Hamburg. Scharfer Protest, weil im Kerngebiet Kraftfahrzeuge sechs Monate verboten sind. Warum der Straßenkampf weiter angeheizt wird.
Ein Punkt ist Anette Kaiser-Villnow sehr wichtig: „Ich habe eine grüne Seele.“ Schon seit Langem gibt die Inhaberin der Kaiser-Apotheke an der Bahrenfelder Straße Plastiktüten nur noch gegen eine kleine Spende für das Hospiz Leuchtfeuer ab. Aus ökologischen Gründen kann sie sich auch grundsätzlich mit der Idee anfreunden, Autos aus einem Stadtteil zu verbannen, um ihn lebenswerter zu gestalten. Aber das Projekt „Ottensen macht Platz“, das Autos im Kerngebiet des Stadtteils die Durchfahrt verbieten wird, ist für sie in dieser Form eine Hauruckaktion.
Wie das Abendblatt berichtete, wird der Bezirk ab September ein für Hamburg bislang einmaliges Verkehrsexperiment starten. Ab September werden einige Straßen westlich des Altonaer Bahnhofs für sechs Monate fast autofrei. Lieferverkehr wird nur noch von 23 bis 11 Uhr erlaubt, auch Anwohner mit einem privaten Stellplatz, Krankenwagen und Markthändler an Markttagen auf dem Spritzenplatz dürfen die Straßen weiter nutzen, selbst Taxis dagegen nicht.
Ottensen scheint ideal für diesen Mobilitätsversuch. Der Stadtteil hat eine hohe grüne Affinität, bei der Bezirkswahl im Mai triumphierte die Öko-Partei mit 43,9 Prozent. Zudem haben nur 27 Prozent ein eigenes Auto. Und wer tagtäglich beobachtet, wie sich Bus-, Auto- und Radfahrer durch die engen Straßen quälen, kann der Vision eines autofreien Ottensen viel Sympathie abgewinnen.
Ottensen autofrei? "Wir leben davon, schnell lieferfähig zu sein"
Doch es gibt eben auch die andere Seite. „Der Bezirk macht hier eine Hauruckaktion. Die Interessen der Gewerbetreibenden werden viel zu wenig berücksichtigt“, klagt Anette Kaiser-Villnow, die 1999 die von ihren Eltern 1971 eröffnete Apotheke übernahm. Ein großes Problem seien die eingeschränkten Lieferzeiten: „Wir bekommen achtmal am Tag Ware. Wir leben davon, dass wir schnell lieferfähig sind.“ Für ihre Großhändler seien die sogenannten Pick-up-Points, die der Bezirk an den Eingängen der Zone für Lieferanten, Taxis und Boten einrichten wird, nicht zumutbar: „Ich kann doch von den Fahrern nicht erwarten, dass sie schwere Kisten mit Kochsalzlösungen in meine Apotheke schleppen.“
Das Lieferproblem treibt auch Sternekoch Boris Kasprik um, Inhaber des Petit Amour am Spritzenplatz: „Wir arbeiten oft bis 3 Uhr morgens. Wenn dann die Ware spätestens bis 11 Uhr kommen muss, wird meine Nacht sehr kurz.“ Zudem müsse er oft noch Waren nachordern. „Dieses Experiment ist gut gemeint, aber nicht gut durchdacht“, kritisiert Kasprik auch mit Blick auf das Taxi-Durchfahrverbot.
"Unsere unternehmerische Existenz wird geschädigt"
Corinna Schroeder, Floristikmeisterin von Blumen Schröder an der Ottenser Hauptstraße vermisst ein „ganzheitliches Konzept“, das auch die Bedürfnisse der Einzelhändler berücksichtigt: „Das bedeutet für uns als Blumenfachgeschäft, dass wir auch weiterhin flexibel ausliefern können, etwa für Fleurop, für Firmen und für Veranstaltungen. Unser Geschäftsbetrieb und damit unsere unternehmerische Existenz darf nicht durch solche Test-Projekte geschädigt werden.“
Andreas von Weihe, Inhaber einer Physiotherapiepraxis an der Bahrenfelder Straße, sieht „das Projekt als Chance, sich städtebaulich der Zukunft zu stellen“. Er fordert jedoch eine intensivere Vorbereitung von der Behörde: „Es darf nicht passieren, dass hier ab September anarchische Zustände herrschen.“
Von Weihe spielt damit auf eine Sorge, die manche Besitzer eines Stellplatzes in der neuen autofreien Zone umtreibt. Wie reagieren Radfahrer und Fußgänger auf Autofahrer, die am Nachmittag ganz legal durch das Quartier fahren, weil sie einen Stellplatz haben? Werden sie angepöbelt? Und was passiert mit Radfahrern, die sich nicht an die gewünschte Schrittgeschwindigkeit halten? Die neuen E-Roller könnten die Konflikte im Straßenkampf weiter anheizen. Zumal das angegriffene Kopfsteinpflaster mancherorts für hohe Sturz- und Stolpergefahr sorgt.
SPD und CDU schalten sich ein
Apothekerin Anette Kaiser-Villnow schätzt, dass 90 Prozent der Gewerbetreibenden im Quartier gegen eine Sperrung der Straßen sind. Aber es gibt eben auch energische Befürworter wie etwa Nicole Christiansen, die mit ihrem Mann die preisgekrönte Buchhandlung an der Bahrenfelder Straße führt: „Durch dieses Projekt wird Ottensen noch lebenswerter.“ Allerdings hält sie den gewählten Zeitraum für falsch: „Warum macht man das nicht im Sommer, wenn die Leute gerne draußen sitzen?“
Die Tücke wird wie immer im Detail stecken. Anette Kaiser-Villnow sorgt sich um ihre betagten Kunden, die zwar mit ihrem Rollator den Hinweg schaffen, aber für den Weg zurück um den Ruf eines Taxis bitten. Und was passiert mit Eltern, die am späten Abend die Apotheke im Notdienst mangels Betreuungsmöglichkeit mit ihrem hochfiebernden Kind aufsuchen, um sich ein Medikament abzuholen? „Die können ihr Kind doch nicht einfach im Auto lassen und dann zu Fuß zu uns kommen.“
Marcus Weinberg, designierter Spitzenkandidat der CDU, sagt: „Es muss eine enge Abstimmung mit Anwohnern und Gewerbetreibenden geben. Die Maßnahmen müssen den Menschen dienen, nicht Ideologen.“ Das Projekt müsse wissenschaftlich begleitet werden. Auch Mithat Capar, Distriktchef der SPD in Ottensen, fordert, dass der Bezirk Einzelhändler und Anwohner nicht im Stich lassen darf: „Die Verwaltung muss ihre Interessen berücksichtigen.“