Hamburg. Kommende Woche jährt sich das Attentat auf Adolf Hitler zum 75. Mal. Altbürgermeister Klaus von Dohnanyi spricht über seine Familie, die viele Angehörige im Widerstand verlor, über die Fähigkeit, nicht zu hassen – und darüber, warum das Erinnern für unsere Zukunft unverzichtbar ist.

Der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi entstammt einer bürgerlichen Familie im Widerstand gegen Hitler. Es gibt wohl keine Familie, die bis in den Tod den Faschismus so bekämpft hat. Grausam hoch ist der Blutzoll: Die Nazis ermordeten seinen Vater Hans von Dohnanyi, der schon 1933 aus dem Justizministerium heraus Widerstand leistete, einer der Köpfe war, die den militärischen Widerstand, der dann zum 20. Juli führte, vorbereiteten und Juden bei der Ausreise halfen. Die Nazis ermordeten seine beiden Patenonkel, Klaus Bonhoeffer und Rüdiger Schleicher, die beide Anteil an der Verschwörung vom 20. Juli 1944 hatten. Und sie ermordeten seinen Onkel, den weltbekannten Theologen und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Der Widerständler Justus Delbrück, der Bruder seiner Tante Emmi Bonhoeffer, konnte bei Kriegsende aus der Gestapo-Haft fliehen; er starb 1945 in dem berüchtigten sowjetischen Speziallager Nr. 6.

Stunden nach dem Attentat besichtigen Hitler (3. v. l.) und Italiens „Duce“ Benito Mussolini (l.) den Ort des Geschehens. Mussolinis Besuch im Führerhauptquartier Wolfsschanze war für diesen Tag geplant.
Stunden nach dem Attentat besichtigen Hitler (3. v. l.) und Italiens „Duce“ Benito Mussolini (l.) den Ort des Geschehens. Mussolinis Besuch im Führerhauptquartier Wolfsschanze war für diesen Tag geplant. © dpa / Votava

Der Mordanschlag auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 war der spektakulärste Versuch, das Unrechtsregime der Nationalsozialisten zu stürzen. In den Staatsstreich vom 20. Juli waren Dutzende Spitzen der Wehrmacht und der Verwaltung verwickelt. Die Nazis vollstreckten daraufhin 200 Todesurteile. Es war der letzte, aber nicht der einzige Versuch, den Diktator zu stürzen. Schon 1938 waren im Rahmen der Septemberverschwörung die Pläne für eine Absetzung Hitlers weit gediehen – sie scheiterten dann an dem Münchner Abkommen. Hans von Dohnanyi war Teil der Vorbereitungen. 1943 brachte er persönlich eine Bombe nach Smolensk, die auch in Hitlers Flugzeug deponiert wurde. Sie zündete bei tiefem Frost im Gepäckraum aber nicht.

Am 5. April 1943 verhafteten die Nazis von Dohnanyi wegen eines angeblichen Devisenvergehens. Nach der Niederschlagung der Verschwörung im Juli 1944 fand die Gestapo versteckte Akten und schloss daraus, Hans von Dohnanyi sei „das geistige Haupt des 20. Juli“ gewesen.

Welche Erinnerungen haben Sie an den 20. Juli 1944?

Klaus von Dohnanyi Ich erinnere mich genau. Am nächsten Tag habe ich meinen Vater, der schwer krank in einer Baracke des Isolierkrankenhauses in Potsdam lag, besucht. Er hatte sich nämlich mit ärztlicher Hilfe meines Großvaters selbst mit Diphtherie infiziert, um aussageunfähig zu werden. Halb gelähmt auf seinem Bett war er im Kopf hellwach. Eine sehr mutige und verständnisvolle Schwester Hanna ließ mich durch das offene Fenster mit ihm reden. Mein Vater bat mich, Kontakt zu Carl Langbehn, einem Mitglied der Widerstandsgruppe, aufzunehmen. Aber es war zu spät. Langbehn war auch schon verhaftet.

Eines von fast 40 Gebäuden des Führerhauptquartiers Wolfsschanze.
Eines von fast 40 Gebäuden des Führerhauptquartiers Wolfsschanze. © Ullstein Bild

Welches Bild hat sich eingebrannt?

Ich stand am Fenster und sah einen unglaublich tapferen Mann. Später, in der berüchtigten Gestapo-Zentrale an der Prinz-Albert-Straße, haben sie versucht, ihn zum Reden zu bringen mit Mitteln, die man kaum noch aushalten kann. Er hat aber den Gestapo-Beamten immer gesagt: Ihr werdet von mir nichts erfahren. Und irgendwie hatten sie großen Respekt vor ihm. Bis zum Ende kam von ihm kein Wort

Was wusste Ihre Mutter?

Es gab im Umfeld der Verschwörer wohl wenige Menschen, die so eingeweiht waren und mitgearbeitet hatten wie meine Mutter. Sie hatte zum Beispiel die Ergebnisse der geheimen Verhandlungen mit den Engländern, den sogenannten X-Bericht, getippt. Die Briten haben aber den deutschen Widerstand im Stich gelassen und wollten nicht wirklich verhandeln. Das war ihr großes Versagen in Europa.

Sie kannten viele der Verschwörer, die den Mut, den Todesmut zum Widerstand hatten. Was hat diese Menschen verbunden?

Mein Vater hat seinen Weg in den Widerstand mit einem Satz begründet: „Es war einfach der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen.“ Das wäre wohl auch heute seine kurze Antwort auf Ihre Frage.

Wie lautet die lange Antwort?

Es gibt Untersuchungen, wonach viele Widerstandskämpfer christliche Wurzeln hatten. Ich halte das für sehr wichtig. Das Christentum ist eine Religion der Liebe. Das hatte mein Vater wohl mit seinem Satz gemeint.

Was verband die Widerständler darüber hinaus?

Sie vereinte die Überzeugung, dass wir Deutsche selbst verantwortlich waren, dem Naziterror ein Ende zu setzen. Und dass es dafür nun nicht mehr nur Worte, sondern die Tat verlangt.

Der Widerstand blieb eine kleine Minderheit. Der Historiker Joachim Fest schreibt in seinen Erinnerungen „Ich nicht“ über die wachsende Einsamkeit der Hitler-Gegner.

Ein wichtiges Buch. Ich habe mich darüber kürzlich mit meinem Bruder Christoph unterhalten. Wir selbst können uns aber an Einsamkeit nicht erinnern. Wir waren zu jung, hatten Schulkameraden, die Nazis waren, oder spielten mit Nachbarskindern, deren Eltern als Nazis bekannt waren. Für meine Eltern ist das natürlich ganz anders gewesen.

Sie haben einmal gesagt: Wer aus innerer Überzeugung, weil er die Verbrechen verabscheute und die Gefahren für Deutschland und die Leiden Europas voraussah, gerade in den Jahren des Nazi-Erfolges, also im Glanz der Olympischen Spiele und unter den Fanfaren der Sondermeldungen, wer danach aktiven Widerstand betrieb, war unvorstellbar einsam mit seinem patriotischen Gewissen.

Das stimmt. Und die Einsamkeit derer, die widerstanden haben, war nach dem Krieg noch lange nicht vorbei: Meine Tante Ursula Schleicher musste lange um ihre Hinterbliebenenpension kämpfen. Auch meine Mutter hat diese Einsamkeit gespürt, 1947/1948, als immer noch Leute schwadronierten, Deutschland hätte den Krieg gewonnen, wenn es den 20. Juli nicht gegeben hätte.

Hitler besucht im Krankenhaus einen Mann, der bei dem Attentat vom 20. Juli schwer verletzt wurde.
Hitler besucht im Krankenhaus einen Mann, der bei dem Attentat vom 20. Juli schwer verletzt wurde. © Getty Images

Gab es einen Moment, in dem Ihnen klar wurde, dass Ihre Eltern die Begeisterung für Hitler nicht teilen?

Das war uns Kindern immer klar. Aber ich erinnere ein Gespräch meiner Eltern im Juni 1940, an dem Tag, als Paris fiel. Ich stand, kaum zwölf Jahre alt, im Nebenzimmer. Da hörte ich meinen Vater zu meiner Mutter sagen: Finis Germaniae – das ist das Ende von Deutschland. Gewinnen konnte man diesen Krieg nicht, aber nun fiel die letzte Chance eines rechtzeitigen militärischen Widerstandes in sich zusammen. Diese enttäuschten, verzweifelten Worte meines Vaters werde ich nie vergessen. Einsamkeit in dieser fahnenbunten Jubelstimmung.

Waren Sie eigentlich in der Hitlerjugend?

Ja, aber immer nur für wenige Tage. Ich habe kürzlich meinen HJ-Ausweis gefunden – da stand drin, ich müsse noch eine Prüfung bestehen. Meine Eltern haben das geschickt gemacht. Wir sind oft umgezogen, und sie haben uns immer erst kurz vor unserem nächsten Umzug bei der HJ umgemeldet.

Wie konnte Ihr Vater über Jahre einem verbrecherischen Regime dienen und gleichzeitig dessen Untaten sehen, ohne schier wahnsinnig zu werden?

Er war zu Beginn Staatsdiener einer Demokratie. Aber schon 1922, als Außenminister Rathenau erschossen wurde, schrieb meine Mutter an meinen Vater: Das waren doch sicher diese schrecklichen „Hakenkreuzler“. Meine Eltern waren eben überzeugte Demokraten. Es gibt sehr interessante Bilder von meinem Vater, wie er mit dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, noch im Justizministerium über die Strafrechtsreform verbissen streitet: Er wollte ein liberales Strafrecht bewahren, Freisler wollte es beseitigen. Mein Vater schied auch deswegen 1938 dort aus, ab 1941 hatten die Nazis im Justizministerium freie Bahn.

Volksgerichtshof-Präsident Roland Freisler bei einer  Verhandlung gegen Mitglieder des Widerstands. Er stand für Pervertierung des Rechts unter den Nazis.
Volksgerichtshof-Präsident Roland Freisler bei einer Verhandlung gegen Mitglieder des Widerstands. Er stand für Pervertierung des Rechts unter den Nazis. © dpa

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs forderte Hans Oster Ihren Vater für das Amt Abwehr an, das bald zum Zentrum des militärischen Widerstands gegen Hitler wurde.

Der Offizier Hans Oster war ein ganz besonderer Mann. Er war schon 1938 zusammen mit dem damaligen Chef des Generalstabes, Ludwig Beck, an den Putschplanungen beteiligt. Er war wohl aus christlicher Überzeugung von Anfang an zu einem Staatsstreich bereit. Damals, 1938, traf er auch meinen Vater. Nach der Verhaftung meines Vaters 1943 wurde auch Oster zunächst unter Hausarrest gestellt und später hingerichtet.

Die beiden, Oster und Ihr Vater, haben den Theologen Dietrich Bonhoeffer, Ihren Onkel, als Theologen gefragt,, ob man als Christ einen Tyrannenmord begehen darf. Hat Bonhoeffer das bejaht?

Ja, aber für einen Christen war das eine wichtige Frage, ebenso wie der Bruch eines Eides. Vor drei Jahren habe ich auf Einladung der Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen am 20. Juli bei einem Gelöbnis vor jungen Rekruten in Berlin gesprochen. Ich habe versucht, den jungen Leuten heute klarzumachen, was ein Eid damals bedeutete. Das kann heute kaum noch jemand verstehen. Der Bruch eines Eides war eine Ungeheuerlichkeit, weil ein Eid ursprünglich ja auch „mit Gottes Hilfe“ geleistet wurde. Man schwor seinen Eid bei Gott, aber nach 1933 eben auch auf den Führer. Die Männer im Widerstand hatten ethisch damals einen schweren Weg zu gehen. Sie mussten den Eid brechen und das fünfte Gebot: „Du sollst nicht töten“.

Welche Erinnerungen haben Sie an den 5. April 1943, den Tag der Verhaftung Ihrer Eltern?

Mein Vater wurde im Amt verhaftet, und ich kam am Nachmittag gerade von einer Arbeit in einer Gärtnerei zurück nach Hause, als der Gestapowagen mit meiner Mutter abfuhr.

Ihre Mutter hat Ihnen Ostern 1943 einmal geschrieben: „Tragt keinen Hass im Herzen gegen die Macht, die uns das angetan hat. Verbittert Eure jungen Seelen nicht, das rächt sich und nimmt Euch das Schönste, was es gibt, das Vertrauen.“ Konnten Sie das, nicht hassen?

Wir haben mit Nazi-Kindern gespielt und wussten, dass das Nazi-Kinder sind. Ich erinnere mich an zwei hübsche Mädchen, die waren vielleicht elf und zwölf Jahre alt. Deren Bruder redete immer davon, nach dem Krieg Wehrbauer in Russland am Don zu werden. Die hätten jeden Juden verraten. 2009 traf ich sie auf einer Veranstaltung zur deutsch-jüdischen Literaturgeschichte. Die beiden erinnerten unsere Jugend, als sei nichts gewesen. Es ist schon verrückt, wie man vergessen kann – aber auch, wie man vergeben kann.

Haben Sie es geschafft, nicht zu hassen?

Ich glaube, das habe ich von meinen Eltern gelernt. Meine Mutter hat die Menschen, die sich in der Nazizeit unfair verhalten haben, zwar konsequent aus ihrem Bekanntenkreis ausgeschlossen. „Ich muss die nicht mehr sehen“, hat sie gesagt. Aber tief gehasst hat sie wohl nicht.

Die Brüder Christoph (links) und Klaus von Dohnanyi­ mit ihrer Mutter Christine 1946. Sie hatte die Widerständler tatkräftig unterstützt
Die Brüder Christoph (links) und Klaus von Dohnanyi­ mit ihrer Mutter Christine 1946. Sie hatte die Widerständler tatkräftig unterstützt © Propyläen Verlag

Ihre Mutter hat Sie tief geprägt.

Ja, sicher. Ich erinnere genau eine eindrucksvolle Geschichte aus dem Winter 1941, von der ich auch bei der Gedenkfeier 40 Jahre nach dem 20. Juli 1944 in der Gedenkstätte in Berlin berichtet habe: Meine Mutter und ich warteten mit anderen Menschen auf einen Bus. Ein älterer Jude, den gelben Stern auf seinem abgerissenen Mantel, kehrte vor uns die Straße. Mehrere Male versuchte er angestrengt den Schubkarren über die Schwelle zu schieben. Er war zu schwach, und die Menschen sahen zu. Ich werde nie vergessen, wie meine Mutter, aschfahl im Gesicht, ihre schweren Einkaufsnetze einfach fallen ließ. Dann schob sie den Schubkarren den Bürgersteig hoch. Das war die nachdrücklichste moralische Ermahnung, die ich in meinem Leben erfahren habe.

An solchen moralischen Ermahnungen mangelte es in Deutschland?

Das weiß ich nicht. Diese Hilfe war öffentlich, und es war ja auch nicht verboten. Es war eben Zivilcourage. Aber davon gab es mehr in Deutschland, als wir oft wissen wollen. Und diese Beispiele dürfen wir nicht vergessen. Wir dürfen nicht so tun, als ob ganz Deutschland hinter den Verbrechen stand.

Sie haben kürzlich kritisiert, dass Politik und Medien zu oft an die Nazizeit erinnern und sich zu wenig mit der Zukunft befassen.

Ja, da wurde sogar geschrieben, ich sei damit ein „Schlussstrich“-Befürworter. So ein Blödsinn. Wir wissen doch, was passiert ist, natürlich muss man das immer erinnern. Aber was kann man daraus für unsere Zeit lernen? Wir müssen dafür, insbesondere heute, mehr über die Zukunft reden, und dafür wiederum ist es doch wichtiger, zu diskutieren, wie es damals dazu kommen konnte! Das muss doch heute im Mittelpunkt stehen!

Es gibt heute Parteien wie die AfD, die den Völkermord für einen Vogelschiss in der deutschen Geschichte halten ...

Das war ungeheuerlich. Ich denke, wir könnten die AfD auch anders angehen: Kennen Sie die Abkunft der AfD-Spitzenpolitikerin Frau von Storch? Der eine Großvater war Finanzminister unter Hitler bis 1945, der andere der letzte Erbgroßherzog des Großherzogtums Oldenburg, Mitglied der NSDAP und der SA. Warum fragen wir sie nicht im Bundestag ganz offen, warum sie nicht einmal aus ihrer eigenen Lebensgeschichte lernen kann? Das ist doch eine Unverschämtheit, wie wenig diese Dame aus ihrer eigenen Familiengeschichte bereit ist zu lernen!

Was gehört denn in den Mittelpunkt der Aufarbeitung?

Wir beschäftigen uns zu wenig mit den Gründen, wie es dazu kam. Das ist doch die zentrale Frage für die Zukunft! Widerstand kommt nämlich eigentlich immer zu spät – Widerstand im Sinne des 20. Juli zeigt vor allem, wie groß die Versäumnisse zuvor waren. Auch Claus Stauffenberg war ja zu lange ein Anhänger Hitlers und glaubte an den Sieg. Mein Vater nie. Bei vielen in der Wehrmacht kam eben die Einsicht viel zu spät.

Drei Männer im Widerstand: Karl Ludwig Freiherr von Guttenberg, Hans von Dohnanyi und Justus Delbrück 1942, damals im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht tätig.
Drei Männer im Widerstand: Karl Ludwig Freiherr von Guttenberg, Hans von Dohnanyi und Justus Delbrück 1942, damals im Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht tätig. © bpk

1938 gab es ja den ersten großen Versuch, Hitler zu stürzen.

Ja, aber durch das Münchner Abkommen und den scheinbar so großen diplomatischen Erfolg Hitlers wurde der bereits weit vorbereitete Staatsstreich unmöglich.

Sie haben betont, wir müssten mehr darüber nachdenken, wie es so weit kommen konnte. Wie konnte eine Kulturnation in wenigen Jahren der völligen Barbarei verfallen?

Der amerikanische Historiker William Brustein hat in seinem Buch „The Logic of Evil“ die Gründe für den Beitritt zur NSDAP aufgrund der Beitrittsgründe in der Mitgliederkartei herausgearbeitet. Er kommt zu dem klaren Schluss, dass nicht Antisemitismus oder nationalistische Propaganda, sondern Arbeitslosigkeit, bürgerkriegsartige Straßenkämpfe und die sozialen Versprechungen Hitlers seine Gefolgschaft in der Weltwirtschaftskrise so mächtig werden ließen. 1928, in meinem Geburtsjahr, hatten die Nazis nämlich nur 2,6 Prozent der Stimmen – zusammen mit den Rechtskonservativen keine 20 Prozent. Binnen fünf Jahren kletterten beide zusammen dann Richtung 40 Prozent. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Ganz im Vordergrund stehen eben die große Weltwirtschaftskrise und bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen Kommunisten und Rechtsradikalen.

Andere Staaten hatten auch unter der Weltwirtschaftskrise zu leiden, ohne rechten Demagogen zu verfallen.

Andere Länder hatten aber auch nicht diese Mischung aus der Hyperinflation 1922/23 mit der Zerstörung des ganzen Vermögens des Bürgertums und der Geschichte eines verlorenen Krieges, denn die Deutschen fühlten sich zu Recht durch Versailles unbegründet gedemütigt. Eigentlich alle Parteien lehnten diesen Vertrag ab.

Trotzdem bleibt der Weg der Deutschen einzigartig.

Ja. Aber nach dem Krieg und nach der totalen Zerstörung des Mittelstandes hätten wir eine stabile Verfassung gebraucht. Und dies war die Weimarer Verfassung eben nicht. 20 Regierungen in 14 Jahren, das ist kein gutes Urteil für eine Verfassung! Außerdem ist es für Krisenzeiten wohl besser, ein Staatsoberhaupt zu haben, das nicht nur parteipolitisch gewählt wird. Deswegen bin ich auch gegen die Direktwahl des Bundespräsidenten.

Ist in Versailles das Fundament für die Wirtschaftskrise und den europäischen Bürgerkrieg gelegt worden, wie es der Ökonom John Maynard Keynes schon 1919 prophezeite?

Deutschland trug nicht allein Schuld am Ausbruch des Krieges. Schon der britische Premier David Lloyd George sprach wenige Jahre nach Ende des Krieges vom gemeinsamen „Hineinschlittern“. Versailles hat die Deutschen dann tief getroffen. Auch das gilt es heute zu lernen: Wir sollten immer versuchen, auch die Psyche anderer Völker zu verstehen. Wenn wir heute zum Beispiel die Ungarn so scharf kritisieren, dürfen wir nicht übersehen, dass Ungarn zunächst ab Mitte des 15. Jahrhunderts von den Türken regiert wurden. Später von den Habsburgern, dann von den Sowjets. Selbst regiert haben sie sich nur wenige Jahrzehnte. Vielleicht reagiert die ungarische Seele deshalb auch heute auf Brüssel anders als zum Beispiel wir?

Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, hingerichtet am 9. April 1945, war ein Onkel von Klaus von Dohnanyi.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, hingerichtet am 9. April 1945, war ein Onkel von Klaus von Dohnanyi. © dpa

Lernen wir zu wenig aus der Geschichte?

Ja. Wir lernen insbesondere zu wenig die Geschichte anderer Völker zu verstehen. Italiener, Spanier, Franzosen – sie alle haben ihre eigenen Empfindlichkeiten, mit denen man vorsichtig und verständnisvoll umgehen muss. Und wir sollten wohl auch begreifen, warum sich auch die Russen in den vergangenen Jahren nach Ende des Kalten Krieges gedemütigt fühlten und nun trotzig reagieren.

Die Geschichte steckt uns in den Genen. Sind wir Deutsche besonders anfällig?

Auch wir sind mit unseren geistigen Anlagen und psychischen Strukturen besonders. Wir sind zum Beispiel besonders auf Ordnung, Gemeinschaft und soziales Verhalten ausgerichtet. Selbst die Gesellschaft der deutschen Ökonomen nennt sich ja „Verein für Sozialpolitik“. Das muss man sich klarmachen – unser Antisemitismus entstammte nicht Rassentheorien, wie in England, sondern einer Abneigung gegen Geldwirtschaft und Kapitalismus. Das gilt natürlich nur bis Hitler und der Naziherrschaft: Dieser Antisemitismus war dann sowohl kulturell als auch rassistisch.

Auch die Demokratie hatte es hierzulande schwer ...

Das scheint mir zu einfach, und da bin ich nicht so sicher. Mein Vetter, der Historiker Karl Dietrich Bracher, hat die oft geteilte These vertreten, es habe in der Weimarer Republik an Demokraten gemangelt. Das halte ich für problematisch. Es hat nicht an Demokraten gefehlt – wir hatten in Hamburg zum Beispiel, wie in anderen deutschen Reichsstädten, sehr früh eine städtische, demokratische Kultur, die ausgeprägter war als zu dieser Zeit manches in Frankreich oder England. Ich denke, die Weimarer Republik ist eher an ihrer Verfassung gescheitert.

Diese Verfassung wird von manchen hoch gelobt.

Eine Verfassung ist für die Gesellschaft so eine Art Knochengerüst mit Muskulatur. Wenn nun jemand ständig unter Lasten zusammenbricht, dann kann man doch nicht sagen: Aber am Körperbau und den Muskeln wird es doch nicht liegen! Auch eine Verfassung muss man an ihrem Ergebnis beurteilen! Eine Verfassung, die 20 Regierungen in 14 Jahren erlaubt, kann doch für die damaligen Verhältnisse nicht gut gewesen sein! Die Weimarer Verfassung glich einem Haus ohne zureichende Statik. Ein Idealbau für sonniges Wetter. Heute müssen wir wieder in den Blick nehmen, wo unser Staatsschiff erste Instabilitäten zeigt. Sechs Parteien im Parlament und ein halbes Jahr Regierungsbildung sind vielleicht doch schon Alarmzeichen?

Machen Sie sich Sorgen?

Wir müssen damit rechnen, dass unsere Gesellschaft in schwere Wasser gerät. Der Umbruch in der Welt ist so tief greifend, dass alte Gewissheiten nicht mehr gelten: Die Digitalisierung der Arbeitswelt, die Entfremdung zwischen Amerika und Europa, die unkalkulierbaren Folgen des Klimawandels werfen erneut die Frage auf: Wie stabil sind wir angesichts dieser Herausforderungen?

Hans von Dohnanyi 1928 mit dem im selben Jahr geborenen Sohn Klaus und dessen älterer Schwester Bärbel (1926–2016).
Hans von Dohnanyi 1928 mit dem im selben Jahr geborenen Sohn Klaus und dessen älterer Schwester Bärbel (1926–2016). © Propyläen Verlag

Wie stabil sind wir?

Derzeit sieht alles noch sehr solide aus. Aber wie flexibel sind wir noch für eine turbulente Zukunft? Wir leben eine Kultur der Ordnung, nicht eine des Aufbruchs. Und ich fürchte, wir werden uns schwertun in einer Welt, die in Unordnung gerät.

Die Politik hat im vergangenen Jahr den Deutschen in acht Bundesländern den Reformationstag als einen neuen Feiertag ermöglicht. Wäre der 20. Juli nicht der bessere Tag gewesen?

Nein, das glaube ich nicht. Ein Tag zum Feiern wäre dieses Datum doch nur, wenn das Attentat geglückt wäre! Aber so, wie wir einen Totensonntag haben, sollten wir vielleicht einen Tag bestimmen, an dem wir an die Menschen erinnern, die persönlich Widerstand geleistet haben, damals unter den Nazis, aber dann auch in der DDR.

Kennen Sie die Zahl, wie viele Tausend Oppositionelle nach der Machtergreifung interniert wurden? Wie viele gestorben sind?

Nein. Ich kenne die Zahl auch nicht, und wir kennen sie in Deutschland nicht. Das sollte anders werden.

Als ich meinem zwölfjährigen Sohn erzählt habe, dass ich heute zu dem Mann gehe, dessen Vater Hitler töten wollte, sagte er spontan: Dann umarme ihn mal.

Das finde ich nett. Sehr nett. Umarmen Sie ihn bitte auch in meinem Namen!