Hamburg. Wie unser Gedächtnis auch im Alter fit bleibt und was das Lösen von Problemen, Alkohol und Nikotin damit zu tun haben.

Der Hinweis fehlt in keinem Karriereratgeber: Wer sich darauf verlässt, dass Schule, Studium, Praktika oder Ausbildung für ein gutes Auskommen im erwählten Beruf bis zur Rente reichen, wird am Ende von seinem Arbeitgeber verlassen. Gerade die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt radikal. Aber wie lange spielt das Gedächtnis mit? Wie ist die Situation im Alter? Gibt es Grenzen? Und vor allem: Kann Lernen am Ende vielleicht sogar glücklich machen? Zwei Experten der Uni Hamburg – Prof. Anke Grotlüschen und Prof. Dietmar Kuhl – geben Auskunft

Frau Prof. Grotlüschen, Herr Prof. Kuhl, gestatten Sie zum Auftakt eine persönliche Frage: Ich bin auf der Zielgeraden meiner beruflichen Laufbahn. Warum sollte ich ein paar Jahre vor der Rente noch lernen?

Prof. Dr. Anke Grotlüschen Weil sich gerade beim Übergang vom Arbeitsleben in den Ruhestand eine Menge Fragen stellen, auf die Sie kaum Antworten aus Ihrem bisher erlernten Repertoire finden werden. Und damit können Sie diesen Schritt nicht wirklich erfolgreich gehen. Studien zeigen, dass genau in dieser Phase viele Menschen wieder beginnen zu lernen. Sie beschäftigen sich zum Beispiel intensiv mit ihrer Gesundheit. An Volkshochschulen ist dieses Thema besonders stark nachgefragt.

Prof. Dr. Dietmar Kuhl Wir lernen ohnehin das ganze Leben, dies ist oft kein bewusster Prozess. Wir speichern immer wieder neue Informationen in unserem Gedächtnis. Aber gerade wenn sich unsere Lebenssituation verändert, sind wir besonders gefordert zu lernen. Das Gedächtnis ist kein Archiv unserer Vergangenheit. Sondern biologisch haben Lernen und Gedächtnis die Funktion, dass wir uns an geänderte Lebenssituationen neu anpassen können.

Gibt es eine Altersgrenze, ab der es nicht mehr sinnvoll ist, zum Beispiel eine neue Sprache zu erlernen?

Kuhl Nein, im Gegenteil. Lernen ist notwendig für unser Gehirn. Es gibt ja diesen berühmten Ausspruch „Use it or lose it“. Wir müssen das Gehirn benutzen, damit es gesund bleibt. So bleiben die synaptischen Verbindungen erhalten. Wir können durch den Prozess des Lernens dem völlig normalen Nachlassen des Gedächtnisses entgegenwirken.

Trainieren Kreuzworträtsel das Gehirn?

Kuhl Nur sehr limitiert, da wir auswendig Gelerntes eintragen. Das ist nicht komplex genug, um das Gehirn wirklich zu fordern. Was allgemein hilft, ist soziale Interaktion. Sich mit Problemen zu beschäftigen und diese zu lösen. Genau dafür ist unser Gehirn trainiert. Übrigens geschieht dies besonders gut, wenn wir uns dabei für eine gute Sache engagieren.

Grotlüschen Wir unterscheiden zwischen kristalliner und fluider Intelligenz. Kristallin ist alles, was ich abgelagert habe. Dieser Bereich ist im höheren Alter größer als bei einem 15-Jährigen. Das hilft ihm beim Sprachenlernen, der Wortschatz ist einfach größer. Auf der anderen Seite lässt die fluide Intelligenz nach, wenn man sie nicht trainiert. Das ist die Fähigkeit, ein Problem möglichst schnell zu lösen. Daher ist es auch ab 50 so wichtig, sich immer neuen Problemen zu stellen, auch am Computer.

Kuhl Die Mechanismen für das Langzeitgedächtnis schwächen sich im Alter ab. Für das Langzeitgedächtnis müssen Gene angeschaltet werden. Diese Gene steuern die Herstellung von Proteinen, die für die langzeitige Verstärkung von Synapsen erforderlich sind. Bei Älteren funktioniert das nicht mehr so gut.

Ein Kleinkind lernt spielerisch. Warum verlieren wir diese Fähigkeit in der Schule?

Grotlüschen Wir möchten ab einem bestimmten Alter unser Leben selbst gestalten. Wir wollen uns nicht mehr danach richten, was die Lehrerin oder der Lehrer verlangen. Da geht es auch um Ablösungsprozesse. Im Erwachsenenalter sieht das nicht anders aus. Wir nehmen uns immer wieder vor, endlich unsere Englischkenntnisse aufzupolieren. Und dann sagen wir die Teilnahme doch wieder ab, weil der Leidensdruck nicht hoch genug ist.

Sieht man eigentlich in einem bildgebenden Verfahren, wie das Gehirn arbeitet?

Kuhl Wenn man einem Taxifahrer eine Adresse nennt, läuft ein Navigationsprozess in seinem Gehirn ab. Dann können Sie sehen, wie der Hippocampus, die Schaltstelle zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis, aufleuchtet. Durch das Speichern dieser Informationen verändert sich das Gehirn. Wenn wir drei hier aus diesem Gespräch herausgehen werden, wird unsere jeweilige Hirnstruktur anders sein als zuvor.

Dann sind Navigationssysteme ja eigentlich nicht gut.

Kuhl Ich will sie nicht verteufeln, ich habe heute auch eines benutzt, um in Ihre Redaktion zu kommen. Aber grundsätzlich gehen solche Systeme zulasten unserer Fähigkeit, sich zu orientieren.

Fast jeder kennt die bittere Erfahrung, dass einem auf einmal der Name eines Gesprächspartners nicht mehr einfällt. Muss man sich deshalb Sorgen machen?

Kuhl Nein, das passiert mir auch. Ich stehe vor dem Geldautomaten, und mir fällt die Geheimnummer nicht ein. Dann verlasse ich die Bank, und die Erinnerung kommt zurück. Wir haben manchmal keinen Zugang zu bestimmten Gedächtnisspuren, da würde ich mir noch keine Gedanken machen. Das ist noch kein Zeichen von Alzheimer. Anders sieht es aus, wenn man nicht mehr weiß, was ein Geldautomat überhaupt ist.

Sie haben mit Ihrem Team beim UKE ein Gedächtnisgen bei Mäusen entdeckt.

Kuhl Wir haben herausgefunden, dass ein bestimmtes Gen bei Mäusen für die Speicherung von Langzeitinformationen eine große Rolle spielt. Schaltet man es vor dem 21. Lebenstag molekularbiologisch aus, entwickeln sich die Tiere körperlich normal, sind aber in ihrem räumlichen Lernen stark beeinträchtigt. Schaltet man es später aus, können sie zwar noch normal lernen, das Erlernte aber nicht mehr im Gedächtnis behalten.

Was bedeuten diese Forschungsergebnisse für den Menschen?

Kuhl Das Gehirn von Maus und Mensch ist ähnlich aufgebaut. Da die Gene der Maus unseren sehr ähnlich sind, lassen sich die Ergebnisse weitgehend übertragen. Übertragen auf die menschliche Entwicklung bedeutet das Versuchsergebnis, dass das Gen in den ersten vier Lebensjahren aktiviert werden muss. Sonst ist komplexes Lernen im Erwachsenenalter stark beeinträchtigt.

Welchen Nutzen kann die Medizin aus Ihrer Forschung ziehen?

Kuhl Wir haben Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen diesem Gen und Erkrankungen wie Alzheimer, Autismus und Schizophrenie. Wenn wir die Funktion dieses Gens besser kennen, wird es möglich sein, gezielt in diese schrecklichen Erkrankungen einzugreifen.

Frau Prof. Grotlüschen, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit der Situation von Analphabeten. Ist das wirklich noch ein Problem in Deutschland?

Grotlüschen Wir denken ja immer, dass wir das Land der Dichter und Denker sind. Wir stehen aber bei den Erwachsenen, die Texte nicht sinnentnehmend lesen können und sie auch nicht sinnproduzierend schreiben können, im unteren Drittel der OECD-Länder. Der OECD-Schnitt liegt bei 15 Prozent, in Deutschland zwischen 17 und 18 Prozent. 6,2 Millionen Erwachsene können also so wenig lesen und schreiben, dass sie nicht allein durchs Leben kommen.

Aber es gibt doch die Schulpflicht?

Grotlüschen Ja, wie kann das dennoch passieren? Das fragen wir uns auch. Denn 76 Prozent dieser Erwachsenen haben einen Schulabschluss, was darauf hindeutet, dass sie diesen Abschluss mit sehr viel Mühe und Unterstützung erreicht haben. Wir gehen davon aus, dass diese Kompetenzen dann nicht benutzt wurden und nach und nach verkümmerten. Längsschnittstudien zeigen, dass Leute, die zwei Jahre keine Anforderungen im Lesen und Schreiben hatten, diese Fähigkeiten verlieren.

Stimmt das Klischee, dass diese Menschen von Hartz IV leben und den ganzen Tag vereinsamt vor dem Fernseher sitzen?

Grotlüschen Solche Bilder haben wir bis in die 2000er-Jahre gepflegt. Aktuelle Studien zeigen aber, dass wir es mit sozial integrierten Menschen zu tun haben. 54 Prozent sind verheiratet, dies entspricht dem generellen Wert in Deutschland. Die Beschäftigtenquote liegt unter dem deutschen Schnitt, doch immerhin 62 Prozent sind erwerbstätig. Aber die Gefahr, in die Grundsicherung abzurutschen, ist in dieser Gruppe höher.

Was kann man dagegen tun?

GrotlüschenDie Gratisplattform ich-will-lernen.de hat sich bewährt. Hier kann man online schreiben und rechnen lernen oder die Kenntnisse in den Schulfächern Deutsch, Mathe und Englisch verbessern. Ich war zunächst skeptisch, aber das Programm ist wirklich gut. In Hamburg bieten zudem alle Volkshochschulen Kurse für diese Klientel an.

Wenn man einmal Fahrradfahren gelernt hat, verlernt man es nie wieder. Wieso ist das beim Lesen und Schreiben anders?

KuhlDas Motorische ist stabiler, besser verankert im Gedächtnis. Fahrradfahren lernen wir weitestgehend unbewusst, während Lesen und Schreiben unsere bewusste Aufmerksamkeit erfordern. Dies sind unterschiedliche Arten des Lernens, die auch unterschiedliche Gehirnstrukturen benötigen.

Grotlüschen Das eigentliche Problem beim Lehren ist, dass wir vergessen haben, wie schwer es war, diese Kompetenz zu erwerben. Wenn Sie jemandem, der mit seinem Handy Probleme hat, sagen, er soll einfach „weiter“ drücken, setzen Sie voraus, dass die Person das nach rechts gerichtete Dreieck kennt. Die Person, die das nicht weiß, sucht stattdessen nach dem Wort „weiter“ auf der Tastatur und scheitert.

Was können wir tun, damit das Gehirn gesund bleibt?

Kuhl Meiden Sie Nikotin und Alkohol. Beide Stoffe hinterlassen Spuren im Gehirn. Reduzieren Sie Zucker, und achten Sie auf Ihr Gewicht. Durch Fettleibigkeit werden Botenstoffe produziert, die Entzündungen im Gehirn auslösen. Schlafen Sie ausreichend, während des Schlafs werden Gedächtnisspuren gefestigt. Und vor allem: Bewegen Sie sich. Durch das Laufen können sogar neue Gehirnzellen entstehen.

Wie ist es mit der Weiterbildung in Deutschland bestellt?

Grotlüschen In Deutschland werden jedes Jahr 27 Milliarden Euro in berufliche Weiterbildung investiert. 20 Milliarden durch die Betriebe, sieben Milliarden durch die öffentliche Hand, in erster Linie finanziert durch das Arbeitsamt. Das klingt viel, ist aber verglichen mit den Steigerungsraten in anderen Bildungsbereichen wenig. Allein in der frühkindlichen Bildung stiegen die Ausgaben in den vergangenen 20 Jahren um 150 Prozent, in der Erwachsenenbildung nur um 4,8 Prozent. Diese Fehlentwicklung wird uns einholen, denn die Digitalisierung wartet nicht darauf, bis die nächste Generation perfekt ausgebildet ist.

Dennoch muss man das Engagement der Betriebe anerkennen.

Grotlüschen: Ja, das stimmt, im Schnitt macht jeder zweite Erwachsene im Jahr eine Weiterbildung. Aber die Betriebe investieren vor allem in die Führungskräfte. Von Inklusion kann keine Rede sein. Dies gilt auch für Maßnahmen des Arbeitsamtes. Ausgerechnet Langzeitarbeitslose profitieren kaum davon. Dabei ist das die Klientel, die eine intensive Weiterbildung bräuchte, um wieder erfolgreich in den Arbeitsmarkt einbiegen zu können. Angesichts des grassierenden Fachkräftemangels können wir uns das gesellschaftlich gar nicht erlauben.

Sollte Lernen eigentlich Spaß machen?

Kuhl Grundsätzlich lernen wir besser, wenn es um Lerninhalte geht, die uns interessieren. Wenn wir mit Freude an das Lernen herangehen, wird zur Belohnung Dopamin ausgeschüttet, das ist sehr hilfreich. Die Informationen werden besser abgespeichert und bleiben im Gedächtnis. Unsere stärksten Gedächtnisspuren sind die, die emotional belegt sind.

Grotlüschen Wichtig ist, dass die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden stimmt. In einer Gruppe, die angstfrei und mit Freude lernt, ist der Lernerfolg größer.

Die Experten

Anke Grotlüschen, Professorin für Lebenslanges Lernen, lehrt seit 2008 im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Uni Hamburg. Zuvor war sie in Bremen am Institut für Erwachsenen-Bildungsforschung tätig. Grotlüschen ist Sprecherin des wissenschaftlichen Beirats der Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung und leitet die Level-One Studie zu geringer Lesekompetenz bei Erwachsenen.

Dietmar Kuhl, Professor für Neurowissenschaften, leitet das Institut für Molekulare und Zelluläre Kognition im Zentrum für Molekulare Neurobiologie am UKE. In den 1980er- und 1990er-Jahren forschte er an der Columbia Universität in New York im Labor des Nobelpreisträgers Eric Kandel. Bevor er nach Hamburg kam, hatte er den Lehrstuhl für Biochemie und Neurobiologie an der Freien Universität in Berlin inne. Kürzlich wurden Kuhl und Dr. Ora Ohana für ihre bahnbrechenden Arbeiten zu Lernen und Gedächtnis mit einem Forschungspreis von 1,3 Millionen Euro von der Schaller-Nikolich-Stiftung ausgezeichnet.