Hamburg. Vor 150 Jahren gründeten Hamburger Senatoren und Reeder nach zahlreichen Unfällen einen Dampfkessel-Überwachungsverein.
Die Explosion ist gewaltig, der Knall ohrenbetäubend, die Druckwelle tödlich. Durch die „außerordentliche Intensität“ werden, so der Maschineningenieur und spätere Sachverständige Moritz Rühlmann, „ganz gesunde Eisenmassen papierbogenähnlich zerrissen“, die dicken Umfassungsmauern „sofort niedergeworfen“ und „ein Teil des Daches in die Höhe geschleudert“.
Der Siedekessel wird in so kleine Stücke zerfetzt, dass sie „nicht wiederzufinden sind“. Sechs Schmiedegesellen und Maschinenarbeiter werden „durch die ungeheuer komprimierte Luft“ getötet und durch die „auf sie stürzenden Wasser-, Stein- und Eisenmassen verbrannt, zerquetscht und zerrissen“. Die Katastrophe vom 27. Januar 1855 in der Will’merschen Wagenfabrik in Hannover kurz nach 14 Uhr erschüttert ganz Deutschland so nachhaltig, dass sich auch die Hamburger Dampfkesselnutzer aus Sorge um ihre Arbeiter und Anlagen eiligst um eine bessere Betriebssicherheit kümmern.
Wie andere Fabrikbesitzer, Eisenbahnunternehmer und Reeder in ganz Deutschland schicken auch die Hamburger jetzt auf eigene Kosten Ingenieure zu ihren bombengefährlichen Kraftquellen. Zwar überprüfen schon seit 1848 staatliche Inspektoren die Dampfmaschinen im ganzen Deutschen Reich. Doch die Kontrollen sind viel zu sporadisch, lasch und uneffektiv.
Lose Selbsthilfegruppe
Am 15. Juni 1869 aber, vor 150 Jahren, wird aus der losen Selbsthilfegruppe der Hamburger Unternehmer schließlich eine Organisation mit geprüften Experten, klaren Abläufen und einheitlichen Vorschriften. Denn an diesem Tag gründen Senatoren und Reeder den „Verein zur Überwachung von Dampfkesseln“, kurz „Dampfkessel-Überwachungsverein“ (DÜV).
Er ist der zweite in Deutschland und der erste Vorläufer des Technischen Überwachungsvereins TÜV Nord. Kurz zuvor hat eine ähnliche Kesselkatastrophe in der Mannheimer Aktienbrauerei ein Menschenleben gefordert. Auch dort gründen Betroffene und Gefährdete einen Verein. Aus ihm geht später der TÜV Süd hervor.
Die Hanseaten aber finden das Vorbild für ihren DÜV nicht bei den Badenern, sondern wie so oft in Zeiten der Industrialisierung in der „Manchester Steam Users Association“, dem allerersten TÜV der Welt. Es ist höchste Zeit für strengere Überwachung, denn die rasch wachsende Zahl der Dampfkessel führt zu immer mehr Unfällen. Im 1871 gegründeten Kaiserreich zählen Experten in wenigen Jahren mehr als 200 „Zerknallungen“ mit fast 200 Toten und Hunderten Schwerverletzten.
Gefährlicher Mix
Die Ursachen sind selbst gemacht: Die Treibriemen zur Kraftübertragung auf möglichst viele Arbeitsplätze dürfen nicht zu lang sein und auch die Dampfleitungen müssen wegen der Wärmeverluste möglichst kurz bleiben. Deshalb werden die Kessel in den meisten Fabriken dicht an dicht zwischen die Werkbänke montiert. Die Arbeiter sind darüber nicht glücklich: „Vom Dampfkessel wie vom Gasometer“, warnt der revolutionäre Textilunternehmer Friedrich Engels, „erwartet man jeden Augenblick, das sie explodieren!“ Die häufigsten Unglücksursachen sind, wie Experte Rühlmann schon in seinem Unfallbericht vom 1855 schreibt, Überbelastung, Verschleiß und Bedienungsfehler. Sie führen zu Überhitzung durch zu geringen Wasserstand und zu einem zu hohen Dampfdruck.
Mangelhafte Wartung und fehlende Kontrollen vergrößern die Gefahr. Die meisten Sorgen macht den Kontrolleuren dabei die vielfach „zu geringe Wandstärke“, denn sie ist nur schwer abzuschätzen: „Die Abnutzung durch Niederschläge und Oxydation fand innerhalb des Kessels statt und war von außen nicht zu erkennen“, betont Rühlmann. Selbst wenn der Kessel aus dem besten Eisenblech geschmiedet ist, zeigen sich, so der Experte, nach längerer Benutzung erst „blättrige, schiefrige Stellen“ und dann „pockennarbig vertiefte Gruben“.
Später entstehen daraus „schlangenartige Vertiefungen, die oft durch die ganze Kesselanlage gehende Rillen bilden, woselbst die Wanddicken zuweilen Schreibpapierstärke gleich kommen.“ Auch das Personal ist eine stete Gefahrenquelle. Viele Dampfkesselheizer sind schlichte Arbeiter, unqualifiziert und schlecht bezahlt. Sie haben keine Ahnung, wie die Kessel funktionieren, in die sie tagtäglich ihre Kohlen schaufeln. Die meisten können nicht einmal die Armaturen lesen. Aus Unkenntnis blockieren sie Sicherheitsventile, verstopfen Warnpfeifen und füllen zu spät oder zu wenig Wasser auf.
Weniger Unfälle
Erst der neue Hamburger DÜV schickt Lehrheizer durch die Fabriken und drückt die Unfallquote auch damit auf ein Zehntel dessen, was die preußischen Inspektoren etwa in Wandsbek oder Harburg schaffen. Star der kaiserzeitlichen Hightech-Szene ist der Magdeburger DÜV-Ingenieur Rudolf Weinlig. Auf einer Audienz überzeugt er Otto von Bismarck davon, dass die neuen Überwachungsvereine Kesselanlagen nicht nur prüfen, sondern künftig auch genehmigen und die Inbetriebnahme offiziell abnehmen sollen. Der Eiserne Kanzler macht sich mit der metallischen Materie rasch vertraut und unterstützt die Initiative.
Die „Vorschläge für die Berechnung der Blechstärken neuer Dampfkessel“ aber werden dann nicht in Magdeburg, sondern an Alster und Elbe ausgetüftelt und heißen deshalb „Hamburger Normen“. Die privatwirtschaftliche Überwachung nach diesen Vorgaben funktioniert so gut, dass die vom Staat bestellten Beamten allmählich überflüssig werden. Zur Jahrhundertwende kontrollieren 28 Vereine mit 273 Ingenieuren alle rund 89.000 deutschen Dampfmaschinen in Industrie, Landwirtschaft und Schifffahrt.
1902 kommen Aufzüge und Kraftfahrzeuge als neue Prüfobjekte ins DÜV-Programm. 1903 teilt der DÜV auch die Führerscheine an die Autofahrer aus. 1926 kümmern sich die Ingenieure um elektrische Anlagen im Bergbau unter Tage, um Kran- und Hebeanlagen und auch um Kinos. 1938 werden die DÜVs in TÜVs umbenannt. Heute ist die TÜV Nord Group ein internationaler Technologie-Dienstleister mit mehr als 10.000 Mitarbeitern in über 50 Staaten Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas.