Hamburg. Wie verändern sich die Innenstädte? Was muss die Politik machen? Zukunftsforum vom Abendblatt und Stiftung für Zukunftsfragen.
Mehr Handel geht nicht – keine zweite Stadt in der Bundesrepublik ist so vom Außen-, Groß- und Einzelhandel abhängig wie die Hansestadt. 31.564 Handelsunternehmen mit mehr als 140.000 Beschäftigten zählt die Hamburger Handelskammer. Dieses besondere Gewicht ist sogar Teil der Hamburgischen Verfassung: „Die Freie und Hansestadt Hamburg hat als Welthafenstadt eine ihr durch Geschichte und Lage zugewiesene, besondere Aufgabe gegenüber dem deutschen Volke zu erfüllen“, heißt es da. Die Aufgabe lautet: Handel treiben.
Es sind diese Handelsplätze, ob Hafen, Fischmarkt, Fleischgroßmarkt oder Großmarkt, die zu identitätsstiftenden Orten der Stadt geworden sind. Im Rahmen des dritten Zukunftsforums der BAT Stiftung für Zukunftsfragen und des Hamburger Abendblatts diskutierten zehn Experten die Lage in dieser Kernbranche.
Betont optimistisch trotz wachsender Handelskonflikte zeigte sich Wirtschaftssenator Michael Westhagemann. „Die Situation in Hamburg ist gut: Mit 6,1 Prozent haben wir die niedrigste Arbeitslosenquote seit 24 Jahren“, sagte der parteilose Senator. Die jüngsten Nachrichten vom Handelsabkommen mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten und von einer möglichen Entspannung im Konflikt zwischen den USA und China stimmten ihn zuversichtlich. Allerdings gelte es, die weltweiten Warenströme genauer in den Blick zu nehmen. Europa müsse eine Antwort auf die klare und langfristige Strategie Chinas finden, das mit der Seidenstraße seinen Einflussbereich ausbauen wolle. „Das ist gerade für unseren Hafen bedeutsam.“
Neue Märkte schaffen
Marcus Weinberg, der designierte CDU-Spitzenkandidat, stimmte dem Senator in diesem Punkt zu und warb um mehr Engagement der Deutschen in ausländischen Märkten: „Die Chinesen investieren immer intensiver in den Mercosur-Staaten. Dabei haben gerade diese Länder ein großes Interesse an einem Austausch mit Deutschland über Hamburg.“
Deutlich verhaltener schätzt Gunther Bonz, Präsident des Unternehmensverbandes Hafen Hamburg, die Konjunkturlage ein. „Ich befürchte, dass sich auch noch im Herbst die Abschwungphase fortsetzt“, sagte er. Erst kürzlich hat die Welthandelsorganisation das Wachstum des Welthandels deutlich herabgesetzt: Das Wachstum, so die WTO, werde in diesem Jahr nur noch bei 2,6 statt 3,7 Prozent liegen. Europa ist längst kein Wachstumszentrum mehr. Bonz verweist auf den schwindenden Einfluss des Kontinents: „Wir haben strukturelle Veränderungen im Handelsaustausch.“ Seit 2013 werden mehr Güter innerhalb Asiens umgeschlagen als auf allen anderen Handelsrouten zusammen. „Wir müssen uns mit der Frage befassen, wie wir neue Märkte schaffen können.“
Ökonom Thomas Straubhaar sieht die Lage positiver als Bonz. Der gebürtige Schweizer hat mit „Die Stunde der Optimisten: So funktioniert die Wirtschaft der Zukunft“ ein Buch über die Chancen des Wandels geschrieben: „Wir erleben eine Zeitenwende: Datenströme ersetzen den Warenhandel“, sagte der Volkswirt. Es müsse für Deutschland darum gehen, die Chancen neuer Technologien zu nutzen und lokale Märkte für lokale Anbieter zu schaffen. „Wir sind kreativ, wir sind innovativ“, sagt Straubhaar. „Und in der Klimadebatte liegt auch eine Chance, Pionier für umweltfreundliche Lösungen zu werden.“
Einkaufszentren als Begegnungsstätten
Es dauerte nicht lange, und die Diskussion kreiste um die schwierige Situation im Einzelhandel. Professor Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen präsentierte seine aktuellen Umfragedaten: „Fast zwei Drittel der Bevölkerung finden es schade, dass Geschäfte schließen müssen, kaufen aber selbst häufig im Internet ein, weil es dort günstiger und bequemer ist.“ Diese Haltung hat Folgen: Der Handelsverband Deutschland befürchtet, dass bis 2020 rund 50.000 Standorte deutschlandweit vom Markt verschwinden. Damit verschwänden zehn Prozent des derzeitigen Angebots. Es droht gar eine Abwärtsspirale – eine Untersuchung des Verbands betrachtet das Jahr 2021 als kritischen Kipppunkt.
„Der Innovationsdruck ist enorm“, sagte André Mücke, Vizepräses der Handelskammer, und verwies darauf, dass ein Großteil der Einzelhändler Kleinunternehmer mit weniger als drei Beschäftigten sind. „Der Einzelhandel muss überlegen, welche Chancen in der Digitalisierung stecken. Viele hinken noch hinterher.“
Auf der anderen Seite werden die Multis immer stärker. Für Amazon ist Deutschland der zweitwichtigste Markt. Fast die Hälfte des Onlinehandels entfällt allein auf Amazon, wobei der Konzern auch erfolgreich als Betreiber von Marktplätzen agiert. Und nun drängt mit dem chinesischen Anbieter Alibaba ein weiterer Konzern nach Europa.
Textileinzelhandel vor strukturellen Brüchen
Zehn Prozent des Umsatzes werden derzeit online abgewickelt, Tendenz steigend. Gerade der traditionell starke Textileinzelhandel steht vor strukturellen Brüchen, weil hier der Online-Anteil schon rund 25 Prozent betrage. „Gerade diese Anbieter prägen aber den Handel in den Innenstädten und Zentren“, sagt Brigitte Nolte, Geschäftsführerin Handelsverband Nord. „Digitalisierung fördert außerdem die Konzentration“, stellte sie klar. Die Umsätze verlagerten sich, zugleich gerieten die Margen deutlich unter Druck.
Angesichts der Marktlage hält auch Joanna Fisher von der ECE Projektmanagement, das Dutzende Einkaufszentren entwickelt hat und betreibt, die Neuentwicklung von Shoppingcenter-Flächen für nicht mehr relevant. „Da sind die Grenzen des Wachstums langsam erreicht.“ Vielmehr verstehe man die Einkaufszentren als lebende Hüllen und urbane Marktplätze, die sich stets verändern und den sich wandelnden Bedürfnissen des Marktes anpassen.
Eine Umfrage der BAT-Stiftung brachte jüngst das Ergebnis, dass 85 Prozent der Befragten der Aussage zustimmen, dass es Shoppingcenter auch in den nächsten 20 Jahren geben solle. Konsumenten sehen sie „als unverzichtbaren Ort zum Einkaufen sowie zur Begegnung und Inspiration.“ Prof. Reinhardt glaubt hier an ganz neue Funktionen, die Einkaufszentren in Zukunft übernehmen können: „Vielleicht werden sie in einer Gesellschaft der Singles auch zu Begegnungsstätten oder Orten der Kultur?“
Umweltgedanken und soziale Frage mitdenken
Mattias Weser vom Hamburger Start-up Kushel, der nach Selbstbeschreibung ersten „klima- und ressourcenpositiven Textilmarke der Welt“, erwägt, seine Handtücher zukünftig auch in einem eigenen Geschäft anzubieten. „Wir erleben derzeit, dass die Onlinemarken in den Innenstädten Läden eröffnen und die stationären Anbieter ins Netz drängen“, sagt Weser. Dabei könnte die ökologische Frage dem Einzelhandel in die Hände spielen.
Dietmar Kress von Greenpeace legte den Finger in die Wunde. Man müsse den Umweltgedanken und die soziale Frage stets mitdenken. „Leider werden die ökologischen Folgen oder Ungerechtigkeiten im Handel oft vernachlässigt.“ So würde Amazon beim Onlinehandel rund 30 Prozent der kompletten Retouren nicht wieder in den direkten Verkauf geben. Ein großer Teil davon wird vernichtet: „Das ist ein ökologischer Wahnsinn.“
Umstritten war, wie die Politik im Einzelhandel zumindest eine Chancengleichheit herstellen kann. „Wo zahlen die Internetkonzerne ihre Steuern?“, fragte der Wirtschaftssenator. „Und wie beteiligen wir sie an der Finanzierung der Infrastruktur, die diese Konzerne benötigen?“ Die Straßen bezahlt der Steuerzahler, die Netze die Telekommunikationsunternehmen – und die Handelsmultis wie Amazon rechnen als globale Konzerne ihre Steuern gen null. Tatsächlich partizipiert selbst in den USA der Fiskus kaum am Erfolg des Digitalkaufhauses: Im vergangenen Jahr hat der Internetmulti mehr als zehn Milliarden Dollar Gewinn erwirtschaftet – und muss dafür in den USA keinen einzigen Cent Bundeseinkommenssteuer zahlen.
Einzelhandel stärken
„Diese unfaire Konkurrenz treibt die Einzelhändler auf die Palme“, kritisiert André Mücke. „Der Hamburger Geschäftsmann zahlt ehrlich seine Steuern, die Internetkonkurrenz kommt fast steuerfrei davon.“ Der Staat müsse hier gegensteuern und Händler etwa wie in Bayern über einen Digitalbonus bewusst fördern, sagte der Vizepräses der Handelskammer. Und die Städte müssten attraktiver werden. „Da geht es um Basics: Sind die Straßen sauber, gibt es Toiletten, vernünftige Beleuchtung?“
Um den Einzelhandel zu stärken, fordert auch Marcus Weinberg vor allem eine zukunftsweisende Stadtentwicklung. „Die Innenstädte müssen attraktiver werden – da ist Kopenhagen durchaus ein Vorbild.“ Er erinnert an den Satz des Stadtplaners Jan Gehl, dass sich die Attraktivität einer Stadt daran messen lasse, wie viele Kinder und ältere Menschen auf den Straßen unterwegs sind. Der CDU-Politiker regt an, einzelne Straßenzüge der Innenstadt oder der Bezirkszentren in Absprache mit den Gewerbetreibenden vom Autoverkehr zumindest zeitweise zu befreien. Das stärke den stationären Handel. Doch auch das Planen von Boxen für Paketzusteller und die Möglichkeit der Belieferung dieser Boxen in der Nacht in den neuen Wohngebieten gehörten zu einer attraktiven Stadt dazu.
Weinberg: „Stadt muss zur Erlebniswelt werden“
Brigitte Nolte vom Handelsverband forderte in diesem Zusammenhang keine weitere Ausweitung der Einzelhandelsflächen, wie diese mit dem Überseezentrum in der HafenCity geplant sind: „Alleine in der Innenstadt bekommen wir in den kommenden Jahren mehr als 20 Prozent an Verkaufsflächen hinzu.“ Das Überseezentrum sei überdimensioniert, sie fürchte eine Kannibalisierung mit der Mönckebergstraße. „Einzelhandel bildet noch immer die Leitfunktion der Städte. Ich fürchte aber, in fünf bis zehn Jahren sieht die Stadt anders aus.“
Auch Joanna Fisher sieht das Überangebot kritisch und fordert, vor allem die vorhandenen Zentren zu stärken. In diese Kerbe schlägt auch Markus Weinberg: „Wir müssen über die Attraktivität kommen, die Stadt muss zur Erlebniswelt werden.“ Westhagemann verweist in diesem Zusammenhang auf die enormen Potenziale der Touristenströme. Schon heute ließen ausländische Gäste rund sechs Milliarden Euro in den Kassen der Einzelhändler und 600 Millionen Euro Steuern für die Stadt.
Geschäfte sollten Beratung der Kunden ausbauen
Gunther Bonz sieht nicht nur ein Problem auf die Innenstädte, sondern auch die Volkswirtschaft insgesamt zukommen. „Europa hat keine Strategie. Amazon und die chinesische Alibaba könnten mit ihren Daten das Geschäft in Zukunft beherrschen. Wo sind die europäischen Anbieter, außer vielleicht die Otto Group und Zalando?“ Seine Konsequenz aus der Steueroptimierung: „Aus dem Ausland gesteuerte datenbasierte Geschäfte dürfen nicht steuerfrei bleiben, es muss einen fairen Wettbewerb mit dem stationären Handel geben“, sagt Bonz und lobte ausdrücklich den Vorstoß von Bundesfinanzminister Olaf Scholz.
Heftiger Widerspruch kam in diesem Punkt vom Ökonomen Straubhaar: „Im Digitalen hinken wir meilenweit hinterher – und dann erfinden wir noch eine Digitalsteuer. Das ist Murks und wird nur das Gegenteil erreichen.“ Man müsse Amazon schlagen, indem man besser ist: In der Schweiz, so Straubhaar, bekomme Amazon kein Bein auf die Erde, weil Anbieter wie Migros sich längst mit ihren Kunden digital eng vernetzt und attraktive Angebote geschaffen hätten – wie bargeldloses Einkaufen oder digitale Geldbörsen, welche Kassen ersetzen könnten. „Wenn sie die Kassen abschaffen, können sich die Mitarbeiter wieder um die Kunden kümmern“, betont der Ökonom. Seine Aussage stützen Daten der Umfrage der Stiftung für Zukunftsfragen: 78 Prozent der Bundesbürger glauben, dass persönlicher Service in den kommenden Jahren eine größere Bedeutung gewinnt.
56 Projekte sollen Hamburg smarter machen
Einigkeit besteht darin, dass die Digitalisierung die Innenstädte und das Einkaufen attraktiver machen kann. Westhagemann versprach gleich 56 Projekte zum ITS-Weltkongress, die Hamburg smarter machen sollen: Wenn Autofahrer per App einen Parkplatz oder eine Ladestation buchen können und nicht länger suchen müssen, wenn digitalisierte Nahverkehrssysteme endlich Busse und Bahnen passgenau aufeinander abstimmen, wenn Innovationen das Einkaufen zum Erlebnis machen, hat der Einzelhandel jede Chance.
Und das ist für eine Handelsstadt wie Hamburg eine gute Nachricht.