Hamburg. Rechtsmediziner und UKE-Arzt berichten von “ungewöhnlich ausgemergeltem“ Säugling. Was wussten die Eltern vom Zustand des Kindes?

Die Stimme des Mannes ist vor lauter Schluchzen nur schwer zu verstehen. Im Hintergrund hört man seine Partnerin weinen und klagen. „Unser Kind ist still“, sagt der Mann aufgeregt in einem Notruf an die Feuerwehr. Seine Frau habe ihm gesagt, „das Baby ist tot. Es ist gestorben. Er atmet nicht!“ Der kleine Mohamed war da schon nicht mehr zu retten. Der Junge wurde gerade mal zweieinhalb Monate alt. Als er starb, war er derartig mager, mit greisenhaftem Gesicht und eingefallenen Augen, dass ein Ärzteteam, das sich um sein Überleben bemüht hatte, „sehr bestürzt war, wie es aussah“, erzählt ein erfahrener Kinderarzt über den Säugling.

Können die Eltern übersehen haben, wie schlecht es um ihr Kind stand? Dies ist die zentrale Frage vor dem Schöffengericht, wo sich Mohameds Eltern Marina P. und Said Z. wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen verantworten müssen. Die Anklage wirft dem 34 Jahre alten Vater und der zwei Jahre jüngeren Mutter vor, sie hätten ihren zweieinhalb Monate alten Sohn nicht einem Arzt vorgestellt, obwohl der Junge „stark untergewichtig und chronisch mangelernährt“ gewesen sei und „ungewöhnlich ausgemergelt ausgesehen“ habe. Letztlich verstarb der Junge am 13. November 2017 an einem Herz-Kreislaufversagen, das durch Mangelernährung, Austrocknung und einer dadurch bedingten Elektrolyt-Entgleisung entstanden sei. Wenige Tage vor seinem Tod war er noch an einer Dickdarmentzündung erkrankt.

Mohameds Eltern klingen erneut verzweifelt

Zum Prozessauftakt verdecken die angeklagten Eltern ihre Gesichter hinter Mappen, um auf den Bildern der zahlreichen Fotografen nicht erkannt zu werden. Marina P. ist eine blasse Frau in Kopftuch, deren sehr zarte Statur auch unter ihrem weiten Gewand zu erahnen ist. Bevor sie Mohamed zur Welt brachte, hatte sie schon sechs Kinder geboren. Sie seien nicht verheiratet, aber sie wollten das bald nachholen, erzählt ihr Partner Said Z. dem Gericht, ein schmaler Mann mit hoher Stirn und Vollbart. Als der Notruf, mit dem der Vater Rettungskräfte der Feuerwehr alarmiert hat, im Gerichtssaal abgespielt wird, wirken die Eltern ähnlich verzweifelt, wie sie damals am Telefon geklungen haben. Said Z. bedeckt sein Gesicht mit den Händen, Marina P. laufen Tränen über die Wagen. Die Mutter habe ihren Säugling ganz normal gestillt, lassen Mohameds Eltern über ihre Verteidiger erklären. Dass er in einem schlechten Zustand gewesen sei, hätten sie nicht bemerkt. Für den 7. November 2017 hatten die Eltern für Mohamed ursprünglich einen Kinderarzttermin vereinbart, den sie aber absagten und auf die darauf folgende Woche verschoben. Da war es zu spät. Mohamed war einen Tag vorher verstorben.

Rechtsmediziner: "Das war kein plötzlicher Tod"

Spätestens auf einem Foto, das eine Woche vor dem Tod des Säuglings entstanden ist, erkenne man, dass „die Augen tief in den Höhlen liegen und er ein greisenhaftes Gesicht hat“, sagt Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel als Sachverständiger im Prozess. Mohamed sei zu dem Zeitpunkt bereits „dramatisch unterernährt“ gewesen, „das hätte man ohne weiteres erkennen können“, erklärt der Fachmann. Wenn der Junge ärztlich behandelt worden wäre, „hätte er nach meiner Einschätzung nicht sterben müssen. Eine ärztliche Behandlung hätte das eindeutig verhindert“, so Püschel. Dass die Mutter das Kind oft angelegt habe, „bezweifele ich nicht, aber das Ergebnis war erkennbar unzureichend. Das war kein plötzlicher Tod. Das Kind war über Tage deutlich krank, was man hätte erkennen und behandeln müssen“. Mohameds Gewicht habe zuletzt mit 2823 Gramm sogar unter seinem Geburtsgewicht von 2850 Gramm gelegen, berichtet der Rechtsmediziner. Auffällig seien bei dem verstorbenen Jungen „die dünnen Ärmchen und Beinchen“ gewesen und eine "sehr, sehr faltige Haut. Er war deutlich ausgetrocknet“.

Die Rechtsmediziner und eine Kinderärztin untersuchten auch die anderen sechs Kinder des Paares. Zwei von ihnen seien sehr schlank gewesen, aber alle Jungen und Mädchen hätten sich in einem guten Allgemeinzustand befunden. Bei den Untersuchungen waren die Eltern dabei. Püschel: „Wir haben sie als fürsorglich und liebevoll empfunden.“

Frühe Hinweise auf Überforderung der Mutter

Polizisten berichten über den Einsatz in der Wohnung der Eltern. Vater und Mutter seien „sehr aufgeregt und aufgewühlt“ gewesen, schildert ein Beamter. Die Wohnung, drei Zimmer für die neunköpfige Familie, sei ordentlich und sauber gewesen. Mohameds Gitterbettchen hatte ein blauer Himmel aus Stoff überspannt, über dem Bett hing auch ein Mobile. Marina P. habe ihm erzählt, so der Beamte, dass sie ihren Sohn immer gestillt und keine Bedenken wegen seiner Gesundheit gehabt habe. „Er habe aber öfter geweint, sie habe gedacht, er habe Bauchschmerzen.“ Eine Mitarbeitern vom Jugendamt berichtete als Zeugin, die Familie sei seit 2010 dem Jugendamt bekannt. Es habe einmal jährlich Hausbesuche gegeben, aber nur bis Oktober 2016. Da war Mohamed noch nicht auf der Welt. Es habe Hinweise gegeben, so die Jugendamt-Mitarbeiterin, dass die Eltern und insbesondere die Mutter mit ihren damals schon sechs Kindern stark überfordert gewesen sei. Aber es habe aus Sicht des Jugendamtes keinen Handlungsbedarf gegeben.

UKE-Kinderarzt: Sehr starke Ausmergelung

Ein Kinderarzt, Spezialist für Kinderintensivmedizin am UKE, schildert, wie sich sein Ärzteteam damals um Mohamed bemüht hatte. Obwohl der kleine Junge bei Einlieferung ins Krankenhaus trotz intensiver Reanimationsbemühungen seitens der Notärzte schon keinen Kreislauf mehr hatte, hätten sie weitere zwanzig Minuten lang versucht, ihn wiederzubeleben, vergebens. Der Mediziner schildert das eingefallene Gesicht des Säuglings, den „extrem dünnen Körper, die Rippen standen hervor, die Augen waren eingefallen. Es war sehr auffällig, wie das Kind aussah, das war eine sehr starke Ausmergelung.“ Üblicherweise hätte ein Säugling mit dem Geburtsgewicht von Mohamed bei normaler Gewichtszunahme 4,7 Kilogramm wiegen müssen, erklärt der Sachverständige.

"Noch nie ein so abgemagertes Kind" gesehen

Es sei gut vorstellbar, dass die Mutter ihr Kind regelmäßig an die Brust angelegt habe, und auch, dass das Kind gesaugt habe. Aber das Baby habe offensichtlich viel zu wenig Nahrung aufnehmen können. „Eine chronische Mangelernährung bestand schon fast seit seiner Geburt.“ Auch Laien hätten allein an seinem Gesicht erkennen können, dass es dem Säugling nicht gut geht. Er habe in seiner Laufbahn schon sehr viele Kinder gesehen, sagt der Mediziner. „Aber noch nie ein so abgemagertes Kind.“ Wenn Mohamed am ursprünglich vereinbarten Untersuchungstermin vom 7. November 2017 zu seinem Arzt gebracht worden wäre, hätte man den Jungen retten können, betont der Gutachter. „Davon bin ich überzeugt.“

Möglich ist, dass das Verfahren nicht beim Schöffengericht bleibt, sondern zum Schwurgericht verwiesen wird. Die Staatsanwältin sagte am Donnerstag zum Ende des Prozesstages, der Fall weise „eine solche Nähe zum bedingten Tötungsvorsatz“ auf, dass sie das einer „kritischen Prüfung unterziehen werde.