Hamburg. Deutsches Turnfest setzte mit seinen 100.000 Gästen nicht nur Maßstäbe in eigener Sache. Ausgangspunkt für Active-City-Konzept.
Auf den Plätzen, in den Straßen und Parks erkannte sie jeder sofort. In bunten Trainingsanzügen, mit Rucksäcken bepackt, meist unter gelb-weißen Schirmen erkundeten sie Hamburg von morgens bis abends. Eine Woche lang schien die Stadt im Ausnahmezustand. 100.000 Menschen waren 1994 vom 15. bis 22. Mai beim 29. Deutschen Turnfest an Alster und Elbe zu Gast, zum Abschluss stieg eine Riesen-Party im Volksparkstadion. 70.000 Zuschauer ließen sich von 4000 Darstellern, vom Kleinkind bis zum Großvater, verzaubern. Mit Ballons, wehenden Bändern formten sie fantasievolle Figuren voller Dynamik. Ein unvergessliches Erlebnis.
„Dieses Turnfest konnte mit seinen vielfältigen Angeboten, die es in dieser Form vorher nicht gab, einem leicht die Sinne verwirren“, schrieb die „Süddeutsche Zeitung“. Wer sich bei den zahlreichen Wettbewerben nicht wie der spätere Olympiasieger Fabian Hambüchen aufs Reck schwang, sich nicht bei gymnastischen Übungen wie Magdalena Brzeska Kopf und Körper verbog, sich nicht mit dem gefiederten Indiacaball versuchte, wer also weder spielte, tanzte noch turnte, der stürzte sich in den Hallen am Fernsehturm in eine Verbrauchermesse („Turnmarkt“) mit mehr als 100 Ausstellern. Rund 600 eigenständige Veranstaltungen weiteten die Sportschau zu einem gesellschaftlichen Ereignis aus, in dem auch über Umweltschutz, Abfallbeseitigung, Ernährung oder Mobilität angeregt diskutiert wurde.
Neue Zielgruppen erschließen
Das alles war neu bei einem Turnfest und hatte viel mit den Ideen zu tun, die der Hamburger Sportsoziologe Hans-Jürgen Schulke, Generalsekretär des Organisationskomitees, in dieses Spektakel einbrachte. Der Hochschullehrer, später Direktor des Hamburger Sportamts (2000–2005), wollte mit dem Motto „Wo Sport uns Spaß macht“ neue Zielgruppen erschließen und mit einer Massenveranstaltung wie dieser auch das Interesse von Sponsoren wecken.
Das gelang. 31 Firmen investierten in Hamburg knapp fünf Millionen Mark in eine Breitensportveranstaltung, so viel wie nie zuvor, was heute einem Wert von mindestens fünf Millionen Euro entspräche. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 45 Millionen Mark (23 Millionen Euro). Die Stadt zahlte die Hälfte und definierte das Investment rückblickend als „äußerst lohnend“. Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) sagte: „Einen ausdrucksvolleren Beweis für die verbindende Kraft des Sports kann es kaum geben.“ Das Abendblatt sah in dem Turnfest, als ganz Hamburg in Bewegung kam, einen „Meilenstein der Sportgeschichte“. Und hatte damit recht.
„Hamburger Modell“ wurde zu Exportschlager
Zwei Hamburger Olympiabewerbungen für 2012 und 2024/2028 mit „Spielen im Herzen der Stadt“, jährliche Großveranstaltungen wie die Radrennen der Cyclassics (seit 1996), der Triathlon (seit 2002), der Ironman (seit 2017) und das heutige Bewegungs- und Gesundheitskonzept Active City (seit 2016) haben ihren sinnhaften Ursprung im Turnfest des Jahres 1994. Schulkes Programm mit der „Stadt als Sportplatz“, Sportveranstaltungen zum Mitmachen für jedermann, wurde als „Hamburger Modell“ zum Exportschlager. Beim Eröffnungsgottesdienst in St. Michaelis lobte Bundespräsident Richard von Weizsäcker „die sportlichen Initiativen Hamburgs“. Jürgen Dieckert, der Präsident des Deutschen Turnerbunds (DTB), brach Ende der Woche in Jubel aus: „Der Dinosaurier Turnfest, er lebt!“
Und Hamburg traute sich fortan, die Stadt auf die Weltkarte des Sports zu setzen, nach der Fecht-WM 1978 wieder Welt- und Europameisterschaften auszurichten, in diesem Sommer die Beachvolleyball-WM im Tennisstadion am Rothenbaum. Weitere Highlights sind geplant, die Bewerbung für die Weltgymnaestrada im Jahr 2027, eine Art globales Turnfest, wird gerade vorbereitet. Die Chancen auf einen Zuschlag stehen gut.
11.000 ehrenamtliche Helfer
Das alles passiert vor dem Hintergrund, dass große Sportveranstaltungen nicht nur Menschen begeistern, sie animieren, selbst aktiv zu werden, sie zeitigen damals wie heute auch ökonomische Effekte. 1994 bezifferte die Stadt die Umsatzsteigerungen von Hotels, Gastronomie, dem Einzelhandel und den Verkehrsbetrieben auf 100 Millionen Mark. Pro Tag registrierte der Hamburger Verkehrsverbund (HVV) rund 600.000 „zusätzliche Beförderungsfälle“. Bier und Bratwürste waren an vielen Ständen schon um 22 Uhr ausverkauft.
Die 100.000 Teilnehmer des Turnfestes kamen aus 5400 Vereinen, reisten mit 28 Sonderzügen, 1000 Campingwagen und 600 Reisebussen an. Jeden Morgen verspeisten sie 200.000 Brötchen. rund 400.000 Eintrittskarten wurden verkauft, 11.000 ehrenamtliche Helfer, Betreuer, Kampfrichter kümmerten sich um die Athleten. 40 hauptamtliche Mitarbeiter organisierten in den drei Jahren davor das Festival. Die Rettungsdienste verzeichneten 1252 Einsätze, 252 Sportler mussten in die Hamburger Krankenhäuser gefahren werden.
Dass der Sport im Zentrum der Städte Faszination ausübt, macht ihn zum werthaltigen Produkt. Und das für alle, mittelfristig auch für jene, die seine Anwesenheit vor der Haustür heute in Bürgerinitiativen, bei Facebook, Twitter oder anderen sozialen Netzwerken beklagen – oder die einst ihrem Ärger im Abendblatt Luft machten. „Schon morgens dieses Wirrwarr aus unterschiedlichen Dialekten – das ist mir einfach zu viel“, schrieb eine Leserin am 18. Mai 1994 an die Redaktion.
Langer Weg zur Sportmetropole
Bilder von Athleten mit dem Rathaus oder der Alster im Hintergrund wecken jedoch die Neugier der Menschen, schaffen einen positiven Imagetransfer für die gesamte Stadt, je nach Reichweite der Medien sogar weltweit. Davon profitieren dank der Marketingmacht dieser Events in einer langen Wertschöpfungskette letztlich alle: Sportler, Künstler, Geschäftsleute, Unternehmen, Ein- und Anwohner.
Ohne Schulke und den damaligen Sportamtsleiter Heiner Widderich hätte sich Hamburg 1994 wohl nicht auf den langen Weg zu einer europäischen Sportmetropole aufrappeln können. Es bedurfte aber weiterer Visionäre wie der späteren Sportamtsdirektoren Thomas Beyer und Lydia Kleist, des sportpolitischen Strippenziehers Christian Hinzpeter und vor allem der SPD-Sportsenatoren Michael Neumann (2011–2016) und Andy Grote (seit 2016), um das vor 25 Jahren entfachte Feuer richtig entflammen zu lassen. Heute darf sich Hamburg als eine von nur sechs Städten auf der Welt Global Active City nennen.