Hamburg. Mahnwache von Frauenhaus-Vertreterinnen vorm Gericht. Warum die Staatsanwaltschaft dem 50-Jährigen “nur“ Totschlag zur Last legt.

Ein Foto der getöteten Juliete H. steht neben einer Grabkerze. Es zeigt eine schöne Frau, die ein orangefarbenes Kleid trägt, die selbstbewusst in die Kamera lächelt. Hinter dem gerahmten Bild stehen Frauenrechtlerinnen im Namen der fünf autonomen Frauenhäuser Hamburgs. In eines davon war Juliete H. vor ihrem prügelnden Ehemann geflüchtet.

Vor dem Strafjustizgebäude halten die Demonstrantinnen ein schwarzes Spruchband hoch, beschriftet mit zwei Wörtern: keine mehr! Nicht eine weitere Frau soll durch die Hand eines Mannes verletzt oder gar getötet werden. Erst am Sonntag wurde bekannt, dass ein 52-Jähriger seine Ex-Frau (31) in Wischhafen erschossen hat. Danach nahm er sich am Montag in Norderstedt das Leben.

Elfjähriger entdeckt seine tote Mutter

Anlass für die Mahnwache und den Protest vor dem Gerichtsgebäude ist ein anderer grausamer Fall, der Ende 2018 Hamburg erschüttert hat. Am 5. Dezember entdeckte ein elf Jahre alter Junge die blutüberströmte Leiche seiner Mutter in der gemeinsamen Wohnung an der Eckernförder Straße (Altona-Nord). Die 42-Jährige war auf brutalste Weise erstochen worden – mutmaßlich von ihrem eigenen Ehemann, dem Vater des Elfjährigen. Er soll Juliete H. schon vor der Bluttat schwer misshandelt haben.

Vertreterinnen des Hamburger Frauenhauses stehen bei einer Mahnwache mit einem Banner mit der Aufschrift
Vertreterinnen des Hamburger Frauenhauses stehen bei einer Mahnwache mit einem Banner mit der Aufschrift "#keine mehr" vor dem Strafjustizgebäude. © dpa

Seit Dienstag steht Marc H. vor Gericht, ein unauffälliger Typ auf den ersten Blick: kariertes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, grau-blonde Haare, Brille, Turnschuhe. Bis zu seiner Inhaftierung hat der 50-Jährige in einem Callcenter gearbeitet. Zu den Vorwürfen will er sich am kommenden Freitag äußern.

Angeklagt hat ihn die Staatsanwaltschaft nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags, der in der Regel milder bestraft wird. Aus zwei wesentlichen Gründen, so erklärt Gerichtssprecher Kai Wantzen, gehe die Anklage nicht von einem heimtückischen Mord aus. Da sei die mutmaßlich von gewalttätigen Übergriffen des Mannes geprägte Vorgeschichte des Paares.

Staatsanwaltschaft geht nicht von Heimtücke aus

Marc H. soll seine Ehefrau unter anderem im September 2017 geschlagen, gewürgt und mit einem Elektroschocker gequält haben. Am Tattag selbst sollen die beiden zudem zunächst in Streit geraten sein, bevor Marc H. auf sie einstach. Wegen der vorherigen Übergriffe und wegen der eskalierten Situation am Tattag gehe die Staatsanwaltschaft nicht davon aus, dass das Opfer arglos gewesen sei, so Wantzen. Ein heimtückischer Mord setzte jedoch die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers voraus. In gewisser Weise profitiert der Mann also auch von seinen gewaltsamen Attacken in der Vergangenheit.

Für die Frauen und wenigen Männer, die vor dem Gerichtsgebäude demonstrieren, ist diese (folgenreiche) Konstruktion des Mordmerkmals Heimtücke im Strafgesetz kaum zu ertragen. „Egal, wie es jetzt hier heißt, für mich ist das ganz klar Mord“, sagt eine Frau.

Am 5. Dezember, gegen 7.15 Uhr, kreuzt Marc H. vor dem Wohnhaus von Juliete H. an der Eckernförder Straße auf. Er will ein iPad abholen, das er seinem Sohn geliehen hat. Juliete H. und er leben seit Mitte 2017 getrennt voneinander. Sie haben zwei Jungen, sieben und elf Jahre alt; Juliete H. hat außerdem zwei ältere Kinder aus früheren Beziehungen.

Nach dem Übergriff mit dem Elektroschocker im September 2017 hat die 42-Jährige einen Gewaltschutztitel gegen Marc H. erwirkt. Ihr Noch-Ehemann hat sich vor dem Familiengericht zum vorübergehenden Verzicht auf das Sorgerecht bereit erklärt. Doch um der zwei Söhne willen haben Juliete H. und Marc H. vor der Tat wieder Kontakt. Seine Kinder sieht der 50-Jährige regelmäßig.

Marc H. war eifersüchtig

An jenem Tag wartet Marc H. im Hausflur, bis die vier Kinder die Wohnung verlassen haben. Um 7.45 Uhr steht er vor der Tür im 15. Stock: Und Juliete H. lässt ihn ein. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft geraten beide auf der Suche nach dem Gerät in einen lautstarken Streit, der sich um Juliete H.s neuen Lebensgefährten dreht – eine Liaison, die Marc H. ohnehin missbilligt haben soll.

Im weiteren Verlauf soll er sie geschlagen haben. Vollends außer Kon­trolle gerät die Situation aber, als Juliete H. eine offenbar sexuell gemeinte Anspielung macht: Marc H. sei „kein Mann“. Daraufhin soll der Angeklagte mit einem mitgeführten Messer – Klingenlänge zehn Zentimeter – auf sie eingestochen haben.

Zurück aus der Schule stößt der elfjährige Sohn im Schlafzimmer auf die Leiche seiner Mutter. Marc H. läuft unterdessen ziellos durch die Stadt; die Tatwaffe entsorgt er in einem Müllbehälter. Noch am selben Abend nimmt ihn die Polizei in seiner Wohnung an der Elsässer Straße (Dulsberg) fest. An der mit Stichen übersäten Leiche seiner Frau stellen die Rechtsmediziner 50 Wunden fest, unter anderem Stiche in die Lunge und die Leber, jeder für sich genommen tödlich, dazu eine zweifache Durchtrennung der linken Halsschlagader.

Totschläger drohen bis zu 15 Jahre Haft

Drei der vier Kinder (7, 11, 14, 18) leben jetzt bei ihrem Onkel, dem Bruder der Getöteten. Sie sind durch die Tat schwer traumatisiert. Alle fünf Hinterbliebenen haben sich dem Verfahren als Nebenkläger angeschlossen. Mit einem Urteil ist nicht vor dem 31. Juli zu rechnen. Im Regelfall drohen einem Totschläger bis zu 15 Jahre Haft.

Sollte die Große Strafkammer 21 unter Vorsitz von Richterin Jessica Koerner einen „besonders schweren Fall“ feststellen, wäre aber auch eine lebenslange Haftstrafe möglich. Nach Abendblatt-Informationen geht der psychiatrische Sachverständige in seinem vorläufigen Gutachten nicht davon aus, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten durch ein Affektgeschehen gemindert war.

Zwischen den Demonstrantinnen vor dem Gerichtsgebäude steht Sherryl E. (22), die Cousine der Getöteten. Sie erinnert sich an „Konflikte“ in der Ehe. Darüber gesprochen habe Juliete H. aber kaum. „Ich glaube, sie wollte nicht, dass wir uns Sorgen um sie machen.“ Ermutigend finde sie, dass sich Marc H. äußern wolle. Sie hoffe aber, dass er die Tat dann nicht verharmlost. „Und ich hoffe, dass er die Strafe bekommt, die er verdient.“