Hamburg. Seine sonore Stimme kannte einst jedes Kind. Doch Wilhelm Wieben war mehr als nur langjähriger Sprecher der „Tagesschau“.

Mit Helmut Schmidt konnte man sich – fast schon sprichwörtlich – auf eine Zigarette treffen, um über Gott und die Welt zu reden. Bei Wilhelm Wieben hätte das nicht gereicht, thematisch nicht und erst recht nicht vom Rauchkonsum her. Denn Wilhelm Wieben konnte nicht nur mit staatsmännischer Distanziertheit die Nachrichten vortragen. Der formvollendete Hanseat war auch ein Geschichtenerzähler, ein Dramaturg des eigenen Lebens, dem die Anekdoten aus mehr als 80 Jahren nie auszugehen schienen.

Selbst rein professionelle Gäste – wie die Journalisten, die sich zuletzt vor fast genau vier Jahren um ihn scharten, als Wieben seinen 80. Geburtstag feierte – empfing er nicht in einem Café oder Hotel. Er bat zum Kaffee in seine Wohnung in Winterhude, servierte diesen in feinstem Porzellan, richtete den Aschenbecher neben der Tasse noch einmal aus und legte eine Packung Filterlose daneben. Dann erzählte er aus seinem Leben, mal in kunterbunten Farben, mal in gedeckteren; aber immer mit dieser Stimme, die fast jeder Erwachsene in Deutschland kennt, diesem sonoren Organ, bei dem man sofort an die „Tagesschau“ denkt.

Wilhelm Wieben träumte von einer Schauspielkarriere

Statt der Nachrichten aus aller Welt bekam man dann unter Umständen selbstironische Miniaturen serviert, wie die aus einer Zeit, als Wieben noch von einer Karriere als Schauspieler träumte: „Als ich in den 60er-Jahren in Bremen beim Radio arbeitete, kam ich auf den Gedanken, bei Peter Zadek vorzusprechen, der damals Oberspielleiter unter Kurt Hübner war. Und das muss so erbärmlich gewesen sein, dass Zadek mich mit der ironischen Bemerkung ,Das kannst du ja noch mal mit einem Freu­uund einstudieren‘ entließ.“

Ganz so „erbärmlich“ wird es wohl nicht gewesen sein. Immerhin hatte Wieben da schon eine Schauspielausbildung hinter sich, an der Max-Reinhardt-Schule in Berlin. Und eine Laufbahn als Verwaltungsfachangestellter hatte der gebürtige Dithmarscher da auch bereits ad acta gelegt. Der revolutionäre Furor Zadeks und die norddeutsche Zurückhaltung Wiebens passten aber wohl trotzdem nicht ganz so gut zueinander.

Den ersten „Beat Club“ kündigte Wilhelm Wieben an

Er verkörperte eher das Verbindende als das Trennende, auch schon vor seiner Karriere in Lokstedt bei der „Tagesschau“. 1965 kündigte Wieben die erste Episode des von Radio Bremen ausgestrahlten „Beat Club“ an: „In wenigen Sekunden beginnt die erste Show im deutschen Fernsehen, die nur für euch gemacht ist.“ Eine Live-Sendung voll lauter Musik, und dann werden die Zuschauer auch noch geduzt? Das lief doch recht konträr zu dem, was man damals von den Öffentlich-Rechtlichen erwartete. Also ergänzte Wieben: „Sie aber, meine Damen und Herren, die Sie Beat-­Musik vielleicht nicht mögen, bitten wir um Ihr Verständnis.“

Ein Jahr später wechselte Wieben von Bremen nach Hamburg, in die Redaktion der „Tagesschau“ – was wäre verbindender als die wichtigste Nachrichtensendung der Republik? Zunächst aber arbeitete er hinter den Kulissen. Wenn seine Stimme in den Nachrichten zu hören war, kam sie aus dem Off. 1972 stand er zum ersten Mal als Sprecher vor der Kamera.

24 Jahre lang moderierte der Gentleman die „Tagesschau“

Am 5. Mai 1974 begannen die 24 Jahre in Wiebens Leben, die für das Bild, das Deutschland von ihm hatte, so prägend waren wie keine anderen in seinem 84-jährigen Leben. Bei seiner ersten Sendung war er so aufgeregt, dass er sich gerade so eben zum ersten Filmbeitrag retten konnte, wird er später erzählen. Als Zuschauer sah und hörte man davon nichts. Nur einen wohlfrisierten Herrn im Nadelstreifenanzug mit Paisley-Krawatte, der in fein akzentuiertem Hochdeutsch die Nachrichten vortrug. Dass Wieben „mit Messer und Gabel“, sprach, wie Kollegen leicht spöttisch sagten, wird nicht nur mit seiner Schauspielausbildung zusammengehangen haben: Das Platt-, nicht das Hochdeutsche war für ihn Muttersprache, betonte Wieben immer wieder.

Für die Zuschauer war es genau diese gelebte sprachliche Distanz zur Umgangssprache, die ihn zu dem, machte, was man im Englischen einen „Anchorman“ nennt, einem prägenden Gesicht.

Die Grenzöffnung im November 1989 verpasste Wilhelm Wieben

Er begleitete uns in seinem ersten Jahr (und 16 Jahre später erneut) zur Fußball-Weltmeisterschaft – „Guten Abend, meine Damen und Herren, Deutschland ist Fußball-Weltmeister“ – informierte das Land fast ein Vierteljahrhundert lang über gute und schlechte Neuigkeiten: die Ermordung John Lennons, den Irakkrieg, den Aufstieg der EU vom Wirtschafts- zum politischen Bündnis. Ausgerechnet der für Deutschland wohl wichtigsten Nachricht während seiner Nachrichtensprecher-Karriere lieh Wieben aber nicht Stimme und Gesicht: „Ich habe leider 1989 im November eine Schiffsreise gemacht. Da wäre ich gern in Hamburg gewesen und hätte die Meldung von der Grenzöffnung verlesen.“

Am 24. Juni 1998 endete dieser Abschnitt in seinem Leben – ohne großen Abschied, nur mit einem ins Mikro gemurmelten „Danke, das war’s.“ Nicht einmal seine Kollegen hatte er über den Schritt informiert, so erzählte Wieben es. Warum ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt? „Ich habe mich immer überraschen lassen von meinem Gefühl der Unlust. Und als es da war, habe ich gesagt ,Warum eigentlich nicht?‘“

Inge Meysel hat Wieben in einem Interview geoutet

„Warum eigentlich nicht?“, das hätte auch sonst eines der Leitmottos in Wiebens Leben sein können: Vom platten Land in die große Stadt? Warum eigentlich nicht? Vom Verwaltungsfachangestellten zum Schauspieler? Warum eigentlich nicht? Vom Schauspieler zum Nachrichtensprecher? Warum eigentlich nicht? Vom Nachrichtensprecher zum Botschafter des Plattdeutschen, zum Buchautor und Schauspieler? Warum eigentlich nicht? Wieben ging mit einer Art frohgemuten Fatalismus durchs Leben, sicher in dem Glauben daran, dass sich „alles fügt, ohne dass ich die treibende Kraft bin“.

Doch das heißt nicht, dass er nicht sein eigener Dramaturg gewesen wäre, stets bedacht darauf, die Deutungshoheit über sein Bild in der Öffentlichkeit zu behalten. Als Inge Meysel ihn 1995 in einem Interview mit dem „Stern“ zu ihren „schwulen Freunden“ zählte, so wird es gern kolportiert, habe sie ihn damit unfreiwillig und versehentlich geoutet. Wieben erzählte die Geschichte etwas anders. Der „Stern“ habe sich kurz vor der Veröffentlichung bei ihm gemeldet, um zu fragen, ob es in Ordnung gehe, das Interview so zu veröffentlichen: „Und da hab ich ,Ja‘ gesagt. Hätte ich das nicht getan, hätte ich mir das nie verziehen. Ich wollte mich nicht selbst verleugnen.“

Die Leidenschaft für das Theater verließ ihn zeitlebens nicht

Sich selbst verleugnet hat der Gentleman des Nachrichtengeschäfts wohl tatsächlich nie: Bei aller norddeutschen Contenance gab es auch immer die Ausbrüche aus dem Erwartbaren: Wie 1985, als er in Falcos Musikvideo zum Skandalsong „Jeanny“ den Nachrichtensprecher spielte. Oder auf der Theaterbühne, der er trotz des Zadek-Desasters nie ganz den Rücken kehrte. Wer nicht aus Hamburg kommt und um Wiebens Leidenschaft wusste, wäre überrascht darüber, dass er „Im Weißen Rössl“ den Kaiser Franz Joseph auf der Bühne des Schmidts Tivoli gegeben hat. Und bereits in den 80er-Jahren war er die „Konstante, nicht Konstanze!“, wie er sagte, an der Hamburger Staatsoper: Neun Spielzeiten lang gab er den Bassa Selim in „Die Entführung aus dem Serail“, während um ihn herum die Besetzung wechselte. Und wenn er nicht auf der Bühne stand, saß er davor: In der Komödie Winterhuder Fährhaus – um die Ecke von seiner Wohnung voller geliebter Pflanzen und Porzellanstücke – hatte er seit langen Jahren einen Stammplatz.

War Helmut Schmidt in späteren Jahren die Verkörperung des Elder Statesman, war Wilhelm Wieben der „Elder Dandy“: Stets gut gekleidet, formvollendet, den schönen Seiten des Lebens zugetan. Am Donnerstag ist er nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben. Wilhelm Wieben wurde 84 Jahre alt.