Wie Lehrer das Beste aus ihren Schülern herausholen können und wie wichtig Strukturen einer Schule und die Klassengröße sind.
Das neue Schuljahr hat begonnen: Gut 170.000 Hamburger Schülerinnen und Schüler drücken seit Donnerstag wieder die Schulbank; für rund 15.400 Erstklässler und 14.300 Fünftklässler beginnt der neue Lebensabschnitt in den kommenden Tagen. Ein guter Anlass, um mit zwei Experten, der Erziehungswissenschaftlerin Prof. Julia Gerick und dem Volkswirt Prof. Jan Marcus, darüber zu sprechen, was eigentlich gute Schule ausmacht – also eine Schule, die das Potenzial ihrer Schüler am besten zur Entfaltung bringt. Wie wichtig sind die Strukturen, welche Rolle spielt der Lehrer? Und hat die Klassengröße Einfluss darauf, ob Unterricht erfolgreich ist?
Wie gut sind die Schulen fast 20 Jahre nach dem Pisa-Schock?
Prof. Julia Gerick: Das kommt darauf an, was man unter guter Schule versteht. Im internationalen Vergleich werden oft Lesekompetenz, mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenzen der Schüler betrachtet – und da hat sich in der Zwischenzeit schon einiges verbessert. Aber es bleibt noch viel zu tun, gerade bei der Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft.
Was macht denn gute Schule aus?
Prof. Jan Marcus: Eine gute Schule ermöglicht den Schülern eine umfassende Teilhabe im späteren Leben. Das bedeutet, dass sie essenzielle Fähigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen erwerben und ein gutes Verständnis für Natur und Technik entwickeln, aber auch für die Gesellschaft. Zusätzlich soll Schule die Schüler dabei unterstützen, dass sie zu selbstständig denkenden Persönlichkeiten heranwachsen. Schließlich soll sie möglichst soziale Ungleichheiten abmildern – die Herausforderungen sind also vielfältig.
Was ist entscheidend für gute Schule? Die Struktur? Der Unterricht? Der Lehrer?
Gerick: Das ist ein Zusammenspiel. Aus der Schulqualitätsforschung wissen wir, dass insbesondere die Schulen erfolgreich sind, die eine klare pädagogische Konzeption haben, in denen die Lehrer eng miteinander zusammenarbeiten und es eine gute Schulleitung gibt.
Marcus: Es stimmt: Die Akteure vor Ort sind ganz entscheidend. Für mich funktioniert eine gute Schule idealerweise so, dass sie von der Behörde klare Vorgaben bekommt, was erreicht werden muss, zugleich aber viel Freiheit bei der Frage, wie sie die Ziele erreicht. Was bei einer gegebenen Schülerschaft am besten funktioniert, weiß die Schule, wissen die jeweiligen Lehrer am besten. Am Ende muss dann sehr genau überprüft werden, was die Schüler dazugelernt haben. Aufgabe der empirischen Bildungsforschung ist es, den Lehrern zurückzuspiegeln, welche Methoden und Techniken gut funktionieren.
Diskutiert wird meist vor allem über die Struktur – also eine längere gemeinsame Schulzeit oder aber die Schulzeitverkürzung am Gymnasium.
Marcus: Deutschland hat im internationalen Vergleich nur eine recht kurze Phase, in der alle Schüler gemeinsam lernen. Viele Studien zeigen, dass sie eigentlich zu kurz ist, weil insbesondere leistungsschwächere Schüler durch die frühe Aufteilung auf verschiedene Schultypen benachteiligt werden. In Hamburg wurde ein wichtiger Schritt unternommen, Haupt- und Realschulen zu Stadtteilschulen zusammenzuführen, die auch zum Abitur führen können. Ich fand es schade, dass die Pläne für eine längere Primarschule in der Stadt durch den Volksentscheid verhindert wurden.
Gerick: Das sehe ich auch so: Die frühe Trennung manifestiert und reproduziert die soziale Ungleichheit.
In der Tat ist ein Schwachpunkt des deutschen Bildungssystems, dass der Bildungserfolg offenbar stärker als in anderen Ländern vom sozialen Hintergrund abhängt. Da ist man nicht so richtig vorangekommen, oder?
Gerick: Das stimmt. Ein bisschen was hat sich zwar schon getan, aber wir können uns auf keinen Fall zufrieden zurücklehnen.
Marcus: Neben dem längeren gemeinsamen Lernen helfen besonders Ganztagsangebote, Kinder aus eher bildungsfernen Familien zu fördern, weil der Einfluss des Elternhauses ein stückweit zurückgedrängt wird. Da ist Hamburg schon recht weit. Es dauert aber im Schulwesen immer eine Weile, bis Erfolge sichtbar werden. Deshalb ist das häufige „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“, wie es in einigen Bundesländern zu beobachten ist, gefährlich. Schulische Reformen brauchen Zeit, um ihre Wirkung zu entfalten, und die Schulen eine gewisse Ruhe, damit sie gut arbeiten können.
Da wären wir bei G 8 an Gymnasien und der Diskussion um die Rückkehr zu G 9.
Marcus: Ich finde es gut, dass die Politik in Hamburg standhaft geblieben ist und an G 8 an Gymnasien festhält. Leistungsmäßig ist der Unterschied zwischen G-8- und G-9-Abiturienten ohnehin nicht besonders groß. In der neunten Klasse haben die G-8-Schüler einen leichten Vorteil, am Ende schneiden die G-9-Schüler ein wenig besser bei den Abiturnoten und Kompetenzmessungen ab. Das zeigen Studien unter anderem in Baden-Württemberg sowie Vergleiche der Abiturnoten. Die Unterschiede sind aber klein und man muss berücksichtigen, dass die G-8-Abiturienten ein Jahr jünger sind. Alles in allem gibt es keine wissenschaftlichen Ergebnisse, die begründen würden, warum man zu G 9 zurückkehren müsste. Dagegen steht das gewonnene Jahr der jüngeren Abiturienten, das die Rushhour des Lebens etwas entzerrt.
Allerdings ist die Schulzeit an sich stressiger. Und sehr viele Abiturienten machen nach ihrem Abschluss erst einmal ein Jahr etwas anderes – Praktika, Jobben, Auslandsaufenthalte oder einfach nur Pause.
Marcus: Das muss ja nicht schlecht sein, vor allem für die Persönlichkeitsentfaltung.
Gerick: Andererseits nehmen viele Schüler und auch Eltern den Stressfaktor in der verkürzten Schulzeit schon durchaus wahr. Das ist ein Wettbewerbsvorteil für die Stadtteilschulen, die den Jugendlichen ein Jahr mehr Zeit geben. Ganz interessant sind übrigens Überlegungen in einigen Bundesländern, die zu G 9 zurückkehren, das zusätzliche Jahr anders zu nutzen als früher – vielleicht in Form von projektförmigem Lernen.
Also unterm Strich: Wie bedeutsam sind schulische Strukturen für gute Schule?
Marcus: Strukturen sind wichtig, aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht nur über Strukturen diskutieren. Das ist eine Stellschraube, an der Politiker am leichtesten drehen können. Dabei wird manchmal übersehen, wie wichtig die Akteure sind – also die Lehrer, die Schulleitungen und auch die Eltern.
Die Eltern?
Gerick: Ein positives Lernklima in der Familie ist von großem Vorteil. Sozial schwächere Eltern, die aufgrund ihrer eigenen Biografie nicht so nah dran sind an Bildung, stärker hereinzuholen in das Thema Schule, ist deshalb ganz wichtig. In Hamburg bildet beispielsweise das Projekt Schulmentoren Mütter und Väter zu Mentoren aus, die anderen Eltern unter anderem das deutsche Schulsystem näherbringen.
Welche Rolle spielt die Größe der Klassen für gute Schule?
Marcus: Die sollte man nicht überbewerten. Natürlich: Wenn 40 oder 50 Schüler in einer Klasse sitzen, ist es extrem schwer, guten Unterricht zu machen. Man muss auch bedenken: Die Klassengrößen zu senken ist extrem kostspielig. Ich finde: Man könnte Schulen bestimmte Mittel zuweisen und ihnen im Sinne der Autonomie dann selbst die Entscheidung überlassen, ob sie lieber in kleinere Klassen investieren oder in andere Maßnahmen.
Gerick Die Forschung zeigt, dass vor allem Schüler aus bildungsferneren Elternhäusern von kleineren Klassen durchaus profitieren können. Wenn sich zunehmend Unterrichtskonzepte durchsetzen, die auf jahrgangsübergreifendes Lernen, Projektarbeit in kleinen Teams oder selbst gesteuertes Lernen in Lernwerkstätten in kleinen Teams setzen, werden die klassischen Klassen aber möglicherweise ohnehin nicht mehr die entscheidende Rolle spielen.
Braucht gute Schule einen Kanon von Wissen – neben Stärkung von Kompetenzen?
Marcus: Für mich ist das eine ohne das andere kaum denkbar, insbesondere in klassischen Fächern wie Mathematik, Naturwissenschaften oder bei der Rechtschreibung. Das müssen Schüler am Ende sehr gut beherrschen. In der Vergangenheit gab es eine Tendenz, dass Rechtschreibung in der Schule immer weniger wichtig wurde – und das halte ich für falsch.
Und welche Rolle spielen Noten für gute Schule?
Marcus: Leistung muss am Ende messbar sein, deshalb muss es irgendeine Art der Benotung geben, vielleicht nicht in den ersten Schuljahren – aber als kontinuierliches Feedback im Laufe der Schulzeit.
Gerick: Leistungsbewertung hat zwei Funktionen, die beide ihre Berechtigung haben: Sie gibt dem Schüler eine Rückmeldung, stellt aber auch eine Vergleichbarkeit her und erfüllt so eine Selektionsfunktion. Wichtig ist, eine Note in eine umfassendere Rückmeldung einzubetten – sei es in einem Gespräch mit Eltern und Schüler oder mithilfe eines Kompetenzrasters. Man muss zudem in einer Schule beständig im Austausch bleiben über die Kriterien, die der Notengebung zugrunde liegen, nicht zuletzt auch, um ihre Akzeptanz zu erhöhen.
Marcus: Die Funktion von Noten ist nicht zu unterschätzen: Die Abiturnote ist der beste Prädiktor für Studienerfolg. Kein anderes Merkmal sagt Studienerfolg so gut vorher. Je besser die Note, desto größer die Wahrscheinlichkeit, das Studium erfolgreich abzuschließen.
Dabei gibt es doch immer wieder Geschichten über Schulversager, die später total erfolgreich sind. Von Albert Einstein sagt man das beispielsweise.
Gerick: In dem Fall handelt es sich offenbar teils um ein Missverständnis. Einstein hatte in seinem Abiturzeugnis eine Sechs in Physik. Das war aber in der Schweiz, dort gab es eine andere Bewertungsskala. Eine Sechs entsprach also einem „Sehr gut“.
Zum Schluss: Wie erkennen Eltern, die auf der Suche nach einer geeigneten Einrichtung für ihre Kinder sind, eine gute Schule?
Marcus: Ideal wäre es im Sinne der Transparenz, wenn eine zentrale Stelle im jeweiligen Bundesland die Informationen bereitstellen würde, welche Schulen den größten Mehrwert für Schüler bieten. Dazu müsste man die Kompetenzen einmal vor dem Schuleintritt testen und dann in Vergleichsarbeiten immer wieder im Verlauf der Schulzeit. Das gäbe dann Auskunft darüber, wie sehr es eine Schule schafft, die Kompetenzen ihrer Schüler zu verbessern – und das ist ja entscheidend. Querschnittsvergleiche hingegen zeigen nur, an welchen Schulen viele gute Schüler und wo viele schlechte Schüler sind. Ausschlaggebend für gute Schule ist aber, wie sehr sie es vermag, aus dem Potenzial ihrer Schüler das meiste herauszuholen.
Gerick: Meine Antwort wäre: Das hängt auch davon ab, was für die jeweiligen Eltern die Merkmale einer guten Schule sind. Leistung und Kompetenzförderung sind sicherlich zentrale Aspekte, aber es können auch die fachlichen Schwerpunkte einer Schule sein, besondere Unterrichtskonzepte oder auch die Wohnortnähe und Ganztagsangebote. Schulinspektionsberichte geben einen ganz guten Einblick. Wichtig ist, gerade auch bildungsferne Eltern mit den Informationen über die Schulen zu erreichen.
Marcus Und Eltern sollten nicht nur nach Äußerlichkeiten schauen – also wie modern die Gebäude sind und ob das Schulgelände sauber ist –, sondern dahinterblicken.
Die Forscher
Prof. Dr. Jan Marcus ist Juniorprofessor für Volkswirtschaftslehre und beschäftigt sich im Rahmen der Ökonometrie, also Statistik in den Wirtschaftswissenschaften, intensiv mit Bildungsforschung. Eines seiner Themen ist die Evaluation der G8-Reform an Gymnasien. Marcus stammt aus einer Lehrerfamilie.
Prof. Dr. Julia Gerick ist Juniorprofessorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Schulentwicklungsforschung an der Universität Hamburg. Sie befasst sich insbesondere mit empirischer Schulforschung.