Hamburg. Die Industrie sucht nach Alternativen zu Plastik auf Erdölbasis. Die Gründerinnen von LignoPure haben eine Lösung gefunden.

Was wäre, wenn das Mikroplastik im Lieblingsduschgel nicht mehr im Meer landen, sondern die Kügelchen in der Kläranlage biologisch abgebaut würden? Wenn das Klebeband, mit dem man bei Malerarbeiten Holzleisten abklebt, statt im Restmüll auf dem Kompost entsorgt werden könnte? Oder wenn Alltagsdinge wie eine Zitronenpresse oder Kinderspiele aus einem Plastikersatz bestünden, der nicht auf die Müllkippe gehört? Das klingt jetzt erstmal nach drei Wünschen, wie die man sie im Märchen bei einer guten Fee frei hat. Wienke Reynolds lacht. „Gold aus Stroh machen, funktioniert nicht“, sagt sie. „Aber wir können Kunststoff aus Stroh machen.“ In Zeiten, in denen angesichts stetig wachsender Plastikmengen , die Suche nach Ersatzprodukten immer dringlicher wird, ist das vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt.

Alternative für plastikfreie Zukunft an der TU Hamburg entwickelt

Gemeinsam mit Joana Gil steht Wienke Reynolds in der Versuchshalle auf dem Campus der Technischen Universität Hamburg zwischen kompliziert aussehenden Apparaturen. Hier haben die Wissenschaftlerinnen ihre Alternative für eine plastikfreie Zukunft entwickelt. Statt Erdöl als Basis für die Kunststoffproduktion setzen sie Biomasse ein, hauptsächlich Stroh. Und damit sind sie so erfolgreich, dass sie aus der Idee ein Geschäftsmodell machen und neue Märkte erschließen wollen. LignoPure heißt das Start-up, das gerade als eins von drei internationalen Gründerteams mit dem Future Hamburg Award ausgezeichnet wurde.

In dem Namen steckt lignum, das lateinische Wort für Holz. Denn das Grundmaterial der Forscher, sogenanntes Lignin, wird aus Resten der Agrar- und Forstindustrie isoliert. „Es ist ein nachwachsender Rohstoff, biologisch abbaubar und nicht giftig“, zählt Joana Gil die Vorteile auf. Zudem nicht essbar und damit anders als etwa Mais kein Nahrungsmittel. Die Biotechnologie-Ingenieurin ist der Motor hinter LignoPure. Vor gut drei Jahren war die 30-Jährige für ihre Promotion ans Institut für Thermische Verfahrenstechnik nach Hamburg gekommen, nachdem sie in ihrer Heimat Mexiko bereits mit pflanzlichen Verbindungen, sogenannten Biopolymeren, gearbeitet hatte.

„Ich habe die Möglichkeit gesehen, Lignin auch in den Life-Sciences einzusetzen. Das Potenzial ist groß“, sagt sie. Bislang spielt das Biopolymer, das die Verholzung von pflanzlichen Zellen bewirkt und beispielsweise für die Stabilität von Bäumen sorgt, eher ein Schattendasein, wird meist nur zur Energiebereitstellung verbrannt. Das Problem: Bei den bisherigen Gewinnungsverfahren werden unter anderem starke Säuren oder Laugen eingesetzt. Das Endprodukt ist deshalb für die Lebensmittel-, Pharma- oder Kosmetikindustrie nicht geeignet.

Basismaterial sind Mini-Pellets aus Stroh

Im Rahmen eines Forschungsprojekts haben die Harburger Wissenschaftlerinnen mit Unterstützung von Professorin Irina Smirnova in den vergangenen Jahren ein neues Verfahren entwickelt, das ein für Mensch und Umwelt unbedenkliches Lignin ermöglicht. Kein Zufall: In der Versuchshalle der TU steht eine der größten Anlagen zur Fraktionierung von Pflanzenresten an einer deutschen Hochschule. Zwischen riesigen Apparaten und Leitungen aus mattglänzendem Edelstahl hängen Plakate an den Wänden, die erklären, was LignoPure ist. Wienke Reynolds, die im Team für die Prozesssteuerung zuständig ist, greift in eine unscheinbare blaue Plastiktonne und holt eine Hand voll Mini-Pellets aus gepresstem Stroh heraus, die von Bauern aus der Umgebung kommen. Daraus soll ein Material entstehen, das Plastik ersetzen kann? Für Laien ist das kaum vorstellbar. Die 30-jährige Hamburgerin, die gerade ihre Doktorarbeit im Bereich Bioverfahrenstechnik abschließt, kennt diese Reaktion. „Wir brauchen dafür nur CO2, Wasser und Enzyme“, sagt sie. Über ein komplexes System aus Kesseln, Rohren und einer patentierten Hochdruck-Kaskade wird das Lignin isoliert, dann zu einer Art Paste verarbeitet und getrocknet. Wie das ganz genau funktioniert, ist das Geschäftsgeheimnis von LignoPure. Aktuell können in der Pilotanlage bis zu 100 Kilo Lignin im Monat produziert werden. Das Endprodukt, ein feines, bräunliches Pulver, haben die Forscherinnen zur Ansicht in ein Schraubglas gefüllt.

Klebeexperte Tesa ist Kooperationspartner

Das Interesse der Industrie ist groß. „Erdöl ist eine endliche Ressource und zeitgleich steigt die Verantwortung für Unternehmen auf nachhaltige Alternativen umzusteigen“, sagt Wienke Reynolds. „Mit unserem Lignin können wir einen wertvollen Beitrag leisten.“ Einer der ersten Kooperationspartner ist der Hamburger Klebespezialist Tesa, der ein Öko-Tape entwickeln will. „Dafür müssen die Partikel besonders fein sein“, sagt Joana Gil. Über Monate haben sie und ihre Kolleginnen immer neue Variationen getestet und verworfen, bis sie schließlich einen Prototyp hatten. Auf Abendblatt-Anfrage bekräftigte Tesa-Laborleiterin Cai Rong Lim das Interesse. Es gebe allerdings aktuell noch keine konkreten Pläne.

Auf einem Tisch haben Wienke Reynolds und Joana Gil weitere Produktideen für ihre Ausgründung aufgebaut. In einer kleinen Flasche ist ein Duschgel mit Lignin-basierten Partikeln, für den Peeling-Effekt. „Das Produkt ist 100 Prozent biobasiert und 100 Prozent abbaubar“, sagt Gil. Andere Ideen sind der Einsatz als Nahrungsergänzungsmittel, um bei Ernährungsproblemen unerwünschte Öle aus fettigen Speisen zu absorbieren oder als Trägermaterial in der Pharmaindustrie. Weitere Verwendungsmöglichkeiten in der Klebstoffproduktion seien genauso denkbar wie als Dämmmaterial. Auch erste Versuche, Lignin im 3-D-Druck oder für den Kunststoffspritzguss zu nutzen, gibt es. „Es ist ein sehr vielseitiger Grundstoff“, sagt Reynolds. „Der einzige Nachteil ist: Er ist braun.“ Weiß oder gar durchsichtig machen, funktioniert nicht.

Gründerinnen mit Future Hamburg Award ausgezeichnet

LignoPure kann schon einige Erfolge vorweisen, gehörte mehrfach zu den Gewinnern von Start-up-Preisen. Durch die Auszeichnung mit den Future Hamburg Award (Platz 2) erhalten sie ein maßgeschneidertes Unterstützungsprogramm. „Das ist für uns jetzt besonders wichtig“, sagt Joana Gil. Das Uni-Projekt soll in diesem Sommer den Sprung zum Unternehmen schaffen. Zum Gründungsteam gehören neben ihr und Wienke Reynolds noch Daniela Arango (Marketing/Finanzen) sowie Stefan Boersting, der auf Bioverfahrenstechnik spezialisiert ist. „Wir sind neben Kunden vor allem auf der Suche nach Investoren und Partnern“, sagt Reynolds. Erste Gespräche liefen bereits. Die Ziele für die nächsten Jahre: eine eigene industrielle Produktion und neue Produkte auf den Markt bringen. Mindestens drei sollen es schon sein.