Hamburg/Berlin. Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes lud Frank-Walter Steinmeier 200 Bürger aus ganz Deutschland zum Kaffee.
Politik, Kirche und Gesellschaft feiern den Geburtstag des Grundgesetzes – und fünf Abendblatt-Leser sind dabei. 200 Gäste aus ganz Deutschland haben am Donnerstag im Garten von Schloss Bellevue Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier getroffen und an einer großen Kaffeetafel mit ihm über die Verfasstheit der Bundesrepublik diskutiert. Anlass: der 70. Geburtstag unserer Verfassung.
„Auch deshalb sind wir heute hier: Weil wir nicht wollen, dass Hass und Feindseligkeit wie Gift in unsere Debatten sickern. Weil wir nicht wollen, dass die Unterscheidung von Fakten und Lügen verloren geht“, sagte Steinmeier zur Begrüßung. „Nicht im Netz und genauso wenig auf den Straßen und Plätzen: Überlassen wir unsere Debatten doch nicht den Lautsprechern und politischen Randalinskis!“
22 eingedeckte Tische
Kellner mit Kaffee und Törtchen, 22 eingedeckte Tische im weitläufigen Grün neben einem Teich mit Seerosen, an jedem Tisch sitzen unter weißen Sonnenschirmen im parkähnlichen Garten acht Gäste aus ganz Deutschland, dazu ein Moderator. Das Thema: Was macht das Land heute aus, was hält es zusammen? Was läuft gut, was schlecht?
Die Gäste kamen miteinander in Gespräch, aber auch mit dem Bundespräsidenten und seiner Frau Elke Büdenbender, mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundesratspräsident Daniel Günther und mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle, der von beeindruckenden Unterhaltungen mit den 200 Gästen berichtete.
Bischöfin Kirsten Fehrs dabei
In den nicht öffentlichen Gesprächsrunden ging es auch darum, was unsere Gesellschaft heute zusammenhält. Die zentrale Frage lautete: „Ist Deutschland in guter Verfassung?“ Kanzlerin Merkel sagte, sie wünsche sich mehr von diesen Gelegenheiten, mit den Bürgern in Dialog zu kommen, um so von deren Anliegen zu erfahren.
Unter den Moderatoren war neben dem Chef der Bundesarbeitsagentur, der Hamburger Detlef Scheele, dem Sänger Roland Kaiser, und dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, ein weiteres Hamburger Gesicht: Bischöfin Kirsten Fehrs. Sie sagte dem Abendblatt: „Demokratie bedeutet, miteinander zu diskutieren. Da passt es gut, dass wir den Geburtstag des Grundgesetzes nicht nur mit schönen Reden feiern, sondern Menschen aus ganz Deutschland an der Kaffeetafel miteinander ins Gespräch kommen. Wir müssen mehr miteinander reden und nicht nur übereinander, auch und gerade bei unterschiedlichen Positionen und Haltungen – das ist meine christliche Überzeugung.“
"Munterer Dialog über Gott und die Welt"
An Fehrs Tisch saßen ganz unterschiedliche Menschen wie ein Start-Up-Gründer aus der Sächsischen Schweiz; ein Rentner, dessen Vater 1949 erst aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrte und eine Berliner Verwaltungsangestellte mit alevitischen Wurzeln. „Dieser muntere Dialog über Gott und die Welt am Geburtstag unserer Verfassung ist ein echtes Geschenk an uns alle.“
Ein Teil der Gäste hatte sich in Briefen direkt an den Bundespräsidenten gewandt, die übrigen hatten Regionalzeitungen (wie das Abendblatt) aus dem gesamten Bundesgebiet in einem Bewerbungsverfahren ausgewählt. Die Abendblatt-Abonnentinnen und –Abonnenten Manuela Grell, Sabine Wolle, Kathrin Jünemann, Yunis Hayee und Stephan Risse waren in Schloss Bellevue dabei.
Wie verändert die Digitalisierung die Arbeitswelt?
„Das Grundgesetz ist für mich vergleichbar mit der menschlichen Wirbelsäule: Wir spüren sie nicht jeden Tag, aber wenn sie einen Fehler hat oder schwach ist, dann folgt der Zusammenbruch“, sagte Risse, Ingenieur bei Airbus. Ihm ging es bei der Kaffeetafel auch darum, wie die Digitalisierung und Automatisierung der Arbeitswelt gelingt, ohne dass sich Menschen abgehängt und allein gelassen fühlen.
Abendblatt-Leserin Manuela Grell arbeitet in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Ich werde jeden Tag aufs neue daran erinnert, welche Errungenschaft dieses Grundgesetz ist“. „Ihr“ Moderator war Regisseur Sönke Wortmann, an ihrem Tisch diskutierten Elke Büdenbender und Wolfgang Schäuble mit. „Sie haben sich Zeit genommen, sind auf uns eingegangen. Das war keine Pflichtveranstaltung für sie, sondern Spaß“, sagt Grell.
Lehrerin aus Hamm mit am Tisch
Ein Anliegen von Sabine Wolle, Lehrerin und Leiterin der Schule Osterbrook in Hamm-Süd, war es vor ihrer Pensionierung, mit den Schülern die Unterschiede und deren Folgen zwischen Weimarer Verfassung und Grundgesetz herauszuarbeiten. „Die Schwächen der Weimarer Verfassung waren mit verantwortlich für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Es darf nie mehr ein so menschenverachtendes System geben“, sagt sie zur Motivation, an der Tafel teilzunehmen.
Für Jurastudent Yunis Hayee ist der Verlauf der Gesprächsrunde Anstoß, sich politisch zu engagieren.
Die Idee der Kaffeetafel, also mit Menschen ins Gespräch zu kommen, überlegen Hayee, Risse und Kathrin Jünemann in Hamburg für sich aufzugreifen. Risse: „Wir müssen die Stimmung mitnehmen und in unsere Vereine, Firmen und Freundeskreise tragen.“
Respekt für jeden Menschen
Auf Artikel 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) und dessen Bedeutung für ihre Schüler in der dualen Ausbildungsvorbereitung ging die Bergedorfer Berufsschullehrerin Jünemann ein: „Sie wollen mit Respekt behandelt werden, haben aber auch die Schwierigkeit, andere mit Respekt zu behandeln.“
„Wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen, auch wenn sie nicht einer Meinung sind, macht das dem Grundgesetz alle Ehre. Von solchen Gesprächen lebt eine offene Gesellschaft, eine liberale Demokratie“, ist Bundespräsident Steinmeier überzeugt.
Aus der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
"Ich habe mir gedacht: Wie kann man den Geburtstag unserer Demokratie eigentlich besser feiern als mit einer freien, lebendigen Debatte unter Bürgern?! Sprechen wir mit Menschen, die anderer Meinung sind! … Sie sind hier, weil Sie große Fragen haben: Was ist los in unserem Land? Was läuft gut, und was nicht? Und vor allem: Was gibt es zu tun für die Zukunft unserer Demokratie? Wie soll unser Land in fünf Jahren aussehen, wenn wir den 75. feiern Kurzum: Wir feiern das Grundgesetz, indem wir es auf die Probe stellen. ... Das ist ja gerade das Wunderbare an unserer Verfassung: Das Grundgesetz verbrieft unsere Freiheit – die Freiheit zur eigenen Meinung und zum eigenen Lebensentwurf. Die Freiheit, zu hinterfragen, auch die Mächtigsten zu kritisieren und mitzureden, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht. Diese große Freiheit praktizieren und zelebrieren wir heute an der Kaffeetafel! ... Ohne Anstand und Vernunft gelingt keine demokratische Debatte!
Auch deshalb sind wir heute hier: weil wir nicht wollen, dass Hass und Feindseligkeit wie Gift in unsere Debatten sickern. Weil wir nicht wollen, dass die Unterscheidung von Fakten und Lügen verloren geht. Weil wir nicht wollen, dass die Lautstärke von Diskussionen mit ihrer Dringlichkeit verwechselt wird. ... Wir Deutschen haben in 70 Jahren unendlich viel geschafft. Wir sind ein reiches Land geworden. Ein friedfertiges Land, vernetzt und respektiert auf der ganzen Welt. Dennoch, so glaube ich, ist unser Land momentan auf einer sehr grundsätzlichen Suche: Was hält uns in Deutschland zusammen? ... Schaffe ich es, Schritt zu halten mit der ständigen Beschleunigung? Wo gehöre ich hin in dieser Gesellschaft?“