielformen, in denen die Kollegen zusammen z. B. einen Abgrund überwinden müssen. Das Team wird in eine Situation gebracht, in der sie mal anders miteinander umgehen, um so eine höhere Flexibilität und Produktivität zu erreichen.
Wie beim Laufen spricht man beim Spielen auch vom „Flow“-Erlebnis, wenn man so sehr im Spiel aufgeht, dass man in einen Zustand der Selbstvergessenheit gerät. Ist Spielen auch eine Flucht?
Bähr: Ein schwieriger Punkt. Mit meinem vierzehnjährigen Sohn diskutiere ich ständig: Wie viel darf er spielen? Würde ich nicht regulieren, begäbe er sich in eine Welt, in der alles andere keine Chance mehr hat, bedeutsam zu sein.
Fahlenbrach: Ich sehe natürlich auch: Dieses Abtauchen in die digitale Welt absorbiert die Jugendlichen restlos. Trotzdem bitte nicht verteufeln, denn sie lernen dabei auch viel, es handelt sich nicht um vergeudete Zeit.
Die Experten
Kathrin Fahlenbrach ist Professorin für Medienwissenschaft. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich Ästhetik und Geschichte der Medien, und seit fünf Jahren forscht sie speziell zu Computerspielen.
Ingrid Bähr ist Professorin für Didaktik von Bewegung, Spiel und Sport in der Lehramtsausbildung. Spiele sind ein wichtiger Bereich im schulischen Sportunterricht. Sie forscht zu offenen Unterrichtsformen, zur Methodik im Sportunterricht, zum Beispiel, wie man mit demokratischer Beteiligung der Schüler/innen Sportunterricht gestalten kann.