Hamburg. Ties Rabe über Verdichtung, Folgen des Schülerzuwachses, Hausaufgaben-Regeln, bundesweites Abi und Lehrer-Quereinsteiger.
Seinen (verregneten) Sommerurlaub hat Schulsenator Ties Rabe (SPD) hinter sich, in zehn Tagen beginnt das neue Schuljahr. Im Abendblatt-Interview macht der dienstälteste Bildungsminister in Deutschland (seit 2011) aus seiner Enttäuschung über die langsamen Schritte zu einem bundesweit vergleichbareren Abitur keinen Hehl. Rabe sagt, wie Hamburg das Schülerwachstum um 25 Prozent bis zum 2030 bewältigen will, und kündigt an, dass alle Zeugniskonferenzen künftig frühestens zwei Wochen vor den Sommerferien stattfinden dürfen und es weniger Leerlauf gibt.
Ist das bundesweite Abitur, das Sie entscheidend mit auf den Weg gebracht haben, gescheitert?
Ties Rabe Ich finde, wir kommen zu langsam voran, und in diesem Jahr hat es eher Rückschritte als Fortschritte gegeben. Das Abitur muss bundesweit vergleichbarer werden. Wir haben den bundeseinheitlichen Aufgabenpool für alle Länder eingeführt, den ich ja 2012 maßgeblich mit angeschoben habe. Das ist ein erster Schritt, aber es darf nicht der letzte sein.
Worum muss es jetzt in den Gesprächen auf Kultusministerebene gehen?
Wir müssen dahin kommen, dass die Länder die bundeseinheitliche Aufgaben aus dem Pool nicht nachträglich verändern und möglichst viele dieser Aufgaben in ihren Abiturprüfungen einsetzen.
Wie viel?
Ich finde, dass 50 Prozent für den Anfang nicht schlecht wären. Bislang macht jedes Land, was es will. Nur ein einziges Land, Hamburg in Mathematik, übernimmt alle bundeseinheitlichen Aufgaben. Und es gibt Länder, die null Prozent übernehmen und ausschließlich mit eigenen Prüfungsaufgaben arbeiten.
Ist es nicht so, dass Länderegoismen und die Kultushoheit mehr Vergleichbarkeit in den Prüfungen entgegenstehen?
Wir haben im Moment politisch und in der öffentlichen Debatte eine absurde Situation. Einerseits gibt es eine Reihe von Ländern, die im Grunde nichts ändern wollen, und andererseits bundesweite Initiativen für ein noch weitergehendes Zentralabitur. Man kann den Eindruck haben, dass sich die Radikalen aller Länder in schöner Gegensätzlichkeit vereinigen. Ich plädiere dafür, verbal abzurüsten und zu handeln, statt Extrempositionen zu beziehen. Das Abitur muss vergleichbarer werden. Davon müssen wir einige Länder noch überzeugen. Ich bin trotzdem nicht so pessimistisch.
Von einem richtigen Zentralabitur halten Sie nichts?
Keiner weiß, was diejenigen genau meinen, die immer vom Zentralabitur reden. Ein Drittel der Gesamtnote wird zurzeit durch die Abiturprüfungen erbracht, zwei Drittel durch die Leistungen in den Kursen der zweijährigen Oberstufe. Wer nun meint, es sollte ausschließlich eine einzige zentrale Prüfung am Ende von zwölf oder 13 Schuljahren geben, die über das ganze Leben und die gesamte Schulzeit entscheidet, der findet auch meine Unterstützung nicht. Ich finde es richtig, dass ein großer Teil der Abiturnote aus den Kursnoten und der ständigen Mitarbeit im Unterricht besteht. Deshalb müssen nicht nur die Prüfungen, sondern auch die Oberstufen in den Bundesländern ähnlicher werden.
Was meinen Sie genau?
Ein Land sagt, man muss zwei Mathematikkurse in die Abiturnote einbringen, das nächste verlangt vier. Eins sagt, man muss insgesamt 32 Kurse in die Abiturwertung einbringen, das andere verlangt 40. Diesen Unsinn müssen wir ordnen. Hier geht es nicht um legitimen Föderalismus oder regionale Prägungen. Der Motor solcher Unterschiede ist überwiegend der Eigensinn der Kultusbürokratie in den Ländern. Der Streit, ob nun 33, 36 oder 40 Kurse gewertet werden, ist eigentlich eine Lappalie, ich wäre zu jeder Einigung bereit. Wichtig ist zudem, dass wir endlich genauer regeln, welche Kurse im Abitur gewertet werden sollen. Letzteres ist viel entscheidender als die Gesamtzahl. Also: Wie viele Mathe-, Deutsch- und Englischkurse müssen alle Schüler in das Abitur einbringen und auf welchem Niveau? Wir bewegen uns an dieser Stelle zurzeit eher wie eine Schnecke.
Laut Bevölkerungsprognose wird die Zahl der Schüler in Hamburg bis 2030 um 40.000 wachsen – das sind 25 Prozent mehr. An vielen Schulen wird es enger werden. Die Proteste gegen Ihren Schulentwicklungsplan nehmen zu. Steht Ihnen ein heißer Herbst bevor?
Nein, ganz und gar nicht. Es wird nämlich nicht enger an den Schulen. Wir haben versprochen, dass wir die Schulen ausbauen. Wenn wir neue Klassen einrichten, werden wir die Schulgebäude erweitern. Die neuen zusätzlichen Klassenräume bieten sogar mehr Platz als die alten. Die Stellungnahmen der Schulen zum Schulentwicklungsplan trudeln jetzt ein. Erste Sichtungen zeigen, dass deshalb viele, viele Schulen begrüßen, größer zu werden. Ja, einige Schulen beklagen sogar, dass sie nicht größer werden sollen. Nur im Kerngebiet Altona wollen mehrere Schulen tatsächlich nicht größer werden, das stimmt.
Auch sehr große Schuleinheiten stoßen auf Widerstand. Können Sie Eltern verstehen, die eine erhebliche Vergrößerung ablehnen?
Ich habe Verständnis dafür, dass Eltern kritische Fragen stellen. Die Max-Brauer-Schule in Altona zum Beispiel könnte vermutlich mit 1800 Schülern die größte Hamburger Schule werden, wenn wir sie, wie geplant, erweitern. Aber es gibt schon jetzt mehrere sehr große Schulen mit fast 1700 Schülern, die bei Eltern und Kindern sehr beliebt sind. Es geht also weniger um die Größe als um die Frage, ob es sich um eine gute Schule handelt. Im Übrigen: Wo es geht, planen wir neue Schulen, insgesamt fast 40. Das ist ein ausgesprochen großer Kraftakt, wie es ihn in Hamburg noch nie gegeben hat.
An den Klassengrößen wird nicht gerüttelt?
Kleine Klassen sind die Grundlage unseres Schulentwicklungsplans. Wenn wir vier oder fünf Kinder zusätzlich in die Klassen stecken würden, müssten wir fast nicht bauen, um den Schülerzuwachs unterzubringen. Aber genau das wollen wir nicht. Wir wollen die kleinen Klassen beibehalten. Das heißt, viel Geld zu investieren. Wir rechnen mit vier Milliarden Euro Baukosten. Und sicherlich viel Geld für zusätzliche Lehrer, die wir ja auch brauchen. Das wird ein großer Kraftakt, aber wir wollen die hohe Qualität des Hamburger Schulsystems erhalten und ausbauen.
Die vorhandene Fläche ist das eine. Wo ist für Sie die Höchstgrenze für eine pädagogisch sinnvolle Schule?
Es gibt kleine und große Schulen, die hervorragend funktionieren, und andere, die überhaupt nicht gut funktionieren. In Hamburg sollte eine Grundschule fünf, höchstens sechs Parallelklassen haben. Nur im äußersten Ausnahmefall sollte das überschritten werden. Und eine weiterführende Schule sollte maximal sieben Parallelklassen haben. Nur im Ausnahmefall kann auch das überschritten werden. Lediglich bei einer Handvoll Schulen werden diese Obergrenzen aus regionalen Gründen überschritten. Aber wir dürfen nicht vergessen: Große Schulen bieten auch Vorteile, etwa beim Vertretungsunterricht, weil sie flexibler sind. Eine große Schule verfügt auch über mehr Know-how. Wenn es sieben Mathematiklehrer gibt, dann sind darunter ein, zwei Leistungsträger, die man so an kleinen Schulen nicht hat.
Und wer soll die 40.000 zusätzlichen Schüler bis 2030 unterrichten?
Wir rechnen mit einem Mehrbedarf von bis zu 3000 Lehrern. Das wird sicherlich schwierig. Zum einen kostet es viel Geld – rund eine Viertel Milliarde Euro jährlich zusätzlich. Zum anderen müssen wir die Lehrer ja auch finden. Wir erhöhen jetzt die Zahl der Referendariatsplätze um 40 Prozent auf über 800 pro Jahr. Und wir sind in Gesprächen mit der Universität und der Wissenschaftsbehörde, um die Ausbildungskapazitäten an der Universität zu erhöhen.
Um wie viel?
Wir wollen, dass so viele künftige Lehrer an der Uni ihr Studium beenden, dass wir nicht auf auswärtige Bewerber zurückgreifen müssen. Im Moment machen rund 700 Lehramtsstudenten pro Jahr Examen. Diese Diskrepanz müssen wir erörtern.
Muss nicht auch der Lehrerberuf attraktiver gemacht werden?
Ja, deswegen erörtern wir in Senat und Bürgerschaft, ob wir die Gehälter der Grundschullehrkräfte auf dieselbe Besoldungsstufe wie die der Gymnasiallehrer erhöhen. Einige Länder sind diesen Schritt jetzt gegangen. Das kostet allerdings zwischen 30 und 40 Millionen Euro pro Jahr.
Warum zögern Sie? Die Diskussion läuft ja schon seit Jahren.
Weil wir wert auf seriöse Finanzen legen. Anders als die meisten anderen Bundesländer haben wir die Investitionen für bessere Bildung in den letzten Jahren bereits dramatisch gesteigert. Wir investieren jedes Jahr allein fast 400 Millionen Euro für den Schulbau, vor zehn Jahren waren es gerade mal 155 Millionen. Hinzu kommen mehr Lehrkräfte für die kleineren Klassen: Wir haben heute zehn Prozent mehr Schüler als bei meinem Amtsantritt, aber 30 Prozent mehr Pädagogen an den Schulen. Das haben die meisten anderen Länder nicht gemacht. Trotzdem bin ich in Bezug auf höhere Grundschulgehälter optimistisch. Es wäre nur allzu gerecht. Das Studium dauert genauso lang, der Beruf des Grundschullehrers ist genauso viel wert. Es ist eigentlich nicht zu begründen, dass es unterschiedliche Gehälter gibt.
Die Hattie-Metastudie hat vor wenigen Jahren gezeigt, dass es für gute Schule maßgeblich auf den Lehrer ankommt. Nun aber ist das Schulwesen darauf angewiesen, pädagogisch nicht voll ausgebildete Quereinsteiger als Lehrer einzustellen. Kann die Qualität von Schule darunter leiden?
Jein. Die Hattie-Studie zeigt auch, dass die fachliche Stärke von Lehrern eine große Rolle spielt; sie ist ebenso wichtig wie pädagogische Fähigkeiten. Wenn ein Diplom-Physiker, der nebenbei auch Mathematik studiert hat, zum Lehrer umgeschult wird, können die Schüler davon sehr profitieren. Vor allem aber: Kein Mensch ist fertig. Wenn jemand Pädagogik nicht während des Studiums studiert hat, kann er das im Rahmen des Referendariats mit zusätzlichen Schulungen kompensieren. Deshalb bin ich überzeugt, dass ein Quereinsteigerprogramm viele Menschen ansprechen kann, die die richtige Haltung und die richtigen Voraussetzungen mitbringen, auch wenn sie kein Lehramtsstudium absolviert haben. Zurzeit kommen wir allerdings noch ohne Quereinsteiger aus.
Vor einem Jahr haben Sie mehr Schulaufgaben für Schüler vor allem in den Stadtteilen gefordert, in denen die Eltern ihren Kindern wenig Unterstützung bieten können. Was ist daraus geworden?
Wir haben die turnusmäßige Begehung aller Grundschulen genutzt, um die Hausaufgabensituation anzusehen. Dieses Bild werten wir aus, bevor wir klare Regeln erlassen. Es zeichnet sich aber ab: Die allermeisten Schulen halten zusätzliche Lernaufgaben, die nicht im Kernunterricht erledigt werden, für vernünftig. Die allermeisten Schulen finden es zudem richtig, dass diese Aufgaben von Schülern im Ganztag bearbeitet werden können – die Schüler sie also möglichst nicht zu Hause erledigen müssen. Auf Grundlage dieses Meinungsbildes bereiten wir jetzt eine Regelung zu den Schulaufgaben vor. Ich bin weiter überzeugt: Die reine Unterrichtszeit reicht nicht aus, damit unsere Kinder gut lernen. Kinder müssen auch die Fähigkeit erwerben, Lernprozesse selbstständig zu gestalten, und sich die Mühe machen, Dinge zu üben und zu wiederholen. Gute Schulaufgaben verbessern das Lernen.
Immer wieder stößt die Organisation des Schuljahresendes auf Kritik. In den letzten Wochen findet in vielen Klassen kaum mehr Unterricht statt. Sie wollten die Probleme mit den Schulen erörtern ...
Das haben wir getan und entschieden, dass die Zeugniskonferenzen später stattfinden sollen. Die neue Regelung sieht vor, dass alle Zeugniskonferenzen frühestens zwei Wochen vor Schuljahresende stattfinden dürfen, mit Ausnahme von Klasse 6 und 10 – wegen der eventuellen Schulwechsel, die nach diesen Zeugniskonferenzen anstehen, also der möglichen Abschulung vom Gymnasium und dem Übertritt in die Oberstufe. Die Zeugniskonferenzen markieren an vielen Schulen gewissermaßen den Endpunkt eines Schuljahres. Die Neuregelung bietet die Gewähr, dass bis zwei Wochen vor Ferienstart noch voll Unterricht läuft.
Ab wann gilt die Neuregelung?
Sie wird bereits vom kommenden Schuljahr 2019/20 an verbindlich gelten.
Machen Sie nach der Bürgerschaftswahl weiter, wenn das Ergebnis es hergibt?
Wenn der Wähler, wenn die Partei und der Bürgermeister es wollen, mache ich gern weiter. Es ist noch viel zu tun.